Profilbild von MarieOn

MarieOn

Lesejury Star
offline

MarieOn ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit MarieOn über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.11.2024

Herrlich unterhaltsam

Intimleben
0

Maria Christina Palma ist Mitte vierzig, Mutter einer Zehnjährigen und die Frau des italienischen Ministerpräsidenten Domenico Mascagni. Letzteres hat sie selbst entschieden. Ihre Tochter Irene ist umgeben ...

Maria Christina Palma ist Mitte vierzig, Mutter einer Zehnjährigen und die Frau des italienischen Ministerpräsidenten Domenico Mascagni. Letzteres hat sie selbst entschieden. Ihre Tochter Irene ist umgeben von Hauspersonal und trifft längst ihre eigenen Entscheidungen.

Nicht alle Italiener feiern die Gattin des Ministerpräsidenten. Im Allgemeinen glaubt man, sie seien gar kein Paar, die Tochter müsse aus der Retorte kommen und auch wenn sie zur schönsten Frau der Welt gekürt wurde, sei sie doch nur ein hohles Gefäß.

Maria Christina hat bisher, auch wenn es so wirkt, nicht immer Glück gehabt. Sie war zwölf, als ihre Mutter starb, was der Vater als Grund verstand, sich aus dem Staub zu machen. Sie lebte mit ihrem geliebten Bruder bei ihren Großeltern, doch als sie zwanzig war verlor sie ihn bei einem Tauchgang ans Meer. Ihr erster Mann war ein erfolgreicher Schriftsteller. Als der Erfolg nachließ wurde er dick und träge. Ihn verlor sie bei einem Autounfall. Sie konnte sich aus dem brennenden Fahrzeug retten, er nicht.

Durch einen Zufall trifft sie mitten in Rom ihre frühe Liebe Nicola Sarti wieder. Sie hatten sich mehr als zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Gut sieht er aus, grau meliert, Dreitagebart, verwaschene Designerklamotten, Rolex am Arm. Er begutachte gerade sein neuestes Hotelprojekt und überredet sie, sich ihm anzuschließen.

Nach ihrem Treffen schickt Sarti ihr Fotos, die er damals von ihr und ihrem Bruder aufgenommen hat, von dem Kutter, mit dem sie unterwegs waren. Dann sendet er ihr ein Video, das sie in einer höchst kompromittierenden Situation zeigt. Nachdem sie das Filmchen eine Weile auf sich wirken lässt, brennen ihr alle Sicherungen durch.

Fazit: Niccoló Ammaniti hat mich geflasht. Ich liebe diese Geschichte, die so schreiend komisch ist, dass sie fast schon eine Parodie auf die europäische Gesellschaft sein könnte. Seine Protagonistin ist eine schillernde Persönlichkeit, die weiß, wie man sich zur Schau stellt. Als Politikerehefrau muss sie diverse Erwartungen erfüllen, die sie in Kauf nimmt, um die Annehmlichkeiten eines reichen Lebens auskosten zu können. Mit ein wenig Wehmut stellt sie fest, dass sie nicht bei jedem gut ankommt. Sie merkt, dass ihre Schönheit vergänglich und die Leidenschaft abhandengekommen ist. Mit großer Treffsicherheit zeigt der Autor den gesellschaftlichen Sozialneid ebenso, wie die latente Frauenfeindlichkeit, die Maria Christina von allen Seiten entgegenschlägt. Die temporeiche Geschichte ist voller Wendungen und herrlicher Alltagskomik. Das war unglaublich fesselnd und unterhaltsam.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.11.2024

Lustvolle Geschichte über weibliches Begehren

Auf allen vieren
0

Sie wohnt mit ihrem Mann Harris und Sam, ihrem siebenjährigen non-binären Kind in einem Haus am Stadtrand von Los Angeles. Sie kommt nach Hause und findet einen Zettel ihres Nachbarn Brian. Ein Mann habe ...

Sie wohnt mit ihrem Mann Harris und Sam, ihrem siebenjährigen non-binären Kind in einem Haus am Stadtrand von Los Angeles. Sie kommt nach Hause und findet einen Zettel ihres Nachbarn Brian. Ein Mann habe mithilfe eines Teleobjektives ihr Haus fotografiert. Brian arbeitet beim FBI, das weiß sie, weil er seine schusssichere Weste immer trägt. Sie erzählt Harris davon, der wie so oft nur halb zuhört und kaum verständliche Töne in seinen Bart brummt. Sie schleichen umeinander herum und führen den bekannten Eiertanz aus. Sie ist Schriftstellerin und um einiges weniger erfolgreich als Harris der Musikproduzent ist.

