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Veröffentlicht am 24.02.2019

"Suchet, so werdet ihr finden"

Wohin dein Herz mich ruft
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1881 London. Die Krankenschwester Julia Bernay möchte unbedingt Ärztin werden und tut alles dafür, um am dafür vorgesehenen Londoner College als Studentin aufgenommen zu werden. Als Julia mit der U-Bahn ...

1881 London. Die Krankenschwester Julia Bernay möchte unbedingt Ärztin werden und tut alles dafür, um am dafür vorgesehenen Londoner College als Studentin aufgenommen zu werden. Als Julia mit der U-Bahn auf dem Weg zu einem medizinischen Vortrag ist, entgleist der Zug und es kommt zu einem schweren Unglück. Julias Sitznachbar, der sich als Rechtsanwalt Michael Stephenson entpuppt, liegt regungslos am Boden und ist schwer verletzt. Julia hat alle Hände voll zu tun, Michaels Leben zu retten, bis dieser von herbeigerufenen Sanitätern in ein Krankenhaus gebracht wird. Nur durch eine Visitenkarte weiß Julia, wer ihr Patient war und erkundigt sich einige Zeit später nach seinem Befinden, obwohl es sie und auch ihn in einen Gewissenskonflikt bringt, denn Michael vertritt in einem Prozess den Kläger gegen das medizinische College, das Julia einmal besuchen möchte, und dem bei einem Urteil die Schließung droht. Michael möchte sich bei Julia dafür revanchieren, dass sie ihm das Leben gerettet hat und gibt ihr in Folge dessen Lateinunterricht, obwohl ihn das beruflich in eine schwierige Lage bringt. Während der Zeit, die die beiden miteinander verbringen, kommen sie sich immer näher. Doch es gibt zu viele Hindernisse, die den beiden im Weg liegen…
Jennifer Delamere hat mit ihrem Buch „Wohin dein Herz mich ruft“ den zweiten Band um die Bernay-Schwestern vorgelegt. Der Schreibstil ist flüssig und anrührend, der Leser wird mit den ersten Zeilen an das Ende des 19. Jahrhunderts katapultiert und darf Julia bei ihrem mutigen Kampf für ihre Hoffnungen und Träume folgen, wobei ihre Gedanken und Gefühle für den Leser nie ein Geheimnis bleiben. Die Autorin gewährt dem Leser einen sehr guten Einblick in die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und politischen Ansichten, wobei sich der Großteil dagegen ausspricht, dass sich Frauen in für Männer vorbehaltene Berufe drängen, ob es nicht der Arztberuf oder der eines Anwalts ist. Dass Frauen als Ärztin durchaus von Nutzen sein können, wird zwar hin- aber nicht ernst genommen. Ein im Buch verhandelter Prozess zeigt zudem die einsame Rache eines einflussreichen Mannes, der zum einen die Kontrolle über seine eigenen Familienmitglieder verloren hat, sowie ein Opfer seines Starrsinns ist, mit dem er versucht, andere um ihre Zukunft zu bringen. Der christliche Aspekt wird in diesem Buch sehr schön und gleichzeitig dezent durch die Gedanken und Taten von Julia reflektiert. Unbeirrbar hat sie ihr Leben in Gottes Hand gelegt und ist davon überzeugt, dass jederzeit Hilfe kommt, wenn sie von Nöten ist. Die kleinen Gebete und Zitate passen immer sehr gut zu der jeweiligen Situation und geben dem Leser auch den Anreiz, diese auf das eigene Leben anzuwenden.
Die Charaktere sprühen geradezu voller Leben und wirken mit ihren Stärken und Schwächen sehr realistisch und glaubhaft. Der Leser kann sich gut in sie hineinversetzen und ihre Handlungen nachvollziehen. Julia ist eine intelligente und offene Frau, die das Leben so annimmt, wie es ihr begegnet. Sie glaubt fest daran, dass alles seinen Sinn hat und vertraut darauf, dass es immer eine Lösung geben wird. Julia ist hilfsbereit, uneigennützig und vor allem sehr loyal. Michael hat sich in seinem Beruf hochgearbeitet und weiß, dass er in der Schuld seiner Unterstützer steht. Er ist clever, hat hehre Ziele, doch manche davon stellt er immer mehr in Frage. Je mehr er Julia kennenlernt, umso mehr nimmt er von ihrer Zuversicht für sich an und gewinnt an Vertrauen. Edith ist eine hervorragende Ärztin, aber eine verbissene und verbitterte Frau, die mit ihrem Stolz über die Stränge schlägt. Cara ist Julias jüngere Schwester, die das Leben noch etwas naiv und durch eine rosarote Brille sieht. Jedoch ist die Liebe zu Julia unerschütterlich und lässt sie über sich hinauswachsen. Ebenso überzeugen die weiteren Protagonisten wie z.B. James Anderson oder Finley, die die Geschichte rundum gelungen machen.
„Wohin dein Herz mich ruft“ ist ein wunderschöner Roman mit historischem Hintergrund, der nicht nur eine Liebesgeschichte erzählt, sondern auch den spannenden Kampf von Frauen für ihr Recht auf einen von ihnen gewählten Beruf. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 23.02.2019

