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Veröffentlicht am 20.09.2016

Die Schatten der Vergangenheit

Die unsterbliche Familie Salz
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Die unsterbliche Familie Salz erzählt die Geschichte ebendieser entlang hangelnd an der Geschichte Deutschlands von 1914 bis 2015. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Motiv der Schatten durch die ...

Die unsterbliche Familie Salz erzählt die Geschichte ebendieser entlang hangelnd an der Geschichte Deutschlands von 1914 bis 2015. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Motiv der Schatten durch die gesamte Handlung: die spätere Matriarchin der Familie, Großmutter Lola, lernt als neunjährige mit ihrem Schatten zu kommunizieren, dem sie einen Namen gibt und so den abwesenden Vater erträgt, die Krankheit der Mutter – Schattenlose fürchtet sie besonders als Männer, nach den schrecklichen Erlebnissen mit ihrer Schwester im Zweiten Weltkrieg, als sie schon erwachsen ist. Schatten erzählen ihr die Wahrheit und ohne Schatten stirbt man – ihre Ängste gibt sie nach den Schrecken der Kriegsjahre weiter an ihre Kinder, besonders an die Tochter. Und während der Schatten einerseits als Schutz wirkt, lasten doch gleichzeitig die Schatten der Vergangenheit, der eigenen und der der Vorfahren, schwer auf dem Personal des Romans. „Sie alle handelten bloß getrieben von der Furcht, allein zu sein“ S. 373

Was mich zunehmend beeindruckte an dieser Familiengeschichte, die im Wechsel aus der Sicht verschiedener Familienmitglieder geschrieben ist, ist, dass die verschiedene Sicht auch einhergeht mit einem verschiedenen Stil: so berichtet zum Beispiel Lola, die Großmutter, als Ich-Erzählerin im direkten Dialog mit dem Leser aus ihrer Kindheit bis Jugend. Auch der spätere Ehemann Alfons berichtet als Ich-Erzähler, weiß jedoch gleichzeitig alles, was seiner Frau Lola und den beiden Kindern, Kurt und Aveline „Ava“ widerfährt – die Darstellung ist unterteilt durch Ortsangaben und kurze zusammenfassende Überschriften zum Inhalt im Stil von „Wo xy passierte“, eher in Form eines persönlichen Berichts. Auf mich wirkten die Kapitel unterschiedlich bindend als Leser: Während ich dem Plauderstil der alten Frau aus ihrem Krankenbett gern folgte und auch das Gefühl hatte, gut in die Zeit hinein versetzt zu werden, fremdelte ich eher mit Alfons‘ Kapitel: zu sehr sprangen mir die Erlebnisse gerade der ersten Jahre im Zweiten Weltkrieg, wirkten auf mich wie eine bloße Aufzählung: Bombenalarm, Schließung der Theater – weiter, Einberufung, Flucht vor den Bomben, Notquartier – weiter. Die vorher aufgebaute Beziehung zu den Personen ging mir fast verloren, kam erst zum Ende des Kapitels wieder und mit dem folgenden aus der Sicht von Tochter Avelina – diesmal als Du-Erzähler (ein Ich-Erzähler, der sich selbst duzt). Das Buch schließt (nun, fast…) gar mit einem Kapitel, das als Word-Dokument gelten soll.

Die Erzählung läuft weitgehend chronologisch, bis auf das erste kurze Kapitel aus der Sicht von Emma Salz, der Enkelin, das 2015 angesiedelt ist, und die Geschichte einleitet sowie mit dem (vor-)letzten Kapitel eine Art Klammer um die Kapitel bildet. Dazu gibt es teils eine Art Vorgriff, wenn die jeweilige Perspektive auf eine zukünftige Konsequenz oder Handlung vorgreift – das geschieht weniger im Sinne eines übergeordneten allwissenden Erzählers, vielmehr wird weitestgehend der Eindruck heraufbeschworen, der jeweiligen Hauptperson des Kapitels beim Erzählen zuzuhören. Selten habe ich einen dergestalt meisterlichen Umgang schon allein mit der Form gelesen – der Inhalt steht dem mitnichten nach. Was wirklich geschehen ist, darf sich der Leser gelegentlich über die Seiten hin zusammenreimen – wenn es denn so eine einfache klare Wirklichkeit gibt, geben kann.

Autor Christopher Kloeble schafft es, die vielen Personen der verschiedenen Generationen der Familie Salz so einzuführen, dass ich sie mühelos ein- und zuordnen kann, da er ihnen jeweils einzeln Zeit und Raum lässt. Sie alle, begonnen mit der Matriarchin Lola, haben diesen bereits erwähnten besonderen Bezug zu den Schatten – als Leser erfährt man viel über familienbezogene und historisch entstandene Verantwortlichkeit und Schuld, Liebe und Abhängigkeit, Verschweigen und Verleugnen. „…wir verstehen etwas und immer mehr. Aber eigentlich haben wir nichts verstanden. Wir glauben, Zusammenhänge zu erkennen, uns zu entwickeln, besser zu sein als jemals zuvor – und tappen damit in die gefährlichste aller Fallen: Wir verwechseln Glauben mit Wissen. Wir haben vergessen, dass wir einmal wussten, dass wir nichts wussten.“ S. 409

Dieses Buch hat mich zum Nachdenken gebracht, mich verstört, verzaubert und ergriffen – und immer wieder überrascht mit einer neuen Wendung. Ich empfehle es nachhaltig, auch wenn es vielleicht zwischendurch etwas Geduld benötigt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

„Wer einmal mit Lucinda im Keller war, kehrt nicht wieder.“

Und auch so bitterkalt
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Und auch so bitterkalt ist es Lucinda zumute. Sie trägt viele Lagen Kleidung gegen das Frieren.

Die meist düstere, teils poetische Geschichte wird aus der Sicht der Ich-Erzählerin berichtet, für die ...

Und auch so bitterkalt ist es Lucinda zumute. Sie trägt viele Lagen Kleidung gegen das Frieren.

Die meist düstere, teils poetische Geschichte wird aus der Sicht der Ich-Erzählerin berichtet, für die Lucinda merkbar der Fixstern im Universum ist. Bald wird klar, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um Lucindas jüngere Schwester handelt, Malina. Malina lebt im Sog ihrer großen Schwester, es steht von Beginn des Buches an außer Frage, wer hier die jüngere ist. Ludinda „… hat nur Feindinnen oder Bewunderer.“ S. 17 Sie ist phantasiebegabt, erzählt der jüngeren Geschichten und schleicht sich mit ihr heimlich davon – die beiden leben beinahe in einer eigenen Welt. Lucinda ist sich ihrer Wirkung bewusst – und sie nutzt sie aus, besonders gegenüber Jungen. Aber da ist mehr, was besonders der jüngeren, deren