Ein 'anderer' rosa Liebesroman
LiebewesenDas Leben der introvertierten, zum verzweifelten Zynismus neigenden Lio nimmt auf einer Uni-Rollschuhparty eine entscheidende Wendung. Denn hier lernt die Biologiestudentin die einnehmende Mariam kennen. ...
Das Leben der introvertierten, zum verzweifelten Zynismus neigenden Lio nimmt auf einer Uni-Rollschuhparty eine entscheidende Wendung. Denn hier lernt die Biologiestudentin die einnehmende Mariam kennen. Mit ihrer direkten, humorvollen Art gelingt es Mariam, Lio als ihre zukünftige Mitbewohnerin für ihre 2er-WG zu gewinnen. Dies ist der Beginn einer intensiven Freundschaft. Während Mariam auch über Sex und Liebe offen mit Lio spricht, ist letztere diesbezüglich zurückhaltend. Schließlich gelingt es Mariam, Lio von der Partnersuche auf Datingportalen zu überzeugen. Über ein solches fädelt Mariam ein Badewannen-Date mit einem gewissen Max ein. Aus dem genauso schüchternen wie verspielten ersten Treffen entsteht schnell mehr. Lio erwidert Max‘ Gefühle, ist aber bei zunehmender Körperlichkeit zögerlich und verkrampft. Lio scheint, je länger ihre Beziehung mit Max andauert, immer besser zu ihrem Körpergefühl und auch zu sich selbst zu finden. Wenige Jahre später gestalten Lio und Max ihr Zusammenleben deutlich unharmonischer. Zwei Jahre nach dem Beziehen ihrer gemeinsamen Wohnung stellt Lio fest, dass sie schwanger ist. Spätestens jetzt wird Lio von ihrer eigenen Kindheit eingeholt.
Bei Caroline Schmitts Romandebüt scheint es sich auf den ersten Blick um einen gewöhnlichen Liebes- oder Coming-of-Age-Roman zu handeln. Nicht zuletzt deswegen, weil auf dem Cover der Romantitel ‚Liebewesen‘ prominent in pastellrosa prangt. Auch der Textauszug auf der Buchrückseite ist mit seinen konsequenten Großbuchstaben und demselben Rosaton nicht zu übersehen. Das Cover zeigt ein Mädchen in weißen Strumpfhosen und rosa Kleid. Der Anschein von Prinzessinnenkitsch wird aber bei genauerer Betrachtung des Bildes jeder/-m Leser/-in genommen. Denn das Mädchen hält ein Gewehr im Anschlag. Ähnlich explosiv liest sich der Text auf der Buchrückseite, ein Textauszug. Hierin taucht der/die Leser/-in durch einen Gedankenmonolog in die Empfindungen Lios bei ihrem ersten Mal, das sie mit Max hat, ein. Da ist Angst, da sind Schmerzen, Angst davor, als Jungfrau ‚enttarnt‘ zu werden. Diese Passage stellt Lios innersten Konflikt der Selbstakzeptanz vor, der aus einer traumatischen Kindheit entwachsen zu sein scheint. Die Körperlichkeit, der Körper Lios erwächst in Schmitts Romandebüt zur Allegorie.
Mit ihrer Schwangerschaft wächst in Lio nicht nur in ihrem tiefsten Innern ein neues unschuldiges Leben heran. Simultan mit ihrem Bauch wachsen ihre inneren Konflikte über sie hinaus, lassen sich nicht mehr verbergen. Lios Schwangerschaft scheint von Beginn an etwas ganz Persönliches, etwas Belastendes zu sein. Keine Euphorie nach dem positiven Schwangerschaftstest, keine Imagination eines zukünftigen Familienidylls.
Statt überbordender Mutterinstinkte scheinen die Ängste der kleinen Lio vermehrt in der werdenden Mutter wach zu werden. Schmitt beschreibt die Kälte des Elternhauses, die strikte Disziplin der dominanten Mutter, ihre Härte und Herzlosigkeit aus der Perspektive von Lio, inszeniert unsichere Protagonistin als Ich-Erzählerin. Die Lesenden bekommen jene intimen Einblicke in Lios Innenleben, die in ihrer Beziehung zu Max mit der Zeit Mangelware werden.
Die inzwischen in der Forschung durchaus erfolgreiche Lio hat in ihrer Laborarbeit einen Kosmos gefunden, durch den sie dem zunehmenden anstrengenden Zusammenleben mit Max entfliehen kann. Das Rationale unterliegt ihrer Kontrolle – im Gegensatz zum Emotionalen und Irrationalen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die kurzen Sachtexte, die ab der Schwangerschaft sämtliche Kapitel einleiten, wie eine Laborforschung an der Laborforscherin Lio.
Insgesamt bietet Schmitt mit ihrem Debüt also thematisch und motivisch durchaus innovativen Inhalt. Wir als Lesende sind nah an Lios Empfinden, näher als jede Figur des Romans. Es ergreift die Lesenden zum Ende hin zunehmend das Mitreißende Element, movere. Manchmal jedoch scheint die Leere zwischen den Zeilen eher ungewollt als gewollt. Der kurze Roman bietet dennoch Anknüpfungspunkte an grundlegende Diskurse, in erster Linie durch Inhalt und Grundidee. Schmitts Romandebüt ist in Summe im Konkurrenzfeld seiner Verlagsklasse überaus gelungen. Jedoch fällt die sprachliche-ästhetische Antwort auf die überaus gesamtgesellschaftlich relevanten Konfliktfelder der Protagonistin ausgesprochen genretypisch aus.