Zeitreise ins politische Bonn der 70er Jahre

Rheinblick
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November 1972 – Bundeshauptstadt Bonn. Willy Brandt hat mit seiner SPD gerade bei den vorgezogenen Bundestagswahlen ein Wahlergebnis von 46% erreicht und steht nun vor schwierigen Koalitionsverhandlungen. ...

November 1972 – Bundeshauptstadt Bonn. Willy Brandt hat mit seiner SPD gerade bei den vorgezogenen Bundestagswahlen ein Wahlergebnis von 46% erreicht und steht nun vor schwierigen Koalitionsverhandlungen. Doch diese kann Brandt erst einmal nicht persönlich bestreiten, denn er muss sich direkt im Anschluss an die Wahl im Krankenhaus einer Stimmbandoperation unterziehen, die ihn dazu zwingt, für einige Zeit keinen Ton von sich zu geben, was seinen Rivalen natürlich Tür und Tor öffnet. Die junge Logopädin Sonja Engel hilft Brandt durch den Heilungsprozess, so dass er bald stimmlich wieder auf der Höhe ist und darf den berühmten Politiker nicht nur hautnah von seiner privaten Seite erleben, sondern kann auch einiges von den politischen Machtspielchen mitverfolgen. Währenddessen leitet die verwitwete und von Geldsorgen geplagte Hilde Kessel das „Rheinblick“, eine Kneipe, in der sich die politische Elite, kleinere Akteure, die Angestellten der Politbüros sowie die normale Bevölkerung die Klinke in die Hand geben und bei einem Essen oder einem Kartenspiel so manche internen Informationen fallen lassen. Auf diesem Wege erfährt Hilde auch von den Intrigen, die hinter Brandts Rücken geschmiedet werden. Wird sie die Informationen für sich behalten?
Brigitte Glaser hat mit ihrem Buch „Rheinblick“ einen absolut würdigen Nachfolger für ihr Werk „Bühlerhöhe“ vorgelegt. Der Schreibstil ist flüssig und angenehm zu lesen, unterschwellig immer mit einer gewissen atmosphärischen Schwingung versehen, fesselt das Buch ab der ersten Seite. Die Autorin versteht es hervorragend, den Leser in die jüngste deutsche Vergangenheit zu ziehen und hautnah den Politzirkus mit seinem Machtgehabe und seinen Intrigen und geheimen Abmachungen mitzuverfolgen. Die Autorin lässt unter Verwendung von historisch belegten Persönlichkeiten und sehr guter Hintergrundrecherche den Leser auch den damaligen Zeitgeist sowie die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse kennenlernen, wo Frauen noch immer für die Ehe, den Haushalt und die Familie zuständig waren und es noch galt, dass die Erlaubnis des Ehemanns vorliegen musste, damit eine Frau arbeiten durfte. Gleichzeitig galten die 70er Jahre als das Jahrzehnt des Aufbruchs, wo viele Studenten auf die Straße gingen, um für ihre Ansichten zu kämpfen. Wunderbar fließend verknüpft Glaser Realität mit Fiktion und macht die erzählte Geschichte zu einem echten Erlebnis, das die Erinnerung an die damaligen Ereignisse wieder ins Gedächtnis ruft. Obwohl die Handlung schon spannend genug ist, setzt Glaser noch einen zusätzlichen Höhepunkt durch einen ungeklärten Mordfall, der einige Verwicklungen nach sich zieht.
Die Charaktere sind sehr gut geschliffen und detailliert in Szene gesetzt. Individuelle Eigenschaften gepaart mit der guten Beobachtungsgabe der Autorin lassen sie durchweg sehr realitätsgetreu und authentisch wirken. Der Leser darf sich unsichtbar zwischen ihnen bewegen und ihnen über die Schulter schauen. Brandt ist ein schwieriger Patient, nimmt keine Rücksicht auf sich selbst, sondern ist mit Haut und Haar bei den Koalitionsverhandlungen. Dabei kennt er keine Schonung, waswas seiner Gesundheit nicht gerade zuträglich ist. Krankenschwester Sonja fällt die besondere Aufgabe zu, sich um Brandt zu kümmern. Doch Sonja ist mit ihren Gedanken bei ihrer jüngeren Schwester, die spurlos verschwunden ist. Ihre familiären Verhältnisse sind nicht gerade rosig zu nennen. Hilde ist bereits Witwe und muss sich mit dem frisch-renovierten Rheinblick irgendwie durchbringen, auch wenn die Schulden ihr die Luft abschnüren. Sie gilt als verschwiegen und integer, doch weiß Hilde selbst am besten, dass dem nicht so ist. Max verdient sich seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer, dabei ist er Student und lebt mit Sonja in einer WG. Er flirtet gerne und ist ein netter Kerl. Die Journalistin Lotti ist für kurze Zeit ebenfalls Mitglied in der WG. Sie hat den Auftrag für eine Bonner Reportage, doch der Mord lässt sie in andere Richtungen forschen. Auch die weiteren Protagonisten stützen die komplexe Handlung und machen sie rundum sehr gelungen.
„Rheinblick“ ist nicht nur ein wahnsinnig spannender und atmosphärischer Roman, sondern eine tolle Zeitreise in die jüngste deutsche Vergangenheit, wo der Aufbruch seinen Anfang nahm. Absolute Leseempfehlung für ein Highlight dieses Jahres - Chapeau!

Veröffentlicht am 17.02.2019

Die Prater-Schneekugel

Die Fliedertochter
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2018. Weil Antonia, eine ältere Dame, gesundheitlich nicht mehr so auf der Höhe ist, bittet sie ihre junge Freundin, die 30-jährige Paulina Willke, ihr einen großen Gefallen zu tun. Paulina soll für sie ...

2018. Weil Antonia, eine ältere Dame, gesundheitlich nicht mehr so auf der Höhe ist, bittet sie ihre junge Freundin, die 30-jährige Paulina Willke, ihr einen großen Gefallen zu tun. Paulina soll für sie nach Wien reisen und dort für sie eine ungeklärte Erbschaftsangelegenheit zu regeln. Da Paulinas Beziehung momentan nicht so gut läuft, macht sie sich mit ihrem alten Talisman, einer Schneekugel von 1936 mit dem Prater Riesenrad, auf den Weg in die österreichische Metropole, wo sie von der Familie Brunner aufgenommen wird. Von ihnen bekommt sie ein altes Tagebuch ausgehändigt, was sich als Tonis Erbstück herausstellt. Durch das Tagebuch lernt Paulina die Geschichte der jungen Soubrette Luzie kennen, die 1936 nach Wien auf der Flucht vor den Nazis nach Wien kam…
Teresa Simon hat mit ihrem Buch „Die Fliedertochter“ ihren vierten Roman vorgelegt, der alle anderen regelrecht überstrahlt! Die Geschichte mit historischen Hintergrund besitzt einen so leichten, dabei einnehmenden, gefühlvollen und anrührenden Erzählstil, dem der Leser sich gar nicht erwehren kann und in der wunderbaren Handlung sogleich versinkt, um mal an der Seite von Paulina in der Gegenwart zu wandeln, mal an der Seite von Luzie die harten Jahre von 1936 bis 1944 während der Nazischreckensherrschaft kennenzulernen. Durch die wechselnden Perspektiven wird nicht nur die Spannung gesteigert, sondern gibt dem Leser bei der Rückkehr in die Gegenwart auch immer wieder eine Verschnaufpause von dem sehr berührenden Vergangenheitspart. Die von der Autorin geschickt in die Handlung eingepflegten Tagebucheinträge bekommt die Geschichte etwas so Greifbares und Authentisches, dass der Leser das gesamte Gefühlsbarometer von Luzie während der damaligen Zeit hautnah miterlebt und –fühlt. Durch die sehr gute und akribische Hintergrundrecherche der Autorin wirkt die gesamte Geschichte durchweg sehr biografisch und real, gerade das geht mitten ins Herz und lässt einen lange nicht mehr los. Daneben versteckt sie Geheimnisse in ihrer Handlung und lässt den Leser mit den Protagonisten auf die Suche gehen, um diese zu entschlüsseln und den Kreis zu schließen. Ebenso wunderbar gestaltet sie mit farbenfrohen und detaillierten Bildern die Streifzüge durch Wien, der Leser fühlt sich gleich gut aufgehoben und hat die wunderbare Stadt mit ihren charmanten Straßenzügen und alten Gebäuden sofort vor Augen.
Die Charaktere sind so mit Leben erfüllt, dass sie dem Leser regelrecht vor Augen stehen. Sie wirken so natürlich, menschlich und individuell, schon nach kurzer Zeit hat man das Gefühl, sie schon so ewig zu kennen und wie alte Freunde liebgewonnen zu haben. Paulina ist eine sympathische junge Frau, die die Reise ihres Lebens erleben wird. Sie ist neugierig, aufgeschlossen und besitzt Empathie und Mitgefühl. Luzie Stern allerdings leuchtet über allen, denn sie ist so eine tolle Protagonistin, die man einfach lieben muss. Sie hat ihren eigenen Kopf, ist unkonventionell und behält immer ihre Hoffnung, die sie weiter durchs Leben trägt und sie stark und mutig wirken lässt. Ihr unverbrüchlicher Glaube rührt an des Lesers Seele und fast beneidet man sie um diese Gabe. Ebenso können Charaktere wie Bela oder auch Paulinas Mutter Simone überzeugen.
„Die Fliedertochter“ ist ein hinreißend erzählter Roman mit zauberhaft eingefügtem historischem Hintergrund, der das Herz berührt, Geheimnisse offenlegt und die Liebe sprechen lässt. Ein Buch, das mehr hält, als es verspricht. Absolute Leseempfehlung für ein Kleinod, wie man es gar nicht besser hinkriegen kann - Chapeau!

Veröffentlicht am 17.02.2019

Linnas persönlicher Alptraum

Lazarus
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Seit Jahren ist Joonna Linna auf der Jagd nach Jurek Walter gewesen, bis er anscheinend vor Jahren bei einem Polizeieinsatz getötet wurde. Doch wie erklären sich die dann die vielen Morde, die in letzter ...

Seit Jahren ist Joonna Linna auf der Jagd nach Jurek Walter gewesen, bis er anscheinend vor Jahren bei einem Polizeieinsatz getötet wurde. Doch wie erklären sich die dann die vielen Morde, die in letzter Zeit eine grausame Linie durch Europa ziehen? Die Getöteten waren alles keine Unschuldslämmer, sondern haben mit ihren Taten selbst Angst und Schrecken verbreitet. Sieht sich da jemand als Gerechtigkeitsengel, der die Welt von „Unrat“ säubern will? Für Joonna Linna sieht es nach Taten aus, die nur Jurek Walter begangen haben kann, besonders ab dem Moment, als der Schädel seiner toten Ehefrau bei einem Grabschänder gefunden wird. Joonna versteckt seine Tochter, und obwohl niemand seine Gedanken teilt, macht er sich auf die Jagd nach Jurek, doch der hat sich gerade erst wieder warm gemacht, denn das Morden geht weiter. Kommt es endlich zum Showdown zwischen Joonna und der Bestie Jurek?
Das Autorenduo Lars Kepler legt mit dem Buch „Lazarus“ den 7. Fall ihres Ermittlers Joonna Linna vor, der die Hatz nach dem Serienmörder Jurek Walter fortführt und die gleichbleibend die Spannung der Vorgänger auf hohem Niveau hält. Der Schreibstil ist flüssig, fesselnd und rasant und erzeugt eine düstere Stimmung, die sich auf den Leser sofort überträgt. Die Autoren haben ein geschicktes Händchen dafür, den Leser schon von Beginn an wie eine Spinne einzufangen und die Gänsehaut zum Dauerzustand zu machen. Die besonders persönlichen Verbindungen von Linna zu Walter geben dabei zusätzlich Spannung, denn die Jagd geht bereits über Jahre und Jurek hat es vor allem auf die Aufmerksamkeit von Joonna abgesehen, die ihn immer wieder antreibt. Die Ermittlungen sind fast minutiös geschildert, der Leser ist hautnah dabei, wenn immer mehr Tote geborgen werden, die unter den grausamsten Methoden ihr Leben verloren haben. Durch geschickte Wendungen bleibt der Fall bis fast zum Ende wieder undurchsichtig: alles ist möglich, nichts scheint so, wie es sich darstellt.
Die Charaktere wurden im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt, und wer die Serie bereits kennt, der fühlt sich ihnen sofort wieder verbunden. Joonna Linna ist ein Mann, der sich von nichts ablenken lässt, seinen Gegner bereits lange studieren konnte und weiß, dass dieser ihn ganz persönlich treffen will. Er ist zäh und ausdauernd, aber er besitzt auch das nötige Einfühlungsvermögen für seine Kollegen und die Opfer. Jurek Walter ist wie ein unbesiegbarer Geist, immer eine nasenlänge voraus, ein Chamäleon, dass für andere wie der nette Nachbar wirkt, dafür umso gefährlicher ist aufgrund seiner dunklen und grausamen Seite.
„Lazarus“ ist wieder einmal ein psychologisch geschickt geschriebener Pageturner, an dessen Seiten man kleben bleibt und wie im Fieber mit Linna auf die Jagd geht. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 16.02.2019

"Wo Gegensätze sich berühren, beginnt die Vorstellungskraft." (Kurt Haberstich)

Die unnahbare Miss Ellison
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Die Pfarrerstochter Lavinia Ellison lebt mit ihrem Vater und ihrer Tante Miss West auf dem Land in St. Hampton Heath. Lavinia kümmert sich rührend gerade um die ärmlichen Bewohner des Ortes und hat sich ...

Die Pfarrerstochter Lavinia Ellison lebt mit ihrem Vater und ihrer Tante Miss West auf dem Land in St. Hampton Heath. Lavinia kümmert sich rührend gerade um die ärmlichen Bewohner des Ortes und hat sich damit einen Platz im Herzen der Dorfgemeinschaft erobert. Als Lavinia bei einem Spaziergang Nicolas, den neunten Graf von Hawkesbury, der gerade erst sein Anwesen bezogen hat, auf seinem Pferd begegnet, wirbelt das alte und schmerzliche Erinnerungen in Lavinia auf, die sie sofort in Abwehrhaltung zu diesem Mann gehen lassen. Auch Nicolas geht Lavinias unbekümmertes und belehrendes Verhalten gegen den Strich. Die beiden sind wie Katz und Maus. Als Lavinia schwer krank wird und Nicolas sie zur Genesung auf sein Anwesen holt, lernen sich die beiden besser kennen und plötzlich ist alles anders…
Carolyn Miller hat mit ihrem Buch „Die unnahbare Miss Ellison“ einen wunderschönen und gefühlvollen Regency-Roman vorgelegt, der von der ersten Seite an zu begeistern weiß. Der Schreibstil ist flüssig und der damaligen Zeit mit ihren gestelzten Redewendungen angepasst, was die Geschichte sehr authentisch wirken und zu einem wahren Lesevergnügen werden lässt. Der Leser fühlt sich direkt in die Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts versetzt, hat Frauen in geschnürten langen Kleidern und mit Haube vor Augen sowie stattliche Herren in Uniform, engen Beinkleidern und Reitstiefeln. Das scheinbar idyllische Landleben wird so farbenfroh geschildert, dass man die Wälder und Felder sowie die Armenbarracken und das herrschaftliche Anwesen gut vor Augen hat. Bei der Lektüre hat man unweigerlich Miss Bennett und Mr. Darcy vor Augen, denn genau wie Jane Austens Meisterpaar aus „Stolz und Vorurteil“ schenken sich Lavinia und Nicolas nichts in punkto Nachgiebigkeit, Arroganz, Herablassung und Missverständnissen. Der unterschiedliche Gesellschaftsstand zwischen den beiden verwischt stark angesichts der Tatsache, dass beide Protagonisten sehr gebildet sind und sich auf Augenhöhe unterhalten. Auch die gesellschaftlichen Regeln zur damaligen Zeit werden von der Autorin sehr schön hervorgehoben. Mit überraschenden Wendungen kann die Autorin bis zum Ende wunderbar bei der Stange halten. Schön herausgearbeitet wurde auch Lavinias unerschütterlicher Glaube und dass sie ihr Leben nach der Bibel ausrichtet, während Nicolas erst einmal nicht weiß, wie man überhaupt betet, sich dann aber immer mehr in christliche Schriften vertieft und das Wort Vergebung für ihn eine neue Bedeutung bekommt.
Die Charaktere sind detailliert und liebevoll ausstaffiert, ihnen wurde regelrecht Leben eingehaucht. Sie wirken plastisch, individuell und vor allem sehr authentisch, der Leser kann sich gut in sie hineinversetzen und mit ihnen fiebern. Lavinia ist eine Frau der offenen Worte, hilfsbereit und aufopferungsvoll gegenüber den Armen und Schwachen. Sie setzt sich für sie ein und kann dabei ein wahrer Plagegeist sein. Nicolas ist von seinem Leben gelangweilt, der Krieg hat Schrecken auf seiner Seele hinterlassen und er leidet noch immer unter einem Vorkommnis in der Vergangenheit. Er ist oftmals zynisch, wirkt herablassend und wenig interessiert an seinen Mitmenschen. Doch er besitzt auch Einfühlungsvermögen und lässt oftmals seine Unsicherheit erkennen. Auch die weiteren Protagonisten wie Thornton, Lily oder Miss West geben dem Buch einen vollständigen Rahmen zur Handlung.
„Die unnahbare Miss Ellison“ ist ein wunderbarer historischer Roman gefüllt mit einem bunten Strauß voller Missverständnisse, Liebe, Freundschaft, Familie und den Problemen des Lebens auf dem Land zur Regency-Zeit. Herrlich in Szene gesetzt und ausdrucksstark erzählt. Eine mehr als verdiente Leseempfehlung für wirklich unterhaltsame Lesestunden!