Inhalt: Berlin 1923. Die Hebamme Hulda Gold entbindet im Scheunenviertel die junge Tamar Rothmann von einem gesunden Jungen. Tamar ist Armenierin, lebt aber mit ihrem jüdischen Ehemann Zvi und dessen Eltern ganz nach deren eigenen strengen Regeln. Ihre Schwiegermutter Ruth macht kein Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber der christlichen Schwiegertochter. Als nach zwei Tagen das Baby plötzlich spurlos verschwunden ist und das die Familie Rothmann kaum zu kümmern scheint, stellt Hulda eigene Nachforschungen an. Gleichzeitig ermittelt Kommissar Karl North gegen Kinderhändler. Gibt es da einen Zusammenhang? Dann gerät Hulda bei ihrer Spurensuche selbst in Gefahr, als sich im Scheunenviertel der Judenhass in einem Pogrom entlädt.
Meine Meinung: Nachdem mir der erste Teil „Schatten und Licht“ noch nicht hundertprozentig gefallen hat, wurden meine Erwartungen bei „Scheunenkinder“ übertroffen. Das Schöne an Fortsetzungen, bzw. 2. Teilen ist, dass die wichtigen Charaktere bereits bekannt sind und man sich nicht mehr lange mit deren Charakterisierungen und Kennenlernen aufhalten muss. Während ich im 1.Teil anfangs noch meine Probleme mit Hulda hatte, so gefiel sie mir in dieser Geschichte von Anfang an richtig gut. Sie ist eine sehr fähige und vor allem empathische Hebamme.
Hulda und Karl sind inzwischen eine Verbindung eingegangen, die aber (Zitat:) „schwankte wie ein Schilfrohr im Wind.“ Da beide unter Beziehungsängsten leiden und vor allem Karl eine traumatische Kindheit hatte, ist ihre Beziehung ein ständiges Auf und Ab. Außerdem ist Karl leider immer noch abhängig vom Alkohol, um überhaupt arbeiten zu können und den Tag zu überstehen. Bisher kann ich Karl auch noch nicht richtig einschätzen.
Gut gefallen hat mir auch, dass Hulda eine neue Freundin gewinnt: die verwitwete Apothekerin Jette. Ich hoffe, sie ist im nächsten Teil wieder dabei. Aber auch Frau Wunderlich, Huldas Vermieterin hat mir in diesem Teil wirklich gut gefallen. Trotz ihrer harten Schale hat sie doch einen weichen Kern.
Anne Stern beschreibt sehr lebendig und anschaulich die Situation in Berlin im Jahr 1923 und versetzt den Leser gekonnt für ein paar Stunden in die Vergangenheit. Deutschland befindet sich mitten in der Inflation und die Preise steigen unaufhörlich. Hausfrauen tragen ihr Einkaufsgeld (Packen von Geldscheinen) in Koffern und Ziehwägelchen und stehen sich für ein wenig Milch und Brot die Füße platt. Zudem macht sich der Judenhass immer stärker und deutlicher bemerkbar. Sogar für die Inflation werden die Juden verantwortlich gemacht! Schließlich führt der Zorn der angespannten und entnervten Bevölkerung zu heftigen Ausschreitungen. Und Hulda, die sich zu der Zeit zufällig im Scheunenviertel aufhält, in dem es viele jüdische Geschäfte und Wohnhäuser gibt, gerät in ernste Gefahr.
Huldas Suche nach dem Neugeborenen ist zwar nicht besonders spannend, aber es handelt sich hier auch um einen Roman und nicht um einen Krimi. Mich hat die Geschichte von Anfang an gefesselt und gut unterhalten und ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung, die im April nächsten Jahres erscheint.
Fazit: Ein gut recherchierter und fesselnder historischer Roman mit vielen großartig gezeichneten Charakteren und vor allem einer tollen Protagonistin.