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Veröffentlicht am 09.01.2018

Justitia und die Fiktion von Gerechtigkeit

Die Vergessenen
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Die Journalistin Vera Mändler arbeitet als Redakteurin bei einer Frauenzeitschrift und würde liebend gern das Ressort wechseln. Als sie durch Zufall einer Geschichte auf die Spur kommt, bei der es um Euthanasie ...

Die Journalistin Vera Mändler arbeitet als Redakteurin bei einer Frauenzeitschrift und würde liebend gern das Ressort wechseln. Als sie durch Zufall einer Geschichte auf die Spur kommt, bei der es um Euthanasie im Dritten Reich geht, setzt sie alles auf eine Karte und kündigt trotz einer in Aussicht gestellten Beförderung ihren Job. Ihre Tante, die mit Schlaganfall im Krankenhaus liegt, war Krankenschwester in einer Einrichtung, in der während des 2. Weltkriegs Behinderte und für den Arbeitsmarkt wertlose Menschen „aus dem Volkskörper ausgeschieden“ wurden. Vera macht sich auf die Suche nach einem Dossier, mit dem die damals Verantwortlichen vor Gericht gebracht werden könnten und begibt sich dabei selbst in höchste Gefahr.
Manolis Lefteris ist ein Problemlöser, der für seine Arbeitgeber Kunden einschüchtert oder Schlimmeres. Er wird beauftragt, Vera zu beschatten und, falls sie die Unterlagen finden sollte, ihr diese abzunehmen. Er fragt nicht nach, wer ihn beauftragt hat, doch in diesem Fall verliert er die professionelle Distanz, handelt es sich doch um die Aufklärung von Verbrechen, die während der Nazizeit begangen wurden. Da die gesamte Familie seines Vaters einem von deutschen Soldaten in Griechenland begangenen Massaker zum Opfer fielen - der damals sechsjährige Vater war der einzige Überlebende und für den Rest seines Lebens schwer traumatisiert - geht es Manolis gegen den Strich, dass er einem Naziverbrecher dabei helfen soll, ungeschoren davonzukommen.
Die Geschichte ist sehr spannend erzählt, wobei jeweils zwei Handlungsstränge in der Vergangenheit und in der Gegenwart spielen. Die Autorin, die erstmalig unter dem Pseudonym Ellen Sandberg veröffentlicht, ist leicht zu erkennen, wird im Buch doch an einer Stelle auf „Kommissar Dühnfort“ Bezug genommen. Das 500 Seiten starke Buch fesselt von der ersten bis zur letzten Seite und, was ich besonders schätze, auch die Auflösung ist schlüssig. Für mich einer der besten Krimis seit langem!

Veröffentlicht am 23.11.2017

Schmetterlingseffekt

Drei Tage und ein Leben
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Nicht der Flügelschlag eines Schmetterlings löst hier eine Katastrophe aus, sondern ein Hund, der angefahren und anschließend anstatt von seinem Besitzer zum Tierarzt gebracht von diesem erschossen wird. ...

Nicht der Flügelschlag eines Schmetterlings löst hier eine Katastrophe aus, sondern ein Hund, der angefahren und anschließend anstatt von seinem Besitzer zum Tierarzt gebracht von diesem erschossen wird. Den 12jährigen Antoine stürzt dies in ein schreckliches Gefühlschaos, war der Hund doch sein treuer Begleiter und bester Freund. Außer sich vor Trauer schlägt Antoine um sich und erschlägt dabei den 4jährigen Nachbarsjungen Rémy mit einem Ast. Um seine Tat zu vertuschen, versteckt er die Leiche des Jungen. Eine großangelegte Suchaktion beginnt. Antoine ist sich sicher, dass er bald als Täter entlarvt wird und erleidet Höllenqualen. Er erwägt zu fliehen oder sich umzubringen.
Sturm Lothar, der im Dezember des Jahres 1999 über Westeuropa fegt, kommt ihm zu Hilfe, denn er verwüstet Antoine und Rémys Heimatort und verwischt Spuren. Der Mord ist auch Jahre später noch unaufgeklärt, doch die Angst vor der Entdeckung hängt wie ein Damoklesschwert über Antoines Leben.
Antoine hat mittlerweile Medizin studiert und eine Frau getroffen, die er heiraten möchte, da führt ihn das Schicksal zurück in seinen Heimatort und er erkennt, dass die Tat von damals sein Leben immer noch grundlegend beeinflusst...
Drei Tage und ein Leben ist ein außergewöhnliches Buch, wortgewaltig und intensiv. Von mir eine klare Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 27.10.2017

Hakan Nesser in Bestform

Der Fall Kallmann
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Nachdem seine Frau und seine Tochter bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen bzw. vermisst sind, hält Leon Berger nichts mehr in Stockholm. Eine ehemalige Kommilitonin, Ludmilla, die er zufällig wiedertrifft, ...

Nachdem seine Frau und seine Tochter bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen bzw. vermisst sind, hält Leon Berger nichts mehr in Stockholm. Eine ehemalige Kommilitonin, Ludmilla, die er zufällig wiedertrifft, erzählt ihm von einer freien Lehrerstelle an ihrer Schule in der Kleinstadt K. und Berger nutzt die Chance, bewirbt sich darauf und wird genommen.
Bald erfährt er, dass sein bei den Schülern äußerst beliebter Vorgänger an der Schule, Eugen Kallmann, unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist. Als Berger beim Ausräumen von Kallmanns Schreibtisch auf dessen Tagebücher stößt, ist sein Interesse geweckt und er beginnt, gemeinsam mit Ludmilla und einem weiteren Kollegen Kallmanns Leben und Tod unter die Lupe zu nehmen.
Vieles in den Tagebüchern erscheint ihnen wie Fiktion. Beispielsweise behauptet Kallmann, er könne erkennen, wenn ein Mensch ein Mörder ist, indem er ihm in die Augen blickt. Wo endet die Realität, wo beginnt die Fiktion? Sie stellen fest, dass keiner den Kollegen Kallmann wirklich gut gekannt hat, obwohl er mehr als 25 Jahre an der Schule tätig war.
Der Kriminalfall Kallmann, sofern es sich wirklich um einen solchen handelt, sowie weitere ungeklärte Verbrechen bilden das Gerüst dieses Romans, stehen jedoch nicht im Vordergrund. Liebhaber von möglichst grusligen und spektakulären Thrillern, in denen viel Blut fließt, werden an diesem Buch keine Freude haben. Die Personen und ihre Lebensumstände werden genau und äußerst humorvoll beschrieben. Obwohl das Buch fast 600 Seiten umfasst und manchmal nicht sonderlich viel passiert, sondern vielmehr die Gedanken und das Seelenleben der einzelnen Personen beleuchtet werden, hat mir das Lesen jeder einzelnen Seite Spaß gemacht. Nesser ist ein Schriftsteller, dessen Bücher von gleichbleibend hoher Qualität sind. Ich habe jedes seiner Bücher gelesen, dieses hat mir sprachlich besonders gut gefallen, was nicht zuletzt der hervorragenden Übersetzung von Paul Berf geschuldet ist. Ein großer Lesegenuss für alle Nesser-Fans!

Veröffentlicht am 03.10.2017

Gefahren der anderen Art

Der gefährlichste Ort der Welt
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Der gefährlichste Ort der Welt liegt nicht, wie man vielleicht annehmen sollte, in Kolumbien, Nigeria oder Syrien und die Gefahren, die dort lauern, sind weder Drogenkriege noch Heckenschützen oder Bomben. ...

Der gefährlichste Ort der Welt liegt nicht, wie man vielleicht annehmen sollte, in Kolumbien, Nigeria oder Syrien und die Gefahren, die dort lauern, sind weder Drogenkriege noch Heckenschützen oder Bomben. Der gefährlichste Ort der Welt liegt in der beschaulichen Bay Area nahe San Francisco, genauer gesagt, in Mill Valley, einem kleinen Ort am Fuße des Mount Tamalpais, an dem Ärzte, Börsenmakler und andere erfolgreiche Geschäftsleute mit ihren Familien leben. Und die Gefahren sind ganz anderer Art.
Zunächst einmal ist es in Mill Valley gefährlich, anders zu sein als die anderen. Dies erfährt der Achtklässler Tristan Bloch am eigenen Leib. Tristan ist nicht dumm, er ist einfach anders als die coolen Kids in seiner Klasse, die ihm das Leben zur Hölle machen, nachdem er einer Mitschülerin einen Liebesbrief schreibt. Calista, das Mädchen seiner Träume, beteiligt sich zwar nicht direkt an dem Mobbing, doch sie liefert ihn dem Spott der anderen aus und kommt ihm nicht zu Hilfe, was fatale Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben wird.
In jedem Kapitel des Buchs lernen wir die einzelnen Mitschüler und Peiniger Tristans kennen und erfahren, in welchem Umfeld sie aufwachsen. Die meisten kennen keine finanziellen Probleme, doch sie werden emotional vernachlässigt. Calistas Freundin Abigail beispielsweise bekommt ihre Eltern kaum zu Gesicht, denn sie leben berufsbedingt „nach New Yorker Zeit“. Dann gibt es noch die Eltern, die viel zu hohe Ansprüche an ihre Kinder haben und nicht erkennen, dass ihr Kind einfach nicht das Genie ist, das sie gerne hätten.
Wilde Partys, die aus dem Ruder laufen, und Drogen sind an der Tagesordnung und die rich kids, die eigentlich alle Chancen hatten, etwas aus ihrem Leben zu machen, geraten immer tiefer in den Sog der Selbstzerstörung.
Was zunächst wie ein Teenie-Roman beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Psychodrama, das einen nicht mehr loslässt. Ein Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte.

Veröffentlicht am 02.10.2017

Wenn der Körper streikt

Manchmal musst du einfach leben
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Maribeth ist 44, Mutter von 4-jährigen Zwillingen, berufstätig und mit einem Mann verheiratet, der sie kaum entlastet. Als sie einen Herzinfarkt erleidet, macht sie daher zunächst einmal weiter wie bisher, ...

Maribeth ist 44, Mutter von 4-jährigen Zwillingen, berufstätig und mit einem Mann verheiratet, der sie kaum entlastet. Als sie einen Herzinfarkt erleidet, macht sie daher zunächst einmal weiter wie bisher, in der Hoffnung, es könnte sich um vorübergehende Symptome handeln. Schließlich ist sie unersetzlich. Denn wer soll die Kinder aus dem Kindergarten abholen, sich ums Abendessen kümmern und die tausend anderen Dinge erledigen, die ihren Alltag ausmachen, wenn nicht sie? Doch es hilft alles nichts, sie muss am offenen Herzen operiert werden.
Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus wünscht sie sich nichts mehr, als sich erholen zu können, doch alle in ihrer Umgebung sind der Meinung, sie sollte sich zwar noch schonen, aber im Grunde doch dort weitermachen, wo sie aufgehört hat, niemand erkennt, wie schlecht es ihr wirklich geht. So kocht sie, bringt die Kinder ins Bett und holt bei strömendem Regen Medikamente aus der Apotheke, weil ihre Mutter, die eigentlich gekommen ist, um ihr zu helfen, Angst hat, sich zu erkälten...
Nur die Krankenschwester Luca versteht ihre Lage und rät ihr, mehr an sich selbst zu denken. Und so fasst Maribeth einen radikalen Entschluss: sie packt eine Tasche und verlässt ihr altes Leben. Sie zieht nach Pittsburgh, wo sie unter ihrem Mädchennamen ein kleines Apartment mietet, nur in bar zahlt, damit sie nicht gefunden werden kann und sich ganz darauf konzentriert, wieder gesund zu werden. Sie lernt neue Leute kennen, bleibt aber auf Distanz. Sie denkt über ihr bisheriges Leben nach, über Dinge und Menschen, die ihr wichtig sind, und wagt es, Nachforschungen über ihre leibliche Mutter anzustellen.
Normalerweise werden Mütter, die ihre Kinder einfach verlassen, von der Gesellschaft verurteilt und als Rabenmütter bezeichnet. Für jemanden, der die Hintergründe nicht kennt, ist Maribeth mit Sicherheit der Inbegriff einer Rabenmutter. Doch da man als Leser alles aus Maribeths Blickwinkel erlebt, wird klar, dass sie aus Selbsterhaltung so handelt. Sie braucht diese Auszeit, um nicht unterzugehen.
Es ist zwar schwer vorstellbar, wie jemand von heute auf morgen einfach seine Familie verlassen kann, aber ich habe viel Empathie mit Maribeth empfunden und das Buch an einem Tag verschlungen.