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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.08.2018

Hochatmosphärischer, spannender Thriller, der einen frösteln lässt

Ins Dunkel
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Fünf ganz unterschiedliche Frauen in verschiedenen beruflichen Positionen machen von ihrer Firma aus eine Wanderung durchs Giralang-Massiv, einen undurchdringlichen Dschungel, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Fünf ganz unterschiedliche Frauen in verschiedenen beruflichen Positionen machen von ihrer Firma aus eine Wanderung durchs Giralang-Massiv, einen undurchdringlichen Dschungel, um das „Teambuilding“ zu fördern. Sie werden nur mit einer Karte, einem Kompass, Zelten und Nahrung ausgestattet, Handys haben im Wald ohnehin keinen Empfang. Der Pfad, den sie gehen sollen, gilt als sicher und einfach. Nach einigen Tagen kommen jedoch nur vier Frauen zurück, sie tauchen an einem vollkommen anderen Punkt auf als geplant, alle von ihnen verletzt und erschöpft. Was ist im Wald geschehen? Und wo ist Alice, die vorhatte, mit der Polizei zusammenzuarbeiten und die kriminellen Machenschaften der Firma aufzudecken?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #2 der Reihe um Aaron Falk
Verlag: ROWOHLT Taschenbuch
Seitenzahl: 416
Erzählweise: Figuraler Erzähler, teilweise ins Auktoriale gehend, Präteritum
Perspektive: aus männlicher Perspektive (Falk, Ermittler) & verschiedenen weiblichen Perspektiven (die Frauen)
Kapitellänge: mittel bis sehr kurz (nur eine Seite)
Tiere im Buch: + Es wird erwähnt, dass die Hauptfigur früher mit ihrem Vater angelte, jedoch werden konkret in der Geschichte keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.

Warum dieses Buch?

Dieses Mal war es das Cover, das mich sofort überzeugt hat. Ich liebe das glänzende Bild des Dschungels. Aber auch den Klappentext und die Rezensionen auf englischsprachigen Buchseiten fand ich vielversprechend. Die Tatsache, dass sich Reese Witherspoon die Filmrechte des ersten Bandes der Reihe gesichert hat, machte das Buch noch interessanter für mich. Eigentlich führte an „Ins Dunkel“ also kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Das ist eigentlich der einzige Kritikpunkt, den ich habe. Der Einstieg gelang mir nämlich nicht so leicht. Es dauerte einige Seiten, bis mich die Geschichte wirklich gepackt hatte und bis ich mittendrin war. Sobald ich allerdings die Figuren auseinanderhalten konnte und mich an den detaillierten Schreibstil gewöhnt hatte, wollte ich unbedingt weiterlesen.

„[…] alle Köpfe fuhren herum, als vier Gestalten auf der Hügelkuppe erschienen. Zwei stützten eine dritte, während die vierte neben ihr her taumelte. Aus der Entfernung wirkte das Blut auf ihrer Stirn ganz schwarz. […] ‚Ist Alice hier? Ist sie in Sicherheit? Hat sie es geschafft?‘“ Seite 9

Schreibstil (♥)

Jane Harper hat einen unheimlich angenehmen Schreibstil, den man sehr schätzt, sobald man sich an ihre eher detaillierten (aber nie ausufernden) Beschreibungen der Umgebung gewöhnt hat. Die Autorin schreibt einfach und sehr flüssig, unterhält die Leserinnen mit angemessener Komplexität und Tiefe. Auf mich wirkte die Sprache, die frei von Wiederholungen oder holprigen Stellen ist, sehr routiniert und gekonnt. Jane Harper ist eine wirklich gute Geschichtenerzählerin, der man gerne ins dunkle Giralang-Massiv nach Australien folgt. Besonders toll fand ich auch, wie nuanciert Gefühle und Mimik und Gestik der Figuren beschrieben werden. So werden einzelne Stimmungsumschwünge und auch die Spannungen in der Gruppe beim Lesen intensiv spürbar.

„Er war das zweite Mal auf diesem Pfad unterwegs, aber er erkannte nichts wieder. Die Landschaft schien sich zu verschieben und zu verändern, wenn sie unbeobachtet war.“ Seite 184

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Jane Harper hat eine sehr geschickte Erzählweise gewählt: Abwechselnd erfahren wir in der Gegenwart, wie die polizeilichen Ermittlungen, die Befragungen und die Suche nach Alice laufen, und in der Vergangenheit, was tatsächlich in diesem dunklen Wald geschehen ist, als sich die fünf Frauen bei ihrer „Teambuilding“-Wanderung verirrten und die Nerven verloren. Falls nun jemand fürchtet, dass eine der Handlungen langweilig ist oder dass wir Alice und Co seitenlang und ohne interessante Vorkommnisse durch den Dschungel irren sehen – dann kann ich euch beruhigen. Der Autorin gelingt es, bei beiden Erzählsträngen die Spannung hochzuhalten. Ständig passieren bedeutende Kleinigkeiten, Katastrophen oder Durchbrüche, und auch wenn der Fokus oft auf der Gruppendynamik, den gruppeninternen Spannungen und den Geheimnissen liegt, die jede der Frauen zu verbergen hat, war ich vollkommen gefesselt und konnte das Buch kaum beiseitelegen.

„Ins Dunkel“ ist ein frischer, unterhaltsamer, routiniert geschriebener Thriller, der sich nicht an Klischees bedient, sondern neue Wege sucht. Niemals weiß man, wie es weitergeht, das Miträtseln und Vermuten macht richtig Spaß. Die Autorin behandelt Themen wie Schuld, Freundschaft, Angst, Verzweiflung, Sucht, Familie und alte Wunden sehr gekonnt und tiefgründig. Die schwierige Situation in der Wildnis und das langsame Eskalieren der Lage werden anschaulich und eindrucksvoll beschrieben. Immer wieder gibt es auch dramatische oder tragische Passagen, die dazu führen, dass einem die Figuren leidtun. Genau so muss ein guter Thriller sein! Das Ende ist erfrischend unspektakulär, aber: Die Autorin inszeniert auch kleinere Geschehnisse so, dass man den Atem anhält, weil man sich fast nicht weiterzulesen traut. Übrigens ist es problemlos möglich, den zweiten Band vor dem ersten zu lesen, da es nur sehr wenige Anspielungen auf die Vorgeschichte gibt.

Protagonisten & Figuren (♥)

Jane Harper hat in ihrer Geschichte komplexe Figuren geschaffen, die oft in den Graubereichen zwischen gut und schlecht, sympathisch und unsympathisch leben. Vor allem die fünf Frauen wurden sehr liebevoll gezeichnet und die vielen verschiedenen Perspektiven (etwas, das ich eigentlich nicht so gern mag) waren nötig und sinnvoll, um herauszufinden, was in ihnen vor sich geht. Man lernt Lauren, Jill, Bree, Beth und Alice auf den knapp vierhundert Seiten immer besser kennen und beginnt langsam, sie zu verstehen. Immer wieder kommt es hier zu überraschenden Enthüllungen, die ich so niemals erwartet hätte. Ihre Entwicklungen sind glaubwürdig.

Auch Aaron Falk mochte ich als Ermittler. Er ist zwar ruhig, recht wortkarg und gibt nur wenig von sich preis, aber man merkt, dass er ein gutes Herz hat. Auch er war gut ausgearbeitet. Etwas blass fand ich seine Partnerin Carmen, die ich bis zum Schluss nicht richtig einschätzen und greifen konnte. Hier hätte ich mir noch etwas mehr Charakterarbeit gewünscht. Aber bei einem so großen Ensemble wichtiger Figuren und bei den ebenfalls gut ausgearbeiteten Nebenfiguren kann ich das leicht verzeihen.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Eines steht fest: Ich habe noch nie erlebt, dass eine Autorin einen Handlungsschauplatz derart gut nutzt. Der Dschungel mit seinen undurchdringlichen Bäumen, seiner Kälte, seinen Gefahren und seiner grausigen Vorgeschichte bildet nicht nur einen kleinen Aspekt im Handlungsrahmen, sondern wird fast selbst zu einer wichtigen Figur im Buch, einem Monster, das stets bedrohlich im Hintergrund lungert und leise atmet. Die Autorin verwebt die Geschichte so eng mit dem Setting, das eines ohne das andere unvorstellbar erscheint. Dabei gelingt es der Autorin, so atmosphärisch dicht zu schreiben, dass man immer wieder – und auch bei 30 Grad Außentemperatur – fröstelt und es einem vorkommt, als wäre man selbst dort. Man spürt die Kälte in den Knochen, die Feuchtigkeit im Gesicht, den Wind im Haar. Toll!

Dieses Buch bietet mit Sicherheit nicht Action und spritzendes Blut auf jeder Seite, jedoch überzeugt die Autorin mit einer viel feineren atmosphärischen und psychologischen Spannung, die sie immer weiter steigert. Dabei helfen ihr sowohl ihr wunderbar genutztes Setting als auch die geschickt platzierten Cliffhanger, manche unerwartete Wendung, unheilvolle Vorausdeutungen und das Tempo, das durch immer kürzer werdende Kapitel bis zum Ende immer weiter erhöht wird. Es gibt glückliche, unheimliche, traurige und wütend machende Momente in „Ins Dunkel“, und die Autorin stellt auch immer wieder die wilde, ungezähmte Schönheit der Natur in den Mittelpunkt. Dennoch: Über allen Geschehnissen liegt stets eine unheilvolle Drohung, die man niemals ausblenden kann und die immer wieder zu Gänsehaut-Momenten führt.

„‘Da draußen sollte man nicht allzu lange herumirren. Das Schlimmste ist die Panik. Nach ein paar Tagen sieht allmählich alles gleich aus, und du traust deinen eigenen Augen nicht mehr.‘ Er schielte nach draußen. ‚Das macht die Leute verrückt.‘“ Seite 28

Geschlechterrollen (+)

Jane Harper präsentiert uns in ihrem Buch eine breite Bandbreite verschiedener Frauen und Männer, die sehr gut die Realität abbilden. Jede Frau ist charakterlich und körperlich vollkommen unterschiedlich, niemals ist eine Frau bloß hübscher Schmuck. Die Frauen im Buch sind großteils stark und selbstbewusst, viele haben machtvolle Positionen im Unternehmen und arbeiten hart für ihre Karriere. Jedoch gibt es leider auch einen Vorfall von Slutshaming (noch dazu von einer Frau und Mutter), ansonsten wird mit einem schwierigen Vorfall sehr vernünftig umgegangen. Zusätzlich fällt auch mehrmals das Wort „Miststück“, das aber niemals das Liebesleben der Frauen beschreiben soll, sondern als Beleidigung für unsoziales Verhalten benutzt wird. Dennoch hätte ich mir, die Fotos betreffend, etwas mehr Sensibilität der Autorin für das Thema „Geschlechterstereotypen“ gewünscht. Einmal wird sich gewundert, dass ein Mann kochen kann (eine mehr als altmodische Aussage, da heute jeder kochen können sollte) – bei einer Frau hätte es wieder jeder selbstverständlich angenommen. Insgesamt bin ich mit dieser Geschichte jedoch auch, was den Genderaspekt betrifft, sehr zufrieden.

Mein Fazit

„Ins Dunkel“ von Jane Harper ist ein Thriller, der diese Genrezuordnung verdient und der mich vollkommen überzeugen konnte. Obwohl mir der Einstieg etwas schwerfiel und obwohl bei einer Nebenfigur noch etwas mehr Charakterarbeit nötig gewesen wäre, punktet das Buch in allen anderen Bereichen. Der Schreibstil ist sehr angenehm, anschaulich und routiniert, die Hauptfiguren sind komplex und liebevoll gezeichnet, und die Geschichte ist wendungsreich und wird sehr geschickt erzählt. Jane Harper bietet nicht Action auf jeder Seite, sondern eine viel feinere, hochatmosphärische und psychologische Spannung, die sie bis zum Schluss steigern kann. Dabei gelingt es der Autorin, das Setting, diesen undurchdringlichen Dschungel, perfekt zu nutzen. Über allem liegt stets eine unheilvolle Drohung – der Wald wirkt wie ein Monster, das stets versteckt im Hintergrund lungert und leise atmet. So kommt es vor, dass man oft vergisst, dass man eigentlich nur ein Buch liest und dass Hochsommer ist. Und plötzlich – bei 30 Grad Außentemperatur – fröstelt man.

Der erste Band ist schon bestellt, auch auf die Verfilmung des ersten Buches und etwaige Folgebände freue ich mich schon sehr!

Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung! Besonders Menschen, die psychologische Spannung und einen toll genutzten, unheimlichen Schauplatz lieben, werden mit diesem Buch große Freude haben!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 3,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonisten: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +
Tiefgründig!

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien und trotzdem ein Herz

Dieses Buch bekommt von mir 4,5 Lilien, die aufgerundet werden, und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus und eine uneingeschränkte Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 13.08.2018

Spannungsarmer, verstörender Endzeitroman, der mich insgesamt leider enttäuscht hat

Anna
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Spoilerfreie Rezension

Inhalt

In der Welt der 13-jährigen Anna und ihres Bruders Astor gibt es keine Erwachsenen. Eine aggressive Seuche hat vor vier Jahren alle Menschen ab der Pubertät ausgelöscht ...

Spoilerfreie Rezension

Inhalt

In der Welt der 13-jährigen Anna und ihres Bruders Astor gibt es keine Erwachsenen. Eine aggressive Seuche hat vor vier Jahren alle Menschen ab der Pubertät ausgelöscht – und sie wütet noch immer. Auf Sizilien herrscht Anarchie, die Kinder sind auf sich gestellt, Krankheit und Tod stehen an der Tagesordnung. Die Heldin tut alles in ihrer Macht Stehende, um ihren Bruder zu beschützen und auf die Zukunft vorzubereiten, denn Anna weiß, dass auch ihre Zeit bald gekommen ist. Oder stimmen etwa die Gerüchte, dass es irgendwo noch „Große“ gibt, die ein Heilmittel gefunden haben?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eisele
Seitenzahl: 336
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus weiblicher Perspektive, selten auch aus männlicher
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: -! Dieses Buch ist für empathische Menschen und Tierliebhaber nur sehr schwer zu ertragen – mehr dazu im Abschnitt „Inhalt“.

Warum dieses Buch?

Für dystopische Geschichten bin ich immer zu haben, denn die Themen, die in Endzeitwerken typischerweise besprochen werden, finde ich sehr interessant. Zudem hat mich das enthusiastische Lob verlockt, das das Buch, welches in Italien monatelang auf der Bestsellerliste stand und von der Financial Times zu einem der besten Bücher des Jahres gewählt wurde, bereits erhalten hatte.

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Den Prolog fand ich sehr atmosphärisch beschrieben, er hat mich sofort neugierig gemacht. Die ersten Seiten des ersten Kapitels jedoch fand ich dann jedoch zäh, auch wegen der Gewalt gegen Tiere. Die Geschichte kommt nur sehr langsam in Schwung und ich habe lange gebraucht, bis ich wirklich in der Geschichte angekommen war.

„Sie kämpften, doch irgendwann kapierten ausnahmslos alle, dass es vorbei war, als hätte der Tod persönlich es ihnen ins Ohr geflüstert.“ E-Book, Position 759

Schreibstil (+/-)

Das lag zu einem großen Teil wohl auch am Schreibstil. Niccolò Ammaniti präsentiert den LeserInnen oft lange Rückblenden, erzählt die Vergangenheit seiner Figuren oft in einem detaillierten „ab ovo“-Stil. Man erfährt Dinge, die weit in der Vergangenheit liegen, wie das Kennenlernen der Eltern und die Herkunftsgeschichte des Hundes. Immer wieder haben mich diese Rückblenden aus dem Lesefluss gerissen, in den ich ohnehin das ganze Buch über nur schwer hineinfand. Das lag mit Sicherheit auch daran, dass das Buch nur sehr wenige Dialoge enthält und sich meist auf lange Alltags- und Umgebungsbeschreibungen und Annas einsame Wanderungen zur Essenbeschaffung konzentriert.

Dem Schreibstil an sich stehe ich sehr zwiegespalten gegenüber. Einerseits ist er in seinen glänzenden Momenten anschaulich, angenehm, flüssig, emotional und sogar poetisch zu lesen, andererseits zeichnet er sich auch immer wieder durch wenig Tempo und Emotion und eine irgendwie schwer zu beschreibende Sperrigkeit/Holprigkeit aus, die es mir schwer gemacht hat, mitzufiebern und schnell voranzukommen. Obwohl keine schwierigen Worte verwendet wurden und die Sprache an sich nicht wirklich anspruchsvoll ist (einmal davon abgesehen, dass meiner Meinung mehr italienische Begriffe übersetzt oder erklärt werden hätten müssen, da man damit als Nichtsprecherin der Sprache nur wenig anfangen kann und Google bemühen muss), musste ich häufig ganze Absätze erneut lesen, weil ich immer wieder gedanklich ausgestiegen bin und mich nicht konzentrieren konnte.

„So viel Zeit war vergangen, doch wenn Anna daran dachte, war ihre Sehnsucht so stark, dass es ihr vorkam, als fiele sie in ein Loch und käme nicht wieder hinaus.“ E-Book, Position 605

„Anna konnte die Gedanken schier sehen, die dem Pechvogel mit dem Mantel durch den Kopf gingen. Schnurgerade einer nach dem anderen, wie die Waggons eines langsamen, ratternden Zugs.“ E-Book, Position 1606

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Dem Guardian kann ich leider nicht zustimmen, wenn er über dieses Buch schreibt: „Ammaniti setzt neue Maßstäbe in post-apokalyptischer Literatur.“ Im Gegenteil, ich hatte eher das Gefühl, dass es sich hier um eine Geschichte handelt, die wie ein Puzzle aus vielen (mir schon) bekannten Endzeitaspekten zusammengesetzt wurde. Innovativ fand ich den Plot also nicht, da typische Themen wie Essensbeschaffung, Einsamkeit, Überleben und moralische Aspekte im Mittelpunkt stehen. Jedoch bringt der Autor durchaus auch einige eigene, interessante Ideen ein, beschreibt eindrucksvoll den moralischen Verfall in einer Welt ohne Erwachsene und Regeln, in der der Stärkere siegt. Dennoch gibt es auch Hoffnungsschimmer am Horizont, wie etwa Momente der Lebensfreude, das Aufblitzen von Hoffnung, wenn etwas Schwieriges geschafft wurde, und Szenen voller Empathie, Liebe und Freundschaft. Das Ende fand ich, wenn auch etwas traurig (obwohl ich es schon erwartet hatte), sehr gelungen. Trotz der jungen Protagonistin handelt es sich hier für mich übrigens eindeutig um kein Jugendbuch.

In seinen Schilderungen beschönigt der Autor nichts, egal ob es um die Beschreibungen der Zustände in den Häusern oder der Leichen geht. In diesem in drei Teile geteilten Buch wird wie im echten Leben ohne pompöse Heldenmomente still und leise gestorben, und Ammaniti hält wie ein grausamer Kameramann immer ganz genau drauf, wenn es richtig hässlich wird. Aus diesem Grund ist das Buch eine schwer zu verdauende Lektüre. Mancher Moment brennt sich ins Gedächtnis und liegt einem noch Stunden oder Tage schwer im Magen, weil man immer noch damit hadert. Für diese Leistung ist der Autor ohne Frage zu loben, denn das schafft nicht jede/r. Besonders schwer zu ertragen fand ich die ausufernde Gewalt gegen Tiere, die Tierquälereien und das Töten. Oft handelt es sich um Verteidigungskämpfe gegen wilde Tiere oder es wird für Nahrung getötet. Dennoch waren diese Beschreibungen für mich unerträglich. Besonders wütend gemacht hat mich der leicht humorvolle Ton bei der Beschreibung davon, wie ein Kampfhund auf grausame Weise „ausgebildet“ wird. Dieses Thema ist meiner Meinung nach überhaupt nicht witzig, und am liebsten hätte ich alleine aufgrund des Tier(schutz)aspektes das Buch mehrmals abgebrochen. Der Autor hat es meiner Meinung nach einfach übertrieben mit seiner Darstellung vom tierischen Leid.

„Ihr Leben war dasselbe wie das einer Kakerlake, die nicht anders kann, als sich auf zwei Beinen weiterzuschleppen, wenn jemand auf sie tritt. Dasselbe, das eine Schlange dazu veranlasst, unter den Schlägen einer Hacke davonzukriechen, ihre Eingeweide hinter sich herziehend. […] Wir müssen weitermachen, ohne zurückzublicken, weil wir die Energie, die uns durchdringt, nicht beherrschen können, und selbst verzweifelt, verstümmelt und blind ernähren wir uns weiter, schlafen und schwimmen gegen den Strudel an, der uns nach unten zieht.“ E-Book, Position 1935

Figuren (+/-)

Vielleicht lag es auch am stellenweise nüchternen Schreibstil, der mir stellenweise zu wenig vom Gefühlsleben und der Gedankenwelt der Figuren preisgibt, aber es gelang mir über weite Teile des Buches nicht, wirklich eine Verbindung zu den Figuren aufzubauen. Sie blieben weit von mir entfernt, die Distanz zu ihnen konnte erst im letzten Fünftel ein wenig überbrückt werden. Prinzipiell mochte ich Anna aber, die sich stets bemüht, ihren Bruder zu beschützen, und die gleichzeitig mit typisch pubertären Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüchen zu kämpfen hat. Mir hat gefallen, dass die Heldin des Buches, Anna, eine Figur mit Fehlern, Ecken und Kanten ist.

Wenn man so wenige Gefühle für die Figuren entwickelt, dass sie einem eigentlich egal sind, ist es natürlich schwer, ihrer Geschichte voller Interesse zu folgen und mitzufiebern. Obwohl es durchaus gute Ansätze und starke Momente gibt und obwohl der Autor sich bemüht, seinen Figuren eigene Persönlichkeiten zu geben, so hat die Figurenzeichnung bei mir nicht so funktioniert, wie sich das Niccolò Ammaniti wahrscheinlich gewünscht hätte. Meine Lieblingsfigur – und die einzige, für die ich wirklich durchgehend gehofft und gebangt habe – war interessanterweise Coccolone (wer das genau ist, möchte ich hier nicht verraten, um nicht zu spoilern). Bin ich da eigentlich die Einzige, oder ist es noch jemandem so ergangen?

„Sie war mit ihrem Bruder aufgewachsen, wie ein Baum um einen Stacheldraht wächst, die beiden waren miteinander verschmolzen und eins.“ E-Book, Position 2248

Spannung & Atmosphäre (-)

Es gab durchaus atmosphärische Momente, in denen Endzeitstimmung und eine sehr unheilvolle Stimmung aufkamen, jedoch zeichnete sich das Buch für mich hauptsächlich durch seinen ausgeprägten Spannungsmangel aus. Ich habe mich wirklich über weite Teile durch die Seiten gequält und überlegt, ob ich das Buch abbrechen soll. Bis etwa zum letzten Fünftel kam ich wirklich nur sehr langsam und zäh voran. Der dünne Plot ist mit Sicherheit auch daran schuld. Manchmal schien es mir eher, als wolle der Autor den Alltag von Anna und Astor beschreiben, anstatt eine richtige Geschichte mit Handlung, Anfang und Ende zu erzählen. Dennoch gibt es zwischendurch auch unerwartete Wendungen und sehr spannende, geradezu nervenzerreißende Momente, in denen man ängstlich weiterliest – vor allem weil man schnell merkt, dass der Autor keinerlei Hemmungen hat, auch liebevoll erschaffene Figuren gnadenlos zu töten. Im Nachhinein bereue ich es jedoch auch nicht, durchgehalten zu haben (es ist eines dieser Bücher, die einem im Nachhinein besser gefallen als während des Lesens).

Geschlechterrollen (+/-)

Anna ist eine sehr selbstbewusste junge Frau, die sich nichts gefallen lässt. Sie kämpft wie eine Löwin für Astors und ihr Leben, ist mutig und stark. Manche Szenen fand ich etwas unglaubwürdig und seltsam, besonders in Bezug darauf, dass die Geschichte von einem Mann geschrieben wurde. Da dachte ich mir dann: Das würde doch im echten Leben nicht passieren. Traurig fand ich auch den sexuellen Übergriff, auch wenn ich denke, dass dies in einer derart gefährlichen Welt durchaus passieren kann. Gestört hat mich, dass Anna, als eine andere Person zur Gruppe stößt, sofort das Saubermachen und Kochen übernimmt, vermutlich einfach, weil sie eine Frau ist. Hier hätte ich mir ein stärkeres Hinterfragen von stereotypen Rollenmustern gewünscht, vor allem, da diese in Annas Welt so ja eigentlich nicht mehr existieren. Auch in einzelnen Rückblenden sind Geschlechterstereotypen vorhanden, eine Verwendung des Wortes Schla*** gibt es auch. Insgesamt sind diese Dinge aber großteils zu verschmerzen, weil der Autor eine so starke weibliche Figur ins Zentrum seiner Geschichte gesetzt hat.

Mein Fazit

„Anna“ ist ein schwer zu verdauender Endzeitroman, von dem ich mir aufgrund des Lobes viel erwartet habe, der mich aber leider insgesamt enttäuscht hat. Die Geschichte behandelt die üblichen Themen wie Essenbeschaffung, Moral und Überleben und bietet nur wenig Neues. Auch wenn „Anna“ durchaus seine poetischen, emotionalen, tristen, nervenzerreißenden und spannenden Momente hat, wurde ich sowohl mit dem sperrigen Schreibstil, der nichts beschönigt und uns Annas Welt in ihrer ganzen Grausamkeit zeigt, als auch mit den Figuren leider nur schwer oder gar nicht warm. Sehr gestört haben mich zudem die ausufernde Gewalt gegen Tiere und der Mangel an Spannung, was beides dazu führte, dass ich mehrmals überlegt habe, das Buch abzubrechen. Im Nachhinein bereue ich jedoch nicht, durchgehalten zu haben, auch wenn mir so manche Szene noch länger schwer im Magen liegen wird. Dafür gibt es an dieser Stelle noch ein Lob, denn das schafft bei mir (einer schon relativ abgehärteten Walking-Dead-Liebhaberin) nicht jede/r Autor/in.

Ob ich noch etwas vom Autor lesen werde, ist noch nicht entschieden.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 3,5 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 2,5 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀

Dieses Buch bekommt von mir 3 insgesamt leider enttäuschte Lilien!

Veröffentlicht am 07.08.2018

Eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
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Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Finn hinterlässt seinen beiden Nichten June und Greta ein liebevoll gemaltes Portrait, als er viel zu früh durch eine rätselhafte Krankheit aus dem Leben ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Finn hinterlässt seinen beiden Nichten June und Greta ein liebevoll gemaltes Portrait, als er viel zu früh durch eine rätselhafte Krankheit aus dem Leben gerissen wird. Junes Patenonkel und bester Freund, der ein angesehener Künstler war, wird von June schmerzlich vermisst, schien er doch der einzige Mensch in ihrem Leben zu sein, der sie verstand. Auf der Beerdigung ihres Onkels sieht das 15-jährige Mädchen zum ersten Mal Toby, Finns „speziellen Freund“. Angeblich hat er ihren Onkel mit der Krankheit angesteckt, ist also sein Mörder. Eines Tages erhält das Mädchen einen unerwarteten Brief: Toby will sie treffen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eisele
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (June)
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: ♥ Es werden keine Tiere gequält, verletzt oder getötet. Im Gegenteil, eines wird sogar gerettet.

Warum dieses Buch?

Von selbst hätte ich vermutlich nicht einmal zum Buch gegriffen, so manche begeisterte Rezension hat mich dann aber doch überzeugt, es zu wagen – eine der besten Leseentscheidungen, die ich je getroffen habe!

Meine Meinung

Einstieg (+)

„Meine Schwester Greta und ich saßen an diesem Nachmittag Modell für ein Gemälde, das mein Onkel Finn von uns anfertigte, weil er wusste, dass er bald sterben würde.“ E-Book, Position 24

Dieser ruhige und doch traurige Satz bereitet einen eigentlich schon darauf vor, was für ein emotionales Buch einen hier erwartet. Dennoch fiel mir der Einstieg nicht sofort leicht, bereits nach einigen Seiten jedoch befand ich mich schon mitten im Geschehen und wollte unbedingt weiterlesen.

Schreibstil (♥)

Carol Rifka Brunt ist eine großartige Geschichtenerzählerin: Mit ihrem anschaulichen, ruhigen, angenehmen Schreibstil, der in genau richtigem Maße komplex ist, zaubert sie einem gleichzeitig Tränen in die Augen und ein Lächeln ins Gesicht. Ich wäre ihr überallhin gefolgt. Mit ihren emotionalen, eindringlichen, immer wieder auch poetischen und weisen Worten schrieb die Autorin sich zielsicher direkt in mein Herz und sorgte dafür, dass ich so tief in die Geschichte eintauchte, dass ich nach der Lektüre nur schwer wieder an die Oberfläche zurückfand.

„Ich starrte angestrengt nach draußen und versuchte, ein Muster zu erkennen. Dachte, wenn ich mich richtig bemühen würde, würden sich die Einzelteile der Welt wieder zu etwas zusammenfügen, das ich verstehen konnte.“ E-Book, Position 2391

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Warum lesen wir? Warum hören wir auch nicht damit auf, wenn wir das dritte zähe, langatmige Buch hintereinander beendet haben? Ganz einfach: Weil wir immerzu, zielstrebig und ausdauernd nach der Suche nach diesem einen Buch sind – nach diesem einen, das uns vollkommen mitreißt, uns auseinandernimmt und dann neu zusammen setzt. Nach diesem Buch, das seine Spuren in unserem Herzen hinterlässt und bei dem wir uns fühlen, als würden wir endlich heimkommen. „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ war dieses Buch für mich.

Ich habe mich schleichend mit jeder Seite mehr in diese Geschichte verliebt, konnte im Alltag an kaum etwas anderes denken, weil meine Gedanken und mein Herz sich vollkommen darin verfangen hatten. Nach dem Lesen blieb ich erstmal sprachlos zurück, war ein einziger Ball aus den verschiedensten Emotionen: Traurigkeit, Glück, Begeisterung, Wehmut, dass die Geschichte vorbei ist. Das Buch wurde vom Wall Street Journal, vom Oprah Magazine, von Booklist und Kirkus Reviews zum besten Buch des Jahres gewählt und von vielen Kritikern gefeiert – kein Wunder! Dennoch hätte dieses Buch noch viel mehr Aufmerksamkeit verdient, sollte eigentlich wochenlang auf der Bestsellerliste ganz oben stehen, denn dieses Buch sollte jeder, der kein Herz aus Stein hat, gelesen haben.

In ihrer berührenden Coming-of-Age-Geschichte, die irgendwo zwischen Jugendbuch und Erwachsenenroman anzusiedeln ist, behandelt Carol Rifka Brunt schwierige Themen wie Aids, Trauer, Freundschaft, Vorurteile, Eifersucht, Emanzipation von der Familie, Alkohol- und Zigarettenmissbrauch, Selbstfindung, Erwachsenwerden, Schuld, Wahrheit, Geheimnisse und Liebe sensibel, tiefgreifend und mit viel Feingefühl. Besonders interessant waren nicht nur das Setting in den 80er-Jahren, sondern auch die Einstellung gegenüber Aids, die damals so stark von Unwissen und Vorurteilen geprägt war. Niemand wusste, woher diese Krankheit, die eng mit dem Thema Homosexualität verknüpft wurde, übertragen wurde. Die verschiedenen Facetten der Trauer und ihre schwierige Verarbeitung (inklusive unerwarteter Weinkrämpfe) werden von der Autorin unheimlich authentisch und berührend beschrieben. Wer schon einmal einen Menschen verloren hat, der ihm sehr nahestand, wird Junes Gefühle nur allzu gut wiedererkennen.

Wer übrigens Angst hat, dass das Thema Kunst einen zu großen Teil im Buch einnimmt, den kann ich beruhigen: Das Portrait und Finn sind ein wichtiger Aspekt im Buch, aber sicher nicht der wichtigste. Dieses Thema ist nur eines von vielen, und es wird gelungen eingewebt. Viel steckt bei diesem Buch, das voller einzigartiger Metaphern und Symbole ist, zwischen den Zeilen, wird nur angedeutet. Carol Rifka Brunt ermutigt die LeserInnen, sich voll und ganz auf dieses tiefgründige Buch einzulassen und einen genaueren Blick zu riskieren.

„Ich blieb einfach sitzen und gestattete dieser Bestie aus Traurigkeit, sich über meine Schultern zu legen, und wartete darauf, dass sie mir ins Ohr flüsterte, warum sie da war. Und genau das tat sie. Sie kroch ganz nah heran und flüsterte es mir ins Ohr.“ E-Book, Position 2696

Protagonistin (♥)

Ich habe June als Protagonistin wirklich von der ersten Seite an geliebt. Ihre Zuneigung ihrem Onkel gegenüber wird so ehrlich und zart beschrieben, spiegelt so gut die Hoffnungen und Ängste einer 15-Jährigen wider, dass man nicht anders kann, als von dieser liebevoll gezeichneten Figur beeindruckt zu sein. June ist mir sofort ans Herz gewachsen, denn ich mochte so vieles an ihr: ihre treffenden Beobachtungen menschlicher Verhaltensweisen, ihre tiefgründigen, interessanten Gedanken, die Tatsache, dass sie sich für ihre kleinen Verrücktheiten nicht schämt, ihre offene Einstellung und ihren Mut, ihrem Herzen zu folgen und für ihre Überzeugungen einzustehen. Ständig will man diese ruhige, intelligente Person von ihren Mitschülerinnen und ihrer oft sehr gemeinen Schwester beschützen. Sehr gelungen fand ich, wie die Autorin diese Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenwerden eingefangen hat: Stellenweise wirkt June kindlich, fast naiv, dann wieder sehr reif. Carol Rifka Brunt hat hier eine wundervolle, einzigartige, Figur mit Fehlern geschaffen, die für mich unvergesslich ist! (Sie hat mich übrigens sehr an Suzy aus „Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren“ von Ali Benjamin erinnert - wenn euch also „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ gefallen hat, kann ich euch auch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen.)

„Ich weiß alles über die Liebe, die zu groß ist, um in einem winzigen Gefäß verschlossen zu bleiben. Die überläuft und überall herausschwappt […] “ E-Book, Position 4420

Figuren (♥)

Doch auch die anderen Figuren hat die Autorin bis in die Nebencharaktere liebevoll ausgearbeitet, mit Stärken, Schwächen, Sorgen und Träumen versehen. Sie entwickeln sich glaubwürdig und ihre oft sehr komplizierten Beziehungen zueinander, die nicht selten voller Spannungen sind, werden gekonnt beschrieben. Vor allem Toby, der mit der Trauer um seinen Lebensgefährten sehr zu kämpfen hat, fand ich wundervoll. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen, ich wollte ihn eigentlich die ganze Zeit nur beschützen. Einziger Verbesserungsvorschlag: Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass die Figuren einfach einmal offen miteinander reden, so vieles wäre dadurch leichter geworden. Auch manche Aspekte hätten noch etwas klarer ausformuliert werden können.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Kennt ihr das, wenn euch ein Buch so sehr gefällt, dass ihr es eigentlich genießen und ganz langsam lesen wollt? Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr euch trotzdem nicht davon losreißen könnt und es gierig und maßlos verschlingt? So ist es mir mit diesem Buch ergangen, der Drang weiterzulesen (und der Wunsch nach einem Happy End) war so stark, dass ich nicht dagegen ankämpfen konnte. Dieses Buch ist eine Gefühlsachterbahn, erweckt große, nuancierte Emotionen, bricht uns ständig das Herz und tröstet uns im selben Moment. Taschentücher bereithalten!

„Die Sonne war mit ihrem Verschwinden beschäftigt, und ich dachte darüber nach, wie viele kleine Dinge in der Welt möglicherweise auf den Schultern von etwas Schrecklichem ruhten.“ E-Book, Position 3706

Humor (♥)

Nicht einmal hier könnte ich das Buch kritisieren, zwischendurch hat es mich nämlich durchaus zum Schmunzeln gebracht, beispielsweise wenn wieder ein Brief vom „Verein junger Falkner“ ins Haus flatterte.

Geschlechterrollen (+/-)

Sowohl Greta als auch June sind selbstbewusste Mädchen, und auch ihre Mutter arbeitet hart und gleichberechtigt mit ihrem Vater in Vollzeit, was bestimmt fortschrittlich ist für die damalige Zeit. Jedoch findet sich auch stets nur die Mutter in der Küche und kocht, der Vater scheint sich am Haushalt gar nicht zu beteiligen.

Mein Fazit

Bücher wie „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ sind der Grund, warum ich lese. Diese wundervolle, emotionale Coming-of-Age-Geschichte hat mich tief berührt und verdient tausend Mal mehr Aufmerksamkeit, als es erhält. Jeder, der kein Herz aus Stein hat, sollte dieses einmalige Debüt gelesen haben. Mit ihrem ruhigen, eindringlichen Schreibstil, ihrer einzigartigen, liebenswerten Protagonisten, ihren liebevoll gezeichneten Nebenfiguren und ihrer feinfühlen, sensiblen Darstellung von schwierigen Themen wie Trauer, Erwachsenwerden und Freundschaft hat sich Carol Rifka Brunt ohne Umwege in mein Herz geschrieben. „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ ist für mich ein absolutes Jahreshightlight und eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe!

Dieses Buch würde ich mir auch noch als Print in meinem Regal wünschen (werde mir diesen Wunsch vermutlich bald erfüllen), und ich werde es in der nächsten Zeit mit Sicherheit exzessiv zu Geburtstagen verschenken. ;) Betrachtet das nächste Werk von Carol Rifka Brunt als gekauft, denn ich habe eine neue Lieblingsautorin für mich entdeckt.

Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung! Ich kann euch dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen: Lasst euch darauf ein, lasst euch das Herz brechen, lasst euch trösten und (ganz wichtig): Haltet Taschentücher bereit!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne ♥
Einstieg: 4,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 4,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥

Dieses Buch bekommt von mir 5 absolut verzauberte Lilien und natürlich auch ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 03.08.2018

Ganz nett, mit Schwächen

Der Alphabetmörder (Ein Grall-und-Wyler-Thriller 1)
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

In einem Gehege im Tierpark wird eine verstümmelte Leiche gefunden. In ihre Haut wurde ein A tätowiert. Schon bald taucht eine zweite Leiche auf, sie trägt den Buchstaben ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

In einem Gehege im Tierpark wird eine verstümmelte Leiche gefunden. In ihre Haut wurde ein A tätowiert. Schon bald taucht eine zweite Leiche auf, sie trägt den Buchstaben B auf der Haut. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich um einen Serienmörder handelt, der auf kranke Weise das Alphabet vollenden will. Jan und seine Kollegin Rabea sind Profiler und werden als Berater angefordert. Für Jan, der seine schmerzhafte Vergangenheit im Westerwald vor Jahren hinter sich gelassen hat, ist die Rückkehr besonders schwierig. Die Ermittlungen geraten bald zum Wettlauf mit der Zeit. Und auf einmal werden die Morde persönlich, denn der Alphabetmörder hat schon sein letztes Opfer, das Z, ausgewählt: Jan…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 einer Reihe
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 384
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus verschiedenen männlichen und weiblichen Perspektiven
Kapitellänge: eher kurz
Tiere im Buch: - Ein hilfloses Tierbaby wird ermordet und vermutlich davor noch gequält, weil der Mörder daran das Töten „geübt“ hat. Es gibt eine Erwähnung, dass sich jemand EINE Katze hält, daher auch hier wieder mein Hinweis: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten. Einen riesigen Pluspunkt gibt es zudem dafür, dass der Profiler vegan lebt!

Warum dieses Buch?

Als Thrillerfan bin ich immer auf der Suche nach neuem Lesestoff und wenn ein junger, vielversprechender deutscher Autor ein umjubeltes Debüt veröffentlicht, macht mich das natürlich neugierig. Aber auch der Klappentext klang spannend. An dieser Stelle ein großes Lob an den Verlag fürs geheimnisvolle, zurückhaltende Cover – das zieht mit Sicherheit im Buchhandel alle Blicke auf sich!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Den Einstieg fand ich sehr gelungen. Durch das kurze Kapitel aus der Sicht des Opfers und durch den gruseligen, brutalen Fund im Wildpark wird die Neugier sofort geschürt. Ich habe sehr leicht in die Geschichte gefunden und wollte sofort wissen, wie es weitergeht.

„In jedem Menschen steckt eine Bestie, dachte Jan. Es kam nur darauf an, ob sie geweckt wurde.“ E-Book, Position 520

Schreibstil (+/-)

Dem Schreibstil stehe ich zwiegespalten gegenüber. Einerseits ist er einfach und unauffällig, enthält treffende Vergleiche und lässt sich schnell lesen (Pageturner!), anderseits fand ich ihn besonders im ersten Viertel des Buches stellenweise holprig. Teilweise haben mich stilistische Formulierungen (zum Beispiel werden manchmal englische Redewendungen verwendet, die es im Deutschen aber nicht gibt wie „Hat sie jemanden gesehen?“ (von engl. „to see someone“ = daten)) und inhaltliche Wiederholungen gestört. Man merkt (vor allem am Buchbeginn) auch an den manchmal konstruiert und unnatürlich wirkenden Dialogen, dass es sich um ein Debüt handelt (das hat sich aber später verbessert). Auch waren mir die Beschreibungen stellenweise nicht detailliert und anschaulich genug. Hier hätte ich mir mehr Details gewünscht, damit das Kopfkino leichter anspringt.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Der Autor hat sich in seinem Buch einen interessanten Plot ausgedacht, der sowohl vorhersehbare als auch vollkommen unerwartete Wendungen beinhaltet und der definitiv gut unterhält. Um einige Stunden lang der drückenden Sommerhitze zu entgehen (so mancher Gänsehautmoment und das Setting mitten im Winter schaffen hier Abhilfe), eignet sich die kurzweilige Lektüre mit Sicherheit, aber wer einen genauen Einblick in den Alltag von Profilern haben möchte und einen Thriller mit Tiefe sucht, der wird mit diesem Buch nicht glücklich werden. Obwohl ich hier viele gute Ideen und viel Potenzial erkennen konnte, bleibt die Behandlung der durchaus ernsten Themen wie Verlust, Schuld, menschliche Abgründe und schwierige Vergangenheit leider häufig oberflächlich.

Die gelegentlichen Logikfehler im Verhalten mancher Figuren und im Plot kann ich großteils verzeihen (außer wenn sich mal wieder jemand vollkommen unvernünftig in große Gefahr begibt, denn das ist einfach nur dumm und ich bin es nach dem Lesen vieler Thriller langsam leid!). Das Ende, die Auflösung, hätte ich zwar niemals erraten, allerdings fand ich das Tatmotiv nicht gut genug ausgebaut und erklärt, es wirkte auf mich etwas konstruiert.

Protagonisten (+/-)

Man merkt, dass sich der Autor bei seinen Protagonisten Mühe gegeben hat. Sie haben Stärken und authentische Schwächen, machen Fehler. Auch die Vergangenheit wirkt immer noch auf sie ein. Besonders gefallen hat mir, dass Jan, der Chef-Profiler, nicht hart und cool sein muss, sondern dass er - im Gegenteil - ein sehr sensibler Mann mit gutem Herzen ist und sogar vegan lebt. Jene Menschen, die sich bewusst zu dieser Lebensweise entschieden haben und damit nicht nur unzähligen Tieren das Leben retten, sondern auch unserer Umwelt etwas Gutes tun, werden leider oft immer noch belächelt. Woher kommen dieser Hass und dieser Drang, Witze über Veganer zu machen? Ist es das eigene schlechte Gewissen, das an einem nagt? Darüber sollten einige Menschen vielleicht einmal nachdenken.

Obwohl es hier also viele gute Ansätze gibt und obwohl ich mit Rabea und Jan durchaus mitfühlen konnte, ist es mir dennoch über weite Strecken nicht gelungen, eine enge Verbindung zu den Hauptfiguren aufzubauen. Besonders Rabea erschien mir blass und austauschbar, in wenigen Wochen werde ich sie vermutlich vergessen haben. Das ist sehr schade.

„‘Das habe ich dir immer gesagt: Niemals in eine Idee verlieben. Du musst sie genauso schnell töten können, wie du sie erschaffen hast.‘“ E-Book, Position 1941

Nebenfiguren (+)

Die Nebenfiguren waren erstaunlich gut ausgearbeitet. Hier gibt es kaum Klischees, einige Figuren haben mich richtig begeistert und manches Mal konnte mich das Fallen einer Maske vollkommen überraschen. Körpersprache und Mimik werden zudem stets sehr gut beschrieben, das hat mir ebenfalls sehr gefallen.

Spannung & Atmosphäre (+)

Hier liegt meiner Meinung nach die größte Stärke des Buches. Durch die kurzen Kapitel, den einfachen Schreibstil und die atemlose, unheilvolle Spannung, die der Autor von Anfang an aufbaut (weil man für das Opfer hofft und bangt), fliegt man nur so durch die Seiten. Lars Schütz liefert gute Unterhaltung und einige gruselige Gänsehaut-Momente.

Geschlechterrollen (♥)

Hier erhält der Autor einen riesigen Pluspunkt: In dieser Geschichte gibt es keine Geschlechterstereotypen - im Gegenteil, eine breite Bandbreite von Frauen wird gezeigt und immer wieder wird mit Rollenklischees radikal gebrochen. Es gibt viele Frauen in Führungspositionen (Gerichtsmedizinerin, Leiterin der SOKO, Profilerin, Reporterin), die ihren Job sehr gut machen. Frauen dürfen zudem, auch was ihr Liebesleben betrifft, selbstbewusst und selbstbestimmt sein (ohne je von einem Mann dafür verurteilt zu werden – juhu, endlich!), sind gute Fußball- und Basketballspielerinnen und werden für ihren Fahrstil gelobt. Männer dürfen stark UND sensibel sein (und durchaus mal weinen), Frauen zeigen sich zeitweise hart und einschüchternd. Der Autor ist ohne Frage für das Thema Gleichberechtigung sensibilisiert und sich auch der Vorbildfunktion von Medien bewusst. Dafür ein großes Lob!

Mein Fazit

„Der Alphabetmörder“ ist ein spannender Thriller, der durch seinen einfachen Schreibstil und die atemlose, unheilvolle Spannung schnell zum Pageturner wird. Der Autor überzeugt mit einem unterhaltsamen Plot, mit gut ausgearbeiteten Nebenfiguren, mit unerwarteten Wendungen und mit einem modernen Frauen- und Männerbild, das mit Klischees und Rollenstereotypen bricht. Leider weist der Thriller auch einige Schwächen auf: Der Schreibstil war für mich teilweise holprig zu lesen, die Dialoge wirken stellenweise etwas konstruiert, viele Aspekte werden nur oberflächlich behandelt und die Hauptfiguren bleiben, obwohl sich der Autor Mühe gegeben hat, austauschbar. Sie konnten mich leider nicht wirklich erreichen. Insgesamt hat Lars Schütz aber ein kurzweiliges Debüt geschrieben, das sich durch so manchen Gänsehaut-Moment und durch das winterliche Setting perfekt als kühlende Sommerlektüre eignet!

Ob ich den zweiten Band lesen werde, ist noch nicht klar und wird wahrscheinlich vom Klappentext abhängen.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 3 Sterne
Protagonisten: 3 Sterne
Nebenfiguren: 4 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4,5 Sterne
Ende: 3,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Geschlechterrollen: ♥ (Modernes Frauen- und Männerbild, frei von Stereotypen – toll!)

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3,5 Lilien!

Veröffentlicht am 28.07.2018

4,5 Sterne: Wundervolles, einzigartiges, berührendes Jugendbuch

Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Suzy kann es nicht glauben: Ihre ehemals beste Freundin soll ertrunken sein? Obwohl sie eine der besten Schwimmerinnen war, die sie kannte? Nein, so etwas kann doch ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Suzy kann es nicht glauben: Ihre ehemals beste Freundin soll ertrunken sein? Obwohl sie eine der besten Schwimmerinnen war, die sie kannte? Nein, so etwas kann doch nicht einfach so passieren! Wo ist der Sinn dahinter, das Muster? Suzy setzt es sich zum Ziel, herauszufinden, woran Franny wirklich gestorben ist. Und sie hat auch schon eine Vermutung: Die Irukandij, die gefährlichste Qualle der Welt, muss es gewesen sein…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Hanser
Seitenzahl: 240
Altersempfehlung: 12-15 Jahre
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens und Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Suzy)
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz (teilweise nur eine Seite)
Tiere im Buch: +/- Es wird ein Frosch gequält und getötet, jedoch wird dies von der Hauptfigur aufs Schärfste verurteilt. Auch tierquälerische Tierversuche werden erwähnt und kritisiert. Außerdem werden immer noch in Schulklassen Tiere seziert. Dieses ganz und gar sinnlose Töten muss endlich aufhören! In einem Film, den ich einmal gesehen habe, war die Freundin schockiert, als sie sah, wie ihr Freund, ein Wissenschaftler, forschte. Sie nannte sein Tun „Tierquälerei“, er korrigierte sie unangenehm berührt mit dem Satz: „Ich forsche!“ Was er nicht verstanden hat, Suzy aber schon, ist, dass beides dasselbe ist. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, wenn die Mittel dazu führen, dass ein Lebewesen leiden muss. An dieser Stelle wieder mein Verweis – für alle Menschen, denen Tierversuche ein Dorn im Auge sind – zum Verein „Ärzte gegen Tierversuche“, der teilweise schon recht erfolgreich gegen Tierversuche (die aus verschiedenen Gründen sinnlos sind) und für tierversuchsfreie Forschungsalternativen kämpft.

Warum dieses Buch?

Dieses Buch klang gleich von Anfang an so vielversprechend: Es hat ein traumhaftes Cover, lockt mit einer emotionalen Geschichte und Lobreden auf der Rückseite und wird von Reese Witherspoon Produktionsfirma verfilmt werden (das verspricht auf jeden Fall starke, weibliche Figuren). Für mich führte an diesem Buch daher kein Weg vorbei!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Bevor das Buch überhaupt beginnt, verzaubert die Autorin schon mit ihrer ermutigenden Widmung. „Für alle Neugierigen überall“, schreibt sie. Dann geht es auch direkt los, und zwar mit einem beinahe magischen Besuch in einem Unterwassermuseum, der die ganze Geschichte in Gang setzt. Bereits der Prolog ist derart rührend und intensiv geschrieben, dass man beim Lesen zugleich begeistert und traurig ist. Ich befand mich sofort mitten in der Geschichte und fand Suzys Erzählstimme sehr sympathisch und mitreißend.

„Und die ganze Zeit über schlägt dein Herz. Es tut, was es tun muss, es vollbringt einen Schlag nach dem anderen, bis sein Auftrag erledigt ist und es innehält. Das mag bereits in ein paar Minuten der Fall sein, und du weißt es noch nicht einmal.
Denn manche Herzen schlagen nur ungefähr 412 Millionen Mal.
Das hört sich viel an. Aber tatsächlich reicht es nur gerade so aus, um zwölf Jahre alt zu werden." Seite 8

Schreibstil (♥)

Der Schreibstil ist ein Traum. Er ist angemessen komplex, flüssig und sehr angenehm (auch für Jugendliche) zu lesen, gleichzeitig aber unglaublich intensiv, eindringlich und emotional. Mich hat er von der ersten Seite an gleich erreicht und berührt. Es gibt viele wunderschöne Zitate, die ich mir markiert habe. Die Sprache enthält teilweise gezielte Wiederholungen und ebenso interessante, treffende Beobachtungen menschlicher Verhaltensweisen. Richtig begeistert hat mich jedoch, wie viele interessante, erstaunliche Informationen über Quallen und generelle die Naturwissenschaften die Autorin eingebaut hat. Jugendliche (und auch Erwachsene) können hier so viel dazulernen, die Faszination für die Natur um uns herum wird ganz nebenbei geweckt! Googeln lohnt sich hier übrigens oft: Schaut euch zum Beispiel mal Bildern von der Atolla Qualle an – ihr werdet es nicht bereuen!

„Lange Sonnenstrahlen drangen durchs Fenster herein wie Geister, die durch Wände gehen. Sie legten sich auf den Teppich und hielten still.“ Seite 17

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Abwechselnd folgen wir Suzy in der Gegenwart, in der sie verzweifelt versucht, mit dem Tod ihrer ehemals besten Freundin zurechtzukommen, und in der Vergangenheit. Die Rückblenden (in denen der Schreibstil kindlicher wird) lassen die LeserInnen einen nostalgischen Blick auf die Kindheit der Hauptfigur werfen und begreifen, wie nahe sich Suzy und Franny lange Zeit waren. Obwohl ich eigentlich kein Fan von Rückblenden bin (da sie schnell ausufern), fand ich die Struktur sehr organisch, fließend und angenehm.

Die Autorin hat ihre tolle Idee wunderbar umgesetzt: Sie verbindet das schwierige Leben der Hauptfigur geschickt mit wissenschaftlichen Informationen und dem im Naturwissenschaftsunterricht geforderten Laborbericht. Hier erkannte ich eine Parallele zu einem meiner absoluten Lieblingsjugendbücher, „So wüst und schön sah ich noch keinen Tag“ von Elizabeth LaBan. Oft steckt ganz viel zwischen den Zeilen und Suzys Nachforschungen lassen Rückschlüsse auf ihre Psyche ziehen. Es ist ein Buch der leisen Töne und großen Emotionen (manchmal musste ich echt schlucken), angenehm zurückhaltend, und es wird trotz eher wenig Handlung niemals langweilig. Die Autorin hat die im Buch prominenten Themen wie Trauer(verarbeitung), Schule, Mobbing, Anderssein, Erwachsenwerden, Freundschaft, Veränderungen und Einsamkeit tiefgehend und gelungen behandelt, jedoch fand ich, dass die ersten 60 Seiten die stärksten waren. Besonders in der zweiten Hälfte hatte ich das Gefühl, dass mir manche Dinge zu schnell zu einem Ende geführt und zu wenig ausgebaut wurden. Hier hätten meiner Meinung nach dem Buch noch einige Seiten mehr gutgetan, um alle Aspekte so auszugestalten, wie sie es verdient hätten. Zum Ende: Ich fand es sehr plausibel und hoffnungsvoll, aber das Kind in mir war ziemlich enttäuscht.

Wer allerdings auf beruhigende Antworten, erleuchtende Wahrheiten oder Tipps hofft, wie man mit dem Leben und Sterben generell umgehen kann, der wird leider enttäuscht werden. Weswegen ich mir durchaus vorstellen könnte, dass das Buch so manchen Teenager auf der Suche nach dem Sinn des Lebens in eine kleine Krise stürzen könnte (auch wenn das Buch durchaus nicht deprimierend ist).

Protagonistin (♥)

Suzy ist eine starke, komplexe aber stille Protagonistin. Sie hat ein sehr gutes Herz, macht interessante Beobachtungen, aber auch schwerwiegende Fehler und ist sehr intelligent. „Leider“ (finden zumindest ihre Kolleginnen) macht sich Suzy nichts aus Mode, Make-up und oberflächlichem Small-Talk, daher wird sie von ihren MitschülerInnen ausgeschlossen und auch immer wieder gemobbt. Sie beginnt, sich in den Tod von Franny und das Finden ihrer Todesursache hineinzusteigern und versucht verzweifelt einen Sinn und ein Muster zu erkennen in den schrecklichen Dingen, die immer wieder auf der Welt geschehen. Diese Suche nach der Wahrheit wurde sehr intensiv und emotional beschrieben, so dass manche bestimmt Taschentücher benötigen werden, wenn das Mitleid mit Suzy zu groß wird. Mich hat die Protagonistin so stark an June von „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ von Carol Rifka Brunt erinnert, dass die beiden beim Lesen für mich fast zu einer Person verschmolzen sind. Also hier mein Tipp: Lest UNBEDINGT beide Bücher, aber lieber nicht parallel oder direkt hintereinander!

„Das heißt, es hat eine Zeit gegeben, in der du schon nicht mehr bei uns warst und niemand auf der Welt wusste davon. Nur du ganz allein. Du bist im Wasser verschwunden, und keiner hat es bemerkt.
Was für ein unglaublich einsamer Moment muss das gewesen sein.“ Seite 20

Figuren (+)

Die Nebenfiguren spielen eigentlich nur eine kleine Rolle (hauptsächlich geht es um Suzys Gefühls- und Gedankenwelt und Beobachtungen), dennoch hat sich die Autorin auch hier Mühe gegeben, sie gut auszuarbeiten. Die meisten sind auch sehr gelungen, aber manches Mal hätte ich hier und da noch ein bisschen mehr über einzelne Figuren erfahren.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Obwohl das Buch nicht wirklich viel Handlung hat, wird es niemals langweilig. Ich wollte immer wissen, wie es mit Suzy und ihrem Plan weitergeht und konnte voll und ganz ins Buch abtauchen. Es gibt in der Geschichte sowohl ernste und traurige als auch glückliche und fröhliche Momente, und es fällt leicht, mit Suzy mitzufühlen. Die kurzen Kapitel sorgen dafür, dass man schnell durch die Geschichte fliegt und verschaffen einem gleichzeitig Pausen zum Durchschnaufen nach emotionalen Abschnitten.

Geschlechterrollen (♥)

Auch hier gibt es nichts auszusetzen: Mit Suzy hat die Autorin eine starke, liebenswürdige Protagonistin mit einem großen Herzen geschaffen, die Rollenstereotypen bricht, und nichts auf gesellschaftliche Erwartungen gibt. Die Eltern von Suzy sind geschieden, ihre Mutter arbeitet, viele Nebenfiguren sind weiblich und haben wichtige Berufe (Psychologin, Wissenschafterin, Lehrerin). Besonders gefallen hat mir auch der normale, offene Umgang mit Suzys Bruder, der schwul ist. Hier wird den Jugendlichen gezeigt, wie es sein soll. Hoffentlich führt das zu mehr Toleranz.

Mein Fazit

„Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren“ ist ein Jugendbuch der leisen Töne und großen Emotionen, das trotz wenig Handlung niemals langweilig wird. Vielmehr taucht man vollkommen ab in Suzys Innenwelt und ihre Versuche, mit dem Verlust ihrer ehemals besten Freundin umzugehen. Der Schreibstil ist angenehm komplex, flüssig und leicht verständlich, dabei aber auch sehr eindringlich und berührend. Ein richtiges Highlight sind die vielen interessanten Informationen über Quallen und die Natur, die Autorin geschickt einwebt. Suzys Faszination springt hierbei sehr schnell auf die LeserInnen über. Die Figuren sind liebevoll ausgearbeitet und die behandelten Themen wie Erwachsenwerden, Trauer, Verlust, Anderssein und Einsamkeit werden angemessen behandelt. Dennoch hätte ich mir vor allem in der letzten Hälfte des Buches gewünscht, dass die Autorin noch etwas mehr in die Tiefe geht und sich mehr Zeit lässt, um die Geschichte zu einem Ende zu führen. Aber auch so hat sich Ali Benjamin mit ihrer Geschichte um Dinge, die einfach passieren, in mein Herz geschrieben und sich zu einer meiner neuen LieblingsjugendbuchautorInnen gemausert.

Die Verfilmung ist für mich ein Muss! Ich freue mich schon sehr darauf!

Leseempfehlung: Uneingeschränkte Leseempfehlung (besonders für Jugendliche)!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 4,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne (was für ein erstes Kapitel!) ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Nebenfiguren: 4 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 4 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: + (Vorbildwirkung für Mädchen!)

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien und trotzdem ein ♥ dazu und somit den Lieblingsbuchstatus!

Dieses Buch bekommt von mir 4,5 begeisterte Lilien!