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Veröffentlicht am 08.04.2024

Spannungsgeladen bis zum letzten Satz

Die Kriminalistinnen. Acht Schüsse im Schnee
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Mir hat dieser Krimi gefallen, obwohl der Mord am Millionär Theo Ellerbeck manchmal etwas in den Hintergrund trat ob der vielen verschiedenen Handlungsstränge. Hauptperson und Ich-Erzählerin ist die angehende ...

Mir hat dieser Krimi gefallen, obwohl der Mord am Millionär Theo Ellerbeck manchmal etwas in den Hintergrund trat ob der vielen verschiedenen Handlungsstränge. Hauptperson und Ich-Erzählerin ist die angehende Kriminalwachtmeisterin Lucia Specht, die in Düsseldorf gerade bei der Sitte ihre Ausbildung absolviert. Für das Jahr 1970 alles andere als normal, es sind die ersten Frauen, die eine solche Ausbildung machen können und die Männerwelt und eingespielte Routinen machen es ihnen nicht gerade leicht. Machos, sexistische Sprüche, Anmachen aller Art, Herabwürdigen aller Art, ein gefährliches Arbeitsumfeld, da haben die jungen Frauen reichlich zu knabbern. Lucia ist aus Essen, kommt aus einer Arbeiterfamilie und hat zudem eine mehr als zehn Jahre zuvor ermordete Mutter. Dass der Fall unaufgeklärt blieb, ist vielleicht einer der Gründe, warum sie zur Polizei will. Sie ist frech, draufgängerisch und manchmal etwas zu wild entschlossen, ihrer Profession zu folgen. Und ihre Profession ist nicht nur die Mordaufklärung im Fall Ellerbeck, der Fall ihrer Mutter nimmt nicht nur im Buch sondern auch in Lucias Kopf einen übergroßen Teil ein. Dass Lucia dabei auch allerlei lernt, ergibt sich von selbst, einschließlich der Tatsache, das sie wohl doch nicht soviel Alkohol verträgt wie Vater und Bruder. Die beiden lernt man im Verlauf der Handlung auch noch kennen, aber sehr in die Tiefe geht es hier nicht.

Am meisten amüsiert habe ich mich über die kleinen Liebesbriefchen, die Lucia allzu oft auf ihrem Schreibtisch findet. Auch hier ermittelt sie mit Vehemenz und Wut den Schreiberling. Wer es ist, verrate ich natürlich nicht. Ebenso wenig nehme ich den Lesern die Spannung, wie sich der Fall Ellerbeck aufklären wird. Geschickt legt auch der Autor seine Fährten!

Der Schreibtstil von Mathias Berg ist eingängig und man liest das Buch schnell und leicht, gute Unterhaltung. Die kursiv eingestreuten, nicht ausgesprochenen Gedanken von Lucia lockerten das Lesen zusätzlich auf. Dass der Autor in sein Siebzigerjahremilieu so ziemlich alles packt, was ihn bewegt, was er an Details erfahren hat bei seinen Recherchen, ist für jüngere Leser bestimmt eine Offenbarung. Für mich war es teilweise eher ein Wiedererkennen, besonders die Musiktitel, die er nennt und in die Handlung einbaut, erklangen wie von Geisterhand in meinem Ohr. Die neben Lucia auftretenden Protagonisten werden mehr oder weniger intensiv vorgestellt und charakterisiert. Dass ich da natürlich besonders den Herrn Müller recht brachial fand, will ich hier nicht weiter ausführen, um den Überraschungseffekt beim Lesen nicht vorwegzunehmen. Die im Verlauf der Handlung angesprochenen Probleme der Kollegen und der anderen Anwärterinnen entsprechen der damaligen Zeit. Wer könnte sich heute noch vorstellen, dass der Ehemann das Einverständnis für Arbeitsvertrag oder Ausbildung erteilen musste. Oder dass ein Schwuler nicht Polizist werden darf. Alles aus der Zeit gefallen, da haben wir heute mehr Glück. Da ich aber weder begeisterte Feministin noch Anhängerin der LGBT...-Szene bin, fand ich manches etwas dick aufgetragen, aber das ist ja subjektiv und reine Geschmackssache.