Sie will immer wissen, wie es sich anfühlt, jemand anders zu sein, deshalb horcht sie ihre Freundinnen aus, die sie dann per E-Mails oder Screenshot an ihren Beziehungen teilhaben lassen. Seit Jahren schicken sie sich immer mal wieder Nackt Selfies, um sich gegenseitig ihr noch vorhandenes Sex-Appeal zu bestätigen. Bei Harris bemüht sie sich, im sieben Tage Rhythmus seinen Bedarf an Körperlichkeit zu befriedigen und seine Stimmung zu heben.

Eine Whiskyfirma hat einen ihrer Sätze für einen Werbespot benutzt und sie reichlich entlohnt. Für dieses Whiskygeld will sie sich etwas Gutes tun und nach New York fliegen, sie ist jetzt fünfundvierzig. Harris findet, dass sie die Strecke mit dem Auto bewältigen sollte, denn so eine Reise verspreche die Aussicht auf gute Unterhaltung. Sie will sich nicht anmerken lassen, dass sie sich eine Fahrt quer durch Amerika alleine nicht zutraut und lässt sich zähneknirschend darauf ein. Sie steigt guter Dinge in den Wagen und strandet nur dreißig Minuten von Zuhause entfernt in einem Motelzimmer, das ihr ihre ganze Kreativität abverlangen und ihre weibliche Lust entfachen wird.

Fazit: Miranda July hat eine ganz außerordentliche Geschichte geschaffen. Ihre namenlose Ich-Erzählerin ist eine quirlige Mittvierzigerin in der Perimenopause. Die Angst, alt und nicht mehr begehrenswert zu sein, treibt wilde Blüten. Um ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen verstrickt sie sich in Lügen. Sie entwickelt eine Liaison zu einem ortsansässigen jungen Mann, der sie bewundert und wertschätzt. Bei ihm findet sie eine Nähe und Intimität, die neu für sie ist, daraus entwickelt sie eine Obsession aus sexuellen Fantasien, die ihre schier unersättliche Lust schüren, die vor keinem Geschlecht halt macht. Die Erzählung ist abgefahren und wider Erwarten kein bisschen schmuddelig, sondern durch und durch lustvoll. Während des Lesens war ich mitten drin in dem Motelzimmer, lag auf der roten Seidentagesdecke oder saß auf einem der Louis quatorze Sessel und sah ihr dabei zu, wie sie zu sich selbst findet. Großartige Unterhaltung und eine emotionale Offenbarung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.11.2024

Eine außergewöhnlich gute Geschichte

Der Sohn des Friseurs
0

Simon hat sich in seinem überschaubaren Alltag eingenistet. Er frisiert ein bis drei Kunden pro Tag, am liebsten Männer, stutzt Bärte und massiert Kopfhäute, wie schon sein Vater und dessen Vater zuvor. ...

Simon hat sich in seinem überschaubaren Alltag eingenistet. Er frisiert ein bis drei Kunden pro Tag, am liebsten Männer, stutzt Bärte und massiert Kopfhäute, wie schon sein Vater und dessen Vater zuvor. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Er war quasi noch unterwegs, als sein Vater verschwand. Niemand weiß warum er bei einem schweren Unglück, einer Bodenkollision zweier großer Passagiermaschinen 1977 ums Leben kam. Seltsamerweise wusste nicht einmal jemand, was er auf Teneriffa treiben wollte. Und dann verschwand zeitgleich ein Praktikant seines Großvaters und erschien auf der Liste der Opfer. Bisher hat Simon sich nicht dafür interessiert, er akzeptierte, was geschehen war und vermisste nichts. Doch dann kommt einer seiner Kunden, der Schriftsteller, in den Salon und stellt Fragen. Er gibt vor über einen Friseur schreiben zu wollen und sieht Simon über die Schulter.

