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Veröffentlicht am 24.12.2017

Der Griff ins metaphorische Klo

Zeitkurier
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Ein paar Worte vorweg: Ich habe diese Rezension lange vor mir her geschoben, da mein Frust sich noch nicht wirklich gelegt hatte und ich nicht anfangen wollte, während ich noch sauer war. Ich vermute allerdings ...

Ein paar Worte vorweg: Ich habe diese Rezension lange vor mir her geschoben, da mein Frust sich noch nicht wirklich gelegt hatte und ich nicht anfangen wollte, während ich noch sauer war. Ich vermute allerdings stark, dass während des Schreibens alles wieder zurück kommt, was ich erfolgreich verdrängt hatte … Ihr dürft euch also auf einen Rant einstellen. Aber ich mag die deutsche Version für „Rant“ lieber, daher stellt euch auf eine Tirade ein, und zwar eine LANGE Schimpftirade.
Wer diesen Blog schon eine Weile verfolgt, wird festgestellt haben, dass nur wenige Science Fiction-Werke ihren Weg zu mir finden. Zeitkurier ist eines der Bücher, deren Klappentexte mich neugierig machen und deren Cover mich begeistern konnten, weshalb ich wirklich gespannt war und mich sehr darauf gefreut habe. Leider sind Cover und Klappentext auch schon fast alles, was ich diesem Buch abgewinnen konnte.

Das Konzept der Zeitreisen begegnet uns in der Literatur nicht zum ersten Mal. Tatsächlich finde ich es unglaublich spannend, wie verschieden die Ansätze hierzu sind, wie unterschiedlich die Autoren denken und sich diese Technik vorstellen. Man kann Wesley Chus futuristische Science Fiction zum Beispiel überhaupt nicht mit Diana Gabaldons Outlander-Saga vergleichen. Es liegen Welten dazwischen! (Pun intended.) Deshalb neige ich dazu, bei Zeitreisen zuzuschlagen, wenn sie mir in Büchern begegnen. Einfach, um neue Versionen kennen zu lernen und meinen Horizont zu erweitern. Mir ist nur selten ein und dieselbe Idee bei zwei verschiedenen Autoren begegnet.
Auch der Zeitkurier hat wieder eine (für mich) neue Art des Zeitreisens gefunden. Genau genommen basiert die gesamte Gesellschaft dieser Welt auf dem Zeitreisen, aber nur wenige Privilegierte sind in der Lage dazu. Dieses Konzept ist durchaus interessant, das muss ich Wesley Chu lassen. Der Haken an der Sache ist aber der, dass im Grunde alles, was mit der Zeitreisetechnik – und eigentlich mit JEDER Technik – zu tun hat, extrem verwirrend ist und nie wirklich erklärt wird. Und, dass eben alles auf dieser Technik aufbaut. Was dazu führt, dass die Wissenschaft, die Technik, die Gesellschaft, jede Entscheidung, die von wichtigen Charakteren im Zusammenhang mit den Zeitreisen – die ja im Fokus der Geschichte liegen – getroffen wird und auch jedes größere Problem (wie die Verschmutzung der Ozeane und der Rohstoffmangel) extrem verwirrend ist. Die Zusammenhänge sind oft unklar und wie verschiedene Dinge funktionieren ist ein großes Rätsel – denn der Protagonist weiß es teilweise selbst nicht (und es interessiert ihn auch nicht – aber dazu später mehr) und kann dementsprechend nicht viel erklären. Ich als Leserin möchte aber schon ganz gern wissen, wie Situation A mit Technik B zusammenhängt und warum Person X die Entscheidung Y zum Zeitpunkt Z trifft und nicht zum Zeitpunkt L – oder gar die Entscheidung M. Manche Szenen habe ich mit dem Gedanken „ich muss etwas übersehen haben, dass kann doch so nicht hier stehen“ doppelt und dreifach gelesen – geholfen hat es nicht, denn es wurde schlicht nicht genauer erklärt, was da gerade passierte.

Ich habe mich dann damit abgefunden, vieles nicht zu verstehen. Vielleicht war das ja auch die Absicht des Autors: so viel futuristische Technik einbauen, dass der Leser genau so wenig davon versteht, wie die Menschen im Buch, die sie verwenden. Nach dem Motto „so kann man sich viel besser in die Geschichte hineinversetzen!“ Tja. Das hat mein Leseerlebnis aber auch nicht besser gemacht. Zusätzlich zu all der Verwirrung kommt der schleppende Schreibstil. Hier kann ich allerdings nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es am Autor liegt, denn es kann genau so gut eine schlechte Übersetzung sein. Trotzdem war die gesamte Story sehr, sehr, seeeeeeeeehr langatmig. Um es konkret zu sagen: Die gesamte erste Hälfte und noch einige Kapitel darüber hinaus hatte die Geschichte kein klares Ziel. Die Rettung von Elise, der Frau, die im Klappentext erwähnt wird, findet auch erst auf Seite 138 statt! Bis dahin passiert einfach gar nichts, das irgendwie wichtig für die Entwicklungen danach wäre und, wie ich ja schon sagte, die Technik wird vorher auch nicht erklärt. Für mich haben diese ersten knapp 140 Seiten also absolut keinen Sinn. Warum macht man das? Ich war zu dem Zeitpunkt schon so gelangweilt, dass ich mich überwinden musste, das Buch wieder in die Hand zu nehmen. Da habe ich schon seit etwa einem Monat mit dem Zeitkurier gekämpft. Ein Monat für 140 Seiten!

Aber das ist noch nicht alles, was mich störte. Denn auch nach diesem kleinen Wendepunkt, der im Klappentext gespoilert wird (ups, kann ja mal passieren, das fällt den Lesern bestimmt nicht auf), der aber in der Geschichte selbst groß aufgebauscht wird und scheinbar so richtig überraschend kommen sollte, passiert nicht viel. Kurz ist es tatsächlich mal spannend, aber dann folgen wieder kapitelweise Lückenfüller, bis wieder eine kurze spannende Szene kommt, nur um wieder mit zig Seiten voller Nichts fortgesetzt zu werden. Es war echt zum Haare raufen. (Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Redewendung wirklich mal verwenden würde, aber sie passt hier wie nichts anderes. Und ich habe mir teilweise wirklich vor die Stirn geschlagen – das ist doch nah genug an den Haaren dran, oder?)

Was der Zeitkurier neben den ab und an recht spannenden Szenen und dem interessanten Zeitreisekonzept sehr gut hinbekommen hat, ist das dystopische Setting. Die beschriebene Gegenwart ist geprägt von Kolonisation auf anderen Planeten, weil die Erde selbst keinen Lebensraum mehr bietet: Wasser, Luft, Erde – einfach alles ist verschmutzt und von Krankheiten befallen. Es gibt noch Siedlungen, zum Beispiel in Chicago, doch das Leben dort ist alles andere als schön. Grundsätzlich ist alles dreckig grau, braun und irgendwie farblos, die allgegenwärtige Technik funktioniert nur mit bestimmten Rohstoffen – die aber nur in der Vergangenheit produziert werden können, weshalb die Zeitkuriere eine so große Rolle spielen, da sie durch Reisen in die Vergangenheit eben diese Rohstoffe besorgen. Die omnipräsente Stimmung in der Gegenwart ist Hoffnungslosigkeit, und die bringt Wesley Chu sehr gut rüber.
Übrigens, die im Klappentext erwähnten Antworten, die die Zeitkuriere in der Vergangenheit suchen, kommen in der Geschichte nicht wirklich vor. Stattdessen sind die Zeitkuriere so etwas wie Grabräuber: Mal von der staatlichen Zeitreisefirma (deren Namen ich direkt wieder vergessen habe), mal von privaten Firmen (die die Zeireisefirma gut im Griff haben) finanziert werden sie in die Vergangenheit geschickt, um bestimmte Rohstoffe, Maschinen und andere Dinge zu holen. Zum Beispiel auch das Bernsteinzimmer (das war eins der Kapitel, die mir gefielen – es erklärt das Verschwinden dieses Kunstwerks auf eine ganz neue Weise).

Kommen wir zu den Charakteren. Hier zeigt sich ein Schema, das mir leider viel zu oft begegnet: Die Protagonisten finde ich ganz furchtbar, während relativ unwichtige Nebenfiguren wesentlich sympathischer sind und einfach mehr Sinn ergeben, sodass ich mich ärgere, dass diese so wenig „Screentime“ bekommen. Da gibt es einmal Smitt. Er organisiert die Zeitreisen des Protagonisten James und ist durch eine Art Intercom seine Verbindung zur Gegenwart. Er ist extrem wichtig für das Gelingen eines Zeitsprungs, da er das Timing etc. kontrolliert. Smitt ist schlagfertig, meistens gut drauf und steht seinem Kumpel James immer zur Seite. Auf seine Auftritte habe ich mich immer gefreut. Grace ist mir auch positiv in Erinnerung geblieben. Sie hat in der Vergangenheit die Regeln der Zeitsprünge aufgezeichnet und ist dadurch in die Geschichte eingegangen. Sie ist extrem intelligent, lässt das aber auch ständig heraushängen und hält sich für etwas besseres als alle anderen (zugegeben, das ist sie auch) und macht sich dadurch nicht unbedingt beliebt. Trotzdem mag ich sie noch mehr als die beiden Protagonisten. Denn Elise ist zwar sehr sympathisch mit ihrem Vorhaben, die Welt doch noch zu retten, obwohl ihr Versuch in der Vergangenheit gescheitert ist und es für sie allein eigentlich unmöglich ist, die über das Wasser der gesamten Erde verbreitete Seuche zu heilen, und der Tatsache, dass sie James eins auf den Deckel gibt, wenn er sich unmöglich verhält – aber davon abgesehen hat sie keinerlei Ecken und Kanten. Sie ist ohne ihre Vergangenheit als Wissenschaftlerin eine vollkommen farblose Figur. Keine Macken, keine komischen Angewohnheiten, keine großen Probleme, sich der vollkommen neuen Welt, in die sie plötzlich katapultiert wurde, anzupassen.
Und James ist eine Kategorie für sich. So ein merkwürdiger Protagonist ist mir lange nicht mehr untergekommen. Er geht mir total auf den Geist. Sein Charakter ist irgendwie unfertig, er strebt höhere Ziele an, ist gleichzeitig aber nur am Herumnölen und hängt durch, er zweifelt an der Chefetage, folgt aber bereitwillig (und ohne Hintergedanken) den Aufträgen der Zeitreisefirma, er ist extrem selbstsüchtig und egoistisch, mag seine Mitmenschen aber doch auch irgendwie, er ist herrisch und gleichzeitig auch irgendwie weich, besonders im Umgang mit Elise. Mir scheint, als ob Wesley Chu den Charakter nie fertig entworfen hat und jede Szene so schrieb, wie es gerade in den Plan passte (der mir auch nachträglich noch nicht wirklich klar ist). James Äußeres wird blass und unscheinbar, schon fast unansehnlich beschrieben – er hat eben selten die Sonne gesehen (nur auf der Erde, und die ist ja vollkommen vom Smog bedeckt, also kommt nicht viel Licht dort an) und hielt sich mehr in Raumschiffen als irgendwo sonst auf. Ich finde, sein Äußeres passt sehr gut zu seinem Charakter: farblos, ohne besondere Merkmale und sehr komisch anzusehen, wenn man normale Menschen gewohnt ist.

Ihr merkt schon, begeistert hat mich der Zeitkurier nicht. All diese Dinge sind aber noch halbwegs erträglich. (Nein, eigentlich nicht. Ich würde dem Buch aber wegen der paar guten Szenen, der grundsätzlich interessanten Idee und dem wirklich hübschen Cover noch einen Stern geben.) Was das Fass zum Überlaufen bringt, ist das Ende.
In diesem Buch gibt es nicht nur verschiedene Erzählperspektiven (deren Zweck ich auch jetzt noch nicht begreife – denn eine Perspektive ist nicht von Elise, sondern des Chefs der Zeitreisefirma – what?!), sondern auch viele lose Fäden der Handlung. An den unterschiedlichsten Stellen werden neue Gedankengänge begonnen, die nie beendet werden; Handlungsstränge, die irgendwo beginnen, aber nie zu irgendeinem Ziel führen. Ich würde es gern konkreter sagen, aber das wäre ein extremer Spoiler. Und obwohl ich wirklich niemandem empfehlen möchte, dieses Buch zu lesen, mag ich euch den Frust am Ende dann doch nicht vorwegnehmen. Die Geschichte wird scheinbar als Trilogie fortgesetzt (was ich beim Lesen nicht wusste, da das auf der Verlagshomepage nirgendwo steht und auch im Buch nicht deutlich wird, weshalb ich noch mal extra frustriert war), ich kann also schon irgendwie verstehen, dass nicht alle Fragen beantwortet werden und kaum ein Handlungsstrang seinen Endpunkt findet. Aber trotzdem stellt mich das Ende nicht zufrieden, denn auch einen richtigen Cliffhanger oder ein offenes Ende gibt es nicht. Stattdessen ist das Ende genauso unfertig wie James Charakter und die gesamte Geschichte. Unfertig und nicht zufriedenstellend.

So ein schlechtes Buch wie den Zeitkurier habe ich seit Ewigkeiten nicht gelesen – ehrlich gesagt kann ich mich an kein einziges Buch erinnern, das mir so sehr NICHT gefallen hat.

Fazit
Es kann natürlich sein, dass ich schlicht zu doof für dieses Buch und seine möglicherweise hochtrabenden Ziele und philosophischen Ansichten über eine mögliche dystopische Zukunft bin. Für wahrscheinlicher halte ich es allerdings, dass Zeitkurier einfach nicht besonders gut geschrieben und die Idee dahinter auch nicht wirklich ausgegoren ist. Aus meiner Perspektive ist dieses Buch auf jeden Fall ein Griff ins metaphorische Klo.