Dieses Buch ist bekanntlich schon der zweite Band der Reihe "Die Kriminalistinnen". Da ich den ersten Band "Der Tod des Blumenmädchens" nicht kenne, weiß ich natürlich nicht, ob es besser wäre für das Verständnis der Rückblicke und Probleme von Lucia und ihren Mitstreiterinnen, dass man ihn zuvor gelesen hätte. Ich habe mir die Rezensionen angeschaut und denke, ja, es wäre besser.

Fazit: ein unterhaltsamer Krimi mit vielen Handlungssträngen und einer sehr echt wirkenden Beschreibung der Siebziger Jahre.

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Veröffentlicht am 07.04.2024

Berlin intensiv!

Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte
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Meine Heimatstadt das Rom der Zeitgeschichte? Irgendwie hätte mir Mekka im Titel wohl doch eher zugesagt. Aber man soll sich ja nicht an Kleinigkeiten festbeißen. In der Einleitung wurde mir ja schon ein ...

Meine Heimatstadt das Rom der Zeitgeschichte? Irgendwie hätte mir Mekka im Titel wohl doch eher zugesagt. Aber man soll sich ja nicht an Kleinigkeiten festbeißen. In der Einleitung wurde mir ja schon ein Satz präsentiert, den hätte ich nach der Lektüre des Gesamtwerkes gerne als Rezensionseinleitung verwendet: „Das vorliegende Buch betrachtet die Geschichte und die Gegenwart Berlins aus genau dieser Perspektive, indem es die drei genannten Bedeutungsebenen vom »Rom der Zeitgeschichte« aufgreift: den Mythos, den Raum und die Zeit.“ Das ist das Leitmotiv, dem sich Hanno Hochmuth mit Enthusiasmus widmet. Ich habe viel Bekanntes aus meiner Stadt Berlin wiedergefunden, aber auch Neues und mir gänzlich Unbekanntes entdeckt. So z. B. die Metallstele zur Erinnerung an den Hitlerattentäter Georg Elser. Für mich wird dieses Buch ganz sicher Begleitung auf meiner nächsten Berlinreise sein.
Mit dem Schreibstil und der Ausführlichkeit der Beiträge musste ich mich erst anfreunden, insgesamt hat mir dieses Berlin-Kompendium bestens gefallen. Besonders alle Texte mit Bezug zur ehemaligen Stalinallee waren hochinteressant, haben für mich noch nicht beachtete Aspekte beleuchtet, z. B. das Verstecken der Laubenganghäuser war mir neu. Dass Hanno Hochmuth im Berlin der Jetztzeit so einiges zu bemängeln hat, freut mich auch in Bezug auf die ominöse „Einheitswippe“. Die Löwen, die jetzt im Tierpark weilen, waren übrigens zwischenzeitlich vor dem Eingang des ehemaligen Kulturministeriums der DDR am Molkenmarkt stationiert. Als Kind bin ich darauf noch herumgeklettert.
Ein Kritikpunkt zu diesem umfangreichen Recherchewerk: mir fehlte im Anhang ein Namensindex, nicht nur der Architekten, sondern auch der vielen erwähnten Personen der Zeitgeschichte.
Fazit: wer Interesse an Berlin, Architektur und Geschichte hat, wird hier bestimmt fündig.

BerlinDasRomderZeitgeschichte

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Veröffentlicht am 04.04.2024

Wir treffen uns im Unendlichen

Solange es eine Heimat gibt. Erika Mann
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Ein Sachbuch, spannend und bewegend wie ein Roman, eine Biographie, die unter die Haut geht. Unda Hörner – die ich bisher als Autorin noch gar nicht kannte – hat sich der Lebensgeschichte von Erika Mann ...