Die Arbeitskollegin seiner Mutter Henny ist verreist und es sieht fast so aus, als wollte sie nicht zurückkommen. Simon hatte auf die mütterlichen Fragen, ob er kurzfristig einspringen könne zuerst so wage geantwortet wie es eben ging, aber seine Mutter hat nachhaltig gebohrt und ihm eine klare Zusage abverlangt. Nun sitzt Simon samstagmorgens am Beckenrand und betreut mit seiner Mutter zwei Mongoloide, das darf man nicht mehr sagen, sagt die Mutter. Ein stoisch schwimmendes Mädchen, ein Mädchen, das diese komischen Laute macht und diesen großgewachsenen, schönen Jungen. Der Junge klammert sich im Wasser an Simon und umschlingt sein Becken mit den Beinen, was bei Simon sofort eine unangenehme Erektion auslöst. Simons Mutter macht aus seinem Schwulsein keine große Sache, aber der Junge, fast schon ein Erwachsener schleicht sich in Simons Tagträume.

Fazit: Gerbrand Bakker hat seine außergewöhnlich gute Geschichte in drei Teile aufgeteilt. Zuerst lerne ich seinen etwas verschrobenen Protagonisten in seiner Gegenwart kennen und mögen. In Teil zwei begegnet mir Simons Vater, ich verstehe, was ihn zu dem Teneriffaflug veranlasste und ich erfahre, wie sich die Tragödie zugetragen hat. Das war Recherchearbeit. Im dritten und letzten Teil blicke ich unter anderem darauf, wie sich Simons Leben weiterentwickelt. Der Protagonist hat es sich in seinem Leben bequem gemacht. Aus Liebe zur Gewohnheit verzichtet er auf Unberechenbares. Die Einsamkeit, die er manchmal spürt, streift er mit kurzen Affären ab. Doch dann rüttelt das Schicksal ihn wach, erweckt sein Interesse und macht Veränderung möglich. Aus dem „indolenten“ Mann, wird jemand der emotional aufbricht und beweglich wird. Interessante Geschichte mit spannenden Wendungen, die mir Freude bereitet hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.11.2024

Starke und berührende Geschichte

Sprich mit mir
0

Sie hat sich arrangiert, lebt in ihrer Wohnung am Tiber. Morgens ein kleiner Spaziergang, gegen Mittag dann ein Konzert einer ihrer geliebten Klassiker auf dem Sofa. Gegen Abend eine karge Mahlzeit und ...

Sie hat sich arrangiert, lebt in ihrer Wohnung am Tiber. Morgens ein kleiner Spaziergang, gegen Mittag dann ein Konzert einer ihrer geliebten Klassiker auf dem Sofa. Gegen Abend eine karge Mahlzeit und dann Sartre, Tolstoi oder Hemingway zu einem gekühlten Weißwein. Seit sie ihre Strafe abgesessen hat, hat sie sich in sich selbst eingeschlossen. Doch an einem außerordentlichen Vorfrühlingstag stört sie ein Transporter vor dem Haus, als sie vom Einkauf kommt. Er steht auf dem Trottoir, auf der Ladefläche ein junger Mann mit langen schwarzen Locken. Er wirft einen Karton in den Hausflur vor ihre Füße. Sie tritt zurück und beobachtet eine Frau barfuß, in kurzem Leinenkleid, kleine feste Brüste. Sie rennt zu dem Lockenkopf, schwingt die Arme um seinen Hals, die Beine um die Hüften und ruft lachend Michele. Er umarmt sie und sagt Maria. Die Szene ist so intim, dass sie die Treppe nach oben schleicht, in den dritten Stock.

Ihre Stille ist dahin. Die Ruhe seit ihrer geräuschvollen Jugend. Seit „Sie“ in ihren Zufluchtsort eingedrungen sind, wie eine stürmische Böe.

Später bemerkt sie, dass das Schlafzimmer der beiden an ihres grenzt. Sie befürchtet den beiden beim Sex zuhören zu müssen. Der letzte Mann, der sie selbst berührte, war Furio und das ist viele Jahre her. Doch die beiden lachen und reden dann flüsternd. Sie scheinen sich wirklich gut zu verstehen. Zur Sicherheit drückt sie eine Tablette aus dem Blister auf ihrem Nachttisch und spült sie herunter.

Am nächsten Tag reißt energisches Klopfen sie aus ihrer Musik. Sie öffnet widerwillig und da stehen ihre neuen Nachbarn. Die Frau redet viel, er beobachtet. Sie weiß, dass sie die beiden hereinbitten muss, alles andere wäre unhöflich.

Fazit: Lidia Ravera ist eine außergewöhnliche Schriftstellerin. Sie hat jedes Wort an die richtige Stelle gerückt (sicher hat auch die Übersetzerin hier großes geleistet) Die Autorin erzählt die Geschichte aus Sicht ihrer Protagonistin, die in den 70-er-Jahren als Oppositionelle gekämpft hat und dafür bestraft wurde. Sie fürchtet die Verurteilung durch Mitmenschen so sehr, dass sie ein Eremitendasein wählt. Durch die Familie, die gleich neben ihr eingezogen ist, allen voran, die kleine Tochter, bekommt das Weltliche einen neuen Stellenwert. Die Autorin hat gut durchdachte Charaktere geschaffen, die auf ganzer Linie überzeugen. An den richtigen Stellen blitzen kleine Lichter der vergangenen Tragödie auf. Die Protagonistin erkennt klug die Bedürfnisse und Intentionen ihrer Mitmenschen, aber auch ihre eigenen. Eine starke, durch und durch berührende Erzählung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.11.2024

Eine beeindruckende Erzählung

Seemann vom Siebener
0

Kiontke ist der Bademeister des örtlichen Freibads. Im Ochsen haben sich die Leute eine Weile das Maul über ihn zerrissen, weil der nach dem Desaster keine Anstalten gemacht hat zusammenzubrechen.

Renate ...

Kiontke ist der Bademeister des örtlichen Freibads. Im Ochsen haben sich die Leute eine Weile das Maul über ihn zerrissen, weil der nach dem Desaster keine Anstalten gemacht hat zusammenzubrechen.

Renate öffnet pünktlich das Kassenhäuschen. Heute, am letzten Ferientag, soll der heißeste Tag des Jahres werden und sie wappnet sich für den Ansturm. Kaffeemaschine röchelt, Radio auf gute Unterhaltung gestellt, Kippen parat, Wechselgeld auf Anschlag. Während sie darauf wartet, dass der Kiontke die Türen öffnet, träumt sie von dem roten Cabrio, das sie in den Süden bringen wird, aber dann steht auch schon die Trautheimer vor ihr.

Isobel Trautheimer ist vor vielen Jahren zugezogen. Ihr Mann hat das Freibad gebaut und sie die Schüler unterrichtet. Jetzt lebt sie allein, zuerst ging Rüdiger und dann ihre beste Freundin Gerda. Gerda war die Mutter vom Kiontke und hat mit Männern telefoniert um ihre Rente aufzubessern, irgend son Schweinkram, aber das darf der Kiontke nicht wissen. Isobel träumt sich immer öfter in die Vergangenheit und sieht den Bildern nach, die aufsteigen und weiterziehen, dabei verläuft sie sich auch mal.

Lennart ist gerade aus Amerika zurückgekommen, wegen Max Beisetzung, aber da ist noch etwas anderes, dem er erst nachspüren muss. Josefine hatte ihm die Nachricht geschickt, sonst hätte er es gar nicht gewusst. Joe, Max und er waren früher unzertrennlich, aber dann hat Joe Max geheiratet und Lenny hat die Ferne vorgezogen.

Fazit: Arno Frank erzählt einen Tag in einem Pfälzer Schwimmbad auf eindrückliche Weise. Er hat ganz normale Menschen geschaffen, wie sie gleich neben mir und ein paar Straßen weiter wohnen. Jedes Leben ist feinfühlig und humorvoll erzählt. Der Autor schenkt seinen Figuren abwechselnd den Raum, den es braucht die Gegenwart zu zeigen und sie in die Vergangenheit blicken zu lassen. Sie alle sind durch die Gemeinschaft verbunden und kennen sich mehr oder weniger. Ich habe mich selten mit allen Sinnen so gut unterhalten gefühlt. Der Geschmack des erfrischenden Flutschfingers, die knusprigen, salzigen Pommes, die Geräuschkulisse aus Füßen auf nassem Beton, Schreie, Lachen, Platschen, Sonne auf der Haut. Ich war mittendrin in der Geschichte und das hat mir riesig gefallen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere