„Wir können von Glück sagen.“
IrinaDieser Satz „Wir können von Glück sagen.“ rahmt für mich dieses wunderbare Buch ein, umfasst die unfassbaren Schicksalsschläge und Tragödien wie ein leichter, schöner Seidenschal. Es sind oft wiederholte ...
Dieser Satz „Wir können von Glück sagen.“ rahmt für mich dieses wunderbare Buch ein, umfasst die unfassbaren Schicksalsschläge und Tragödien wie ein leichter, schöner Seidenschal. Es sind oft wiederholte Worte von Sasha Colbys Großmutter Irina, die jedes Unglück vergessen machen möchten. Aber der Mensch vergisst nicht.
Sasha Colby ist die Enkelin von Irina, einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin, die während des Zweiten Weltkriegs in Wetzlar für die sehr reiche und bekannte Familie Leitz arbeitete. Zuerst in der Verpackungsabteilung für Leica-Kameras, die berühmteste Kleinbildkamera jener Jahre und noch heute teuer und begehrt. Irina spricht Deutsch und hat das unfassbare Glück, im Herrenhaus der Familie eine Anstellung und auch Unterkunft zu bekommen. Unter der Anleitung von Elsie Kühn-Leitz sind hier mehrere Hausangestellte beschäftigt, es herrscht eine angenehme Atmosphäre, die Zwangsarbeiter werden so menschlich behandelt, dass das bereits auffällig ist für die Gestapo und ihre Spitzel. Irina aber kann ihr Glück kaum fassen und auch nur der Gedanke, zurück ins Lager zu müssen, macht ihr Angst.
Sasha Colby hat sich an dieser Lebensgeschichte, die noch weitaus umfangreicher und tragischer wird, als es die ersten Kapitel vermuten lassen, so festgebissen, dass sie nicht mehr davon lassen kann. Recherchen und vorsichtige Befragungen der Großmutter bringen sie auch auf die Spuren der Familie Leitz, insbesondere von Elsie. Diese ist nicht nur eine kluge und weltgewandte Hausdame und studierte Juristin, sie engagiert sich aktiv im Widerstand gegen die Nazis, vor allem durch die unermüdliche Hilfe, die sie den Zwangsarbeitern zukommen lässt. Ihre Verhaftung und Untersuchungshaft hat die Autorin nicht nur bis ins Detail erforscht, sie hat aus Elsies Erinnerungen und ihrer eigenen Phantasie eine romanhafte Lebensgeschichte gemacht. Fern von jedem trockenen Sachbuchstil kann der Leser die Not, die Angst und das zeitweise Verzweifeln unsagbar nah und authentisch fühlen. Die Kapitel über Elsies Haft sind die poetischsten im ganzen Buch. Auch Ernst Leitz II, ihr Vater, nutzt seine Stellung und sein Geld, um Juden und anderen Verfolgten zu helfen, Deutschland zu verlassen und im Ausland, bevorzugt in Orten mit einer Leitz-Niederlassung, Arbeit und Unterkunft zu finden. Dass er damit auch seine Tochter retten kann, ist ein positiver Nebeneffekt.
Die Autorin verfolgt in ihrem Buch die verschiedenen Erzählstränge mit Vehemenz, so kennt der Leser bald nicht nur ihre Großmutter Irina, sondern auch ihren Opa Sergei – mit einer ganz eigenen Geschichte –, folgt dem schweren Start des Onkels Alexandre ins Leben, ihrer wilden, fröhlichen Mutter Lucy und ihrem Vater in die 1970er. Colbys Großeltern gelingt nach Kriegsende – das ist zwar ein Spoiler, aber sicher verzeihlich – die mehrfache Flucht vor den Russen, nicht zuletzt wieder auch mit Hilfe von Elsie bzw. Ernst Leitz II. Die Aussicht, als Vaterlandsverräter in einem russischen Gulag zu enden, hat Colbys Großeltern zu wahren Husarenstücken gebracht, um dieses Schicksal abzuwenden. In Kanada finden beide endgültig eine neue Heimat.
Trotz der tragischen und traurigen Begebenheiten hat dieses Buch etwas Leichtes und die Sprache der Großmutter trägt eindeutig dazu bei, etwas Ironie und Witz zu verbreiten. Ihr nach wie vor gebrochenes Englisch (in der Übersetzung natürlich Deutsch) ist köstlich, der Supermarktbesuch unvergesslich und brachte mich tatsächlich zum Lachen. Es ist anrührend zu lesen, wie sie Stück für Stück ein „bisselchen“ von ihren Erinnerungen an Tochter und Enkeltochter weitergibt. Ich zitiere hier eine passende Textstelle, die gleichzeitig auch von einer perfekten Übersetzung zeugt: „Ich weiß, dass meine Großmutter hart an ihren Geschichten gearbeitet hat. Ich weiß genau, dass ihre Versionen vor allem ein Akt der Bewahrung sind – Wiederholungen, die es ihr ermöglichen, ihre Albträume in Schach zu halten, sorgfältig bearbeitete Sequenzen, die uns schonen und es ihr ersparen, sie uns erzählen zu müssen. In anderen Jahren haben diese redigierten Versionen ausgereicht. Aber jetzt haben die Risse in ihren Geschichten die Gewissheit erzeugt, dass es da mehr gibt.“ (S. 114)
All die Erinnerungen, die recherchierten Details und eigenen Erfahrungen zusammenzusetzen ist für Colby „ein radikaler Akt der Collage“, den sie hervorragend meistert. Die Zeiten werden auf geheimnisvolle Weise vermischt und verknüpft, nichts ist unsicher oder an der falschen Stelle. Die Jahre 1942 bis 1945 mit Irina und Elsie, die Nachkriegszeit mit Irina und Sergei, die 1950er bis 1970er mit Colbys Eltern, die Jahre 2011 bis 2014, die Entstehung des Buches, die Besuche bei der Großmutter und vor allem die Geburt von Tatianna, Colbys kleiner Tochter, damit schließt sich der Kreis.
Und überall im Buch erscheinen auch Nebenfiguren, die mit gelungenen Porträts und Beschreibungen verschiedener Ereignisse in den Ablauf der Geschichte eingewoben sind. Es sind Freunde, die geholfen haben, in allen Lebenslagen Wie sehr das verbindet, kann man hier nachlesen. Besonders berührend fand ich die Szene im DP-Lager, als Milka die unglücklich nach einem Platz suchende kleine Familie samt Kinderwagen in ihr winziges Zimmer einlädt und sie dort zwei Monate wohnen können, zusammen mit ihrem Mann Panas und den beiden Kindern Valja und Laura. Aus Laura wird später Laurie und die Großmutter Irina erzählt noch 2011 begeistert, dass sie sie kennt, seit sie 5 Jahre alt war. Noch immer treffen sie sich alle bei Irinas Familienfesten.
Als ich dieses Buch las, drang im Hintergrund immer wieder der Gedanke an den Ukrainekrieg bei mir durch, wenn ich über die Angst von Irina und besonders von Sergei vor einer Verhaftung durch die Russen und einer Deportation nach Sibirien las, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Für mich ist die Frage, warum die Ukraine niemals aufgeben will und darf, mit diesem Buch klar und deutlich beantwortet. Wer an der heutigen Hilfe zweifelt, sollte sich klarmachen, dass Hass und Abneigung der Russen gegen die Ukraine nicht geringer geworden sind, eher noch stärker. Stalin wollte die Ukraine unterwerfen, Putin will das auch.
Im Englischen ist der Titel des Buches „The Matryoshka Memoirs“ fast noch zutreffender als nur der einfache deutsche Titel „Irina“. Der ursprüngliche Titel zeugt wesentlich stärker von den vielen ineinander verschachtelten Lebensgeschichten, auch wenn Irina im Buch als Hauptfigur angelegt ist, Sasha Colby macht als Erzählerin aus dieser Familiengeschichte ein echte Matroschka-Geschichte. Trotzdem bin ich von der gesamten Übersetzung durch Dieter Fuchs rundum begeistert.
Fazit: Eine viele Generationen und verschiedene Menschen umfassende biografische und (autfiktionale Erzählung, die einmal mehr die Schrecken des Krieges und der Machtausübung beschreibt. Aber auch von Überlebenswillen und viel Liebe zeugt. Sehr lesenswert und informativ zugleich. 100 Prozent Leseempfehlung.