Ein Sachbuch, spannend und bewegend wie ein Roman, eine Biographie, die unter die Haut geht. Unda Hörner – die ich bisher als Autorin noch gar nicht kannte – hat sich der Lebensgeschichte von Erika Mann angenommen, sie verfolgt, erforscht, analysiert. Erika Mann, Tochter des Zauberers Thomas Mann, Schwester von Klaus Mann, dem Wilden und Verzagten, dem Mutigen und Traurigen. Nicht ganz einfach, eine solche Familienbeziehung zu beschreiben, über die schon so viel gesagt, geschrieben, gefilmt und getuschelt wurde.
Anfang des 20. Jahrhunderts wachsen Erika und Klaus, nur ein Jahr auseinander, wie Zwillinge auf, verwirren und verunsichern nicht nur Nachbarn und Spielgefährten, später auch die Lehrerschaft. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, machen sie sich auf die Reise, erkunden und erforschen Europa und die Welt. Jeder von ihnen auch immer mit eigenen Ideen, sexuellen Erlebnissen, missglückten Ehen und unerschöpflichem Enthusiasmus. Als der Nationalsozialismus in Deutschland Tatsachen schafft, die ihnen das Bleiben nicht erlauben, beginnt die endlose Zeit der Emigration. Dass Erika zusätzlich zum eigenen Unglück auch das der Eltern und des Bruders bewältigen muss, macht ihr das Leben nicht leichter.
Erst als die Eltern in Kalifornien ein neues Zuhause gefunden haben und auch die Großeltern in die Schweiz auswandern konnten, fällt eine kleine Last von Erika ab. Aber es sind bei Weitem nicht nur die praktischen Dinge des Alltags der Emigranten, die Probleme bereiten, auch die lange und als unerträglich empfundene Zurückhaltung des Vaters gegenüber dem Hitlerregime macht ihr zu schaffen.
Erika Mann schlägt sich durch, tapfer, immer wieder von Neuem versuchend, ihre Meinung nicht nur zu verbreiten, sondern auch zu verteidigen. Gegenüber den Amerikanern, die eher skeptisch und gefühlt weitab vom Geschehen in Europa sind, ist das besonders schwierig. Erst mit Eintritt der Amerikaner in den Krieg ändert sich das etwas. Und Bruder Klaus meldet sich freiwillig zur Armee, steht zwar nicht an der Front, aber arbeitet in Propagandaabteilungen. Auch von Erika wird berichtet, dass sie in Uniform nach Europa kommt, leider wird hierzu wenig berichtet. Dass sie nach dem Ende des Krieges die Angeklagten des Nürnberger Prozesses „besichtigen“ kann, ist eine schaurige Seite ihrer Erlebnisse.
Das Buch geht gedanklich den Weg zurück vom Suizid des geliebten Bruders, der sich im Mai 1949 in Cannes ereignete, als Erika mit ihren Eltern in Schweden weilte. Erika Mann wird danach mit ihren Eltern Kalifornien verlassen, in die Schweiz ziehen und ihrem Vater bis zum Tod 1955 als Assistentin, Beraterin, Sekretärin und Vertraute zur Seite stehen. Über diese Zeit und die Jahre bis zu ihrem Tod erfährt man im Buch von Unda Hörner nichts mehr. Es endet um die Zeit ihres vierundvierzigsten Geburtstags mit den Worten „Wir treffen uns im Unendlichen, Klaus, eines Tages. Du weißt, wir reisen als Zwillinge.“
Im Anhang findet sich ein umfangreiches Literaturangebot, ein neueres Buch möchte ich noch zusätzlich empfehlen: Uwe Wittstocks Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. Dort finden sich einige der bei Unda Hörner genannten Literaten wieder, die mit viel Mühe und unter Lebensgefahr dem Zugriff der Nazis entkommen konnten. So auch Erika Manns Onkel Heinrich mit Frau Nelly, die Werfels und die Feuchtwangers. Aus meiner Sicht eine passende Ergänzung.
Was mir am Ende etwas gefehlt hat, waren Kurzbiografien der wichtigsten Personen (Familie, Freunde) aus diesem Buch, wie sich ihr Leben nach 1945 entwickelt hat, welchen Widerständen sie zum Beispiel in Deutschland – Ost und West – begegneten. Zumindest eine kurze Beschreibung der letzten Jahre von Erika Mann fände ich unerlässlich. Sicher, man kann das alles im Internet oder den Literaturen, die genannt werden, nachlesen, aber es hätte das Buch abgerundet.
Der Schreibstil hat mir gut gefallen, manchmal jedoch fand ich Formulierungen nicht ganz passend, gerade „geflügelte Worte“, die erst wesentlich später geprägt wurde, erschienen mir etwas aufgesetzt. Als Beispiele nenne ich die Banalität des Bösen, ein Begriff, der erst 1961 von Hannah Arendt geprägt wurde, oder auch die Verwandlung der Deutschen nach dem Krieg in lupenreine Demokraten.
Dass Erika Mann und auch Klaus Mann niemals ihre Heimat Deutschland wiedergefunden haben, steht sehr im Gegensatz zum Buchtitel. Die Heimat ist ihnen und auch den Eltern abhandengekommen, da halfen niemals Drogen, Alkohol und Exzesse.

Fazit: Man lernt Erika Mann und ihren Bruder gut kennen in diesem Buch. Und man versteht die unendliche Trauer und Traurigkeit, die Erika Mann nach dem Tod ihres Bruders empfand. Sie konnte ihn nicht beschützen, nicht vor der Welt und nicht vor sich selbst. Ich empfehle dieses Buch gern, wer sich für Literatur und Biografien und die Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, ist hier richtig.

SolangeeseineHeimatgibtErikaMann

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Schwarzer Humor

Zorn – Schwarze Tage
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Der Herbst letzten Jahres verstrich ohne den erhofften „Zorn“, entgegen meiner schlechten Gewohnheit habe ich die Nachbemerkungen des Autors zum Glück erst nach Beendigung des nunmehr 13. Thrillers um ...

Der Herbst letzten Jahres verstrich ohne den erhofften „Zorn“, entgegen meiner schlechten Gewohnheit habe ich die Nachbemerkungen des Autors zum Glück erst nach Beendigung des nunmehr 13. Thrillers um die „siamesischen“ Kommissare Zorn und Schröder aus Halle gelesen. Ich hätte mich wahrscheinlich furchtbar geärgert, denn die Spannung wäre definitiv dahin gewesen. Zumindest weiß ich nun im Nachhinein aber, was die Verlangsamung von Nummer dreizehn bewirkt hat. Und ich weiß, dass auch Lektoren nicht alle Schwächen eines Buches tilgen können, wenn der Autor jeden Punkt und jedes Komma liebt, und die Sätze dazwischen natürlich auch. Dann passiert nämlich das, was mich an diesem Buch erheblich gestört hat. Es wird manchmal langweilig. Die Rückblicke in die jordanische Wüste und die Clan- und Familiengeschichte des Medizinstudenten Tarek, der gleich zu Beginn des Thrillers die geliebte Frieda Brock, ihres Zeichens Lebensgefährtin von Kommissar Zorn, Freundin von Kommissar Schröder und gleichzeitig Staatsanwältin, unsanft ins Jenseits befördert, ist mehr als langatmig. Erst gegen Ende werden die Rückblicke kürzer und knackiger und beleben den Fortgang der haarsträubenden Story.
Das Personal im Thriller kennt ja jeder, der schon Zorn-Thriller gelesen hat, heuer hinzu kommt der Delikatessenladen des Herrn Henlein inklusive Hinweise auf den außer der Reihe erschienenen Krimi. Lustig. Also insgesamt nicht viel Neues im Buch, keiner der Charaktere hat sich in eine unerlaubte Richtung entwickelt, alles wird g
Nein, ich habe das Weiterschreiben und den Punkt nicht vergessen, was „g“ wird, zeigt sich dann am Ende. Insgesamt wieder einige unterhaltsame Lesestunden, aber leider keine fünf Sterne. Den fünften Stern hat die islamische Berieselung verhindert.
Wahrscheinlich sollte nun die Dreizehn auch das Ende der Zorn-Reihe werden, wenn da nicht doch noch eine Superidee in Stefan Ludwigs Kopf Einzug hält. Ich schau dann mal zum Herbst hin auf die Neuankündigungen des Verlages.
Fazit: Ich wünsche gute Unterhaltung. Zorn und Schröder sind ja ein eingespieltes Team, die werden Sie schon mit ihren Wortspielen erfreuen.

ZornSchwarzeTage

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Veröffentlicht am 10.03.2024

Wo gehöre ich hin?

Das Jahr ohne Sommer
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Vor zweieinhalb Jahren las ich „Wellenflug“, Constanze Neumanns Roman über ihre Vorfahrenfamilie, ein hinreißendes Buch, das ich verschlungen habe, das so einen wunderbaren Sog entwickelte, dass ich das ...

Vor zweieinhalb Jahren las ich „Wellenflug“, Constanze Neumanns Roman über ihre Vorfahrenfamilie, ein hinreißendes Buch, das ich verschlungen habe, das so einen wunderbaren Sog entwickelte, dass ich das bis heute nicht vergessen habe. Schon vor einem Jahr hatte die Autorin mit einem Journalisten der Berliner Morgenpost über ihr neues Buchprojekt gesprochen, das ihre eigene Geschichte erzählen würde. Als ich jetzt Vorankündigungen über „Das Jahr ohne Sommer“ von ihr las, war mir klar, dieses Buch möchte ich unbedingt lesen. Ich gebe zu, es hat mich bei weitem nicht so gefesselt, wie das erstgenannte, aber es hat mir gefallen und viele verblasste Erinnerungen an die DDR, an die Zeit des Kalten Krieges und an meine eigene Kindheit und Jugend wieder hervorgeholt.
Die Autorin berichtet über ihre Kindheit im ostdeutschen Leipzig, die missglückte Flucht der Eltern in den Westen, ihre Stationen in einem DDR-Kinderheim und bei ihrer geliebten Großmutter, bis sie endlich aus zu den bereits freigekauften Eltern, die eineinhalb Jahre im Gefängnis ausharren mussten, in den Westen ausreisen darf. Was ihr bevorsteht, ist ein schwieriger Eingewöhnungsprozess, die Eltern tun sich schwer und auch für das Kind Constanze ist Aachen am äußersten westlichen Rand der BRD eine Terra incognita. Nicht nur die Sprache und die Wesensart der Rheinländer ist vollkommen anders, als die Familie es bisher kannte, auch die Ansichten sind gewöhnungsbedürftig, um es vorsichtig auszudrücken. Der Vater ist ganz offensichtlich der Meinung, die seine wäre die einzig richtige. Die Mutter ist nach der Haft in Hohenstein gesundheitlich angeschlagen und wird ihr Geigenspiel das ganze Leben lang nie wieder so virtuos beherrschen, wie vor der Flucht. Ihre Krankheiten und Depressionen prägen einen Großteil von Constanzes Erinnerungen. Der andere Teil wird überlagert vom dominanten Vater, der sich die rigorose Erziehung seiner Tochter zur Aufgabe gemacht hat. Wer ihm widerspricht, hat schon verloren. Constanze zieht sich so weit sie es kann, zurück, lebt in ihrer eigenen Welt und stellt fest, dass Literatur und Geschichte wohl die einzigen Schulfächer sind, denen sie von Herzen zugeneigt ist. Hier finde ich meine „Schwester im Geiste“ wieder. Diesen Interessen kommen jedenfalls die Bücherpakete der Großmutter aus Leipzig jahrelang sehr entgegen.
Constanze beginnt trotzdem, sich in die Kreise der Schulkameraden einzufinden, sich mit der gerade angesagten Musik, mit Schminke und Kleidung in diese Kreise einzupassen. Anpassen wird sie sich wohl nie.
Von Zeit zu Zeit kann Constanze ihre Großmutter in Leipzig besuchen, aber immer weniger erinnert sie sich an die dort verbrachte frühe Kindheit. Nur durch die endlosen Gespräche zu Hause, die die Eltern mit Bekannten führen, wird sie immer wieder an alte Straßennamen oder Geschäfte erinnert. Wichtig ist ihr das bald nicht mehr. Gern erinnert sie sich aber an die Reisen in den „Ostblock“, um dort mit den Eltern die Großmutter zum Beispiel in der CSSR zu treffen. Immer ein aufregendes und spannendes, aber auch schönes Erlebnis. Auch richtiger Urlaub ist bald möglich, der Vater wird Beamter und endlich reicht auch dafür das Geld, besonders schön war es wohl in Spanien, auch wenn Constanze nicht einen einzigen Orangenbaum zu sehen bekam.
Welche Überraschungen und Veränderungen das Leben und die politische Entwicklung dann noch bereithalten, ist aus heutiger Sicht nicht schwer zu erahnen. Constanze Neumann beschreibt auch das mit bleibenden Bildern.
Mir hat es sehr gefallen, wie die Autorin die Zerrissenheit beschreibt, die in ihr von Kindheit an das Leben bestimmt. Dieses Nie-ganz-Dazugehören, die Fremdheit in der ersten Heimat Leipzig, die Fremdheit in Aachen, und dann insbesondere die Ablehnung als die Mauer gefallen ist. Der stille, manchmal auch ausgesprochene Vorwurf an ihre Eltern, wie sie es dem Kind haben zumuten können, so in Gefahr zu geraten. „Da hätten sie die paar Jahre auch noch warten können, jetzt kann jeder gehen, wohin er will.“ Solche Sätze sind wie Schläge ins Gesicht.
Mein Lieblingszitat fast am Ende des Buches, zeitlich nach der Wende, ist dann auch dieses: „Es war nun so, wie es hatte sein sollen, wie wir es uns immer gewünscht hatten, und doch war alles ganz anders und fremd und verwirrend, und so würde es lange bleiben.“
Constanze Neumann hat einen sehr angenehmen, unprätentiösen Stil, ich habe dieses Buch innerhalb weniger Tage ausgelesen, noch steckt es mir in der Seele und im Herzen. Besonders der Epilog hat meinen Atem stocken lassen.
Das gedruckte Buch hat einen schönen Schutzumschlag, das helle Blau des Himmels findet sich auf dem Einband wieder, würde ich es auf dem Verkaufstisch sehen, würde ich sicher sofort zugreifen. Aber ich habe auch eine Kritik anzumerken: Nachhaltige Buchproduktion ist sicher sehr wichtig, aber sie kann auch ins Gegenteil umschlagen. Der Druck auf einem sehr saugfähigen und leicht farbigen „Umwelt“-Papier ist nämlich nur dann gut lesbar, wenn ein hundertprozentig schwarzer Druck erfolgt. Mit den so gepriesenen umweltfreundlichen und nicht mineralölhaltigen Farben ist es leider nicht erreichbar, dass die Schrift tatsächlich gut lesbar und schwarz erscheint. Das vorliegende Buch mit dem wirklich wunderschönen Umschlag und auch dem farblich gut passenden Einband wirkt durch den schwachen, grauen Druck in seiner Gesamtheit nicht mehr so hochwertig, wie es sein sollte. Das Buch wird wegen der oben erwähnten Nachhaltigkeit nicht mehr in Folie geschweißt, bei mir kam es leider mit einem beschädigten Schutzumschlag an. Ich finde das sehr schade.
Fazit: Wer sich für eine Kindheit und Jugend zwischen zwei Welten und die daraus entstehenden Konflikte interessiert, ist bei diesem Buch genau richtig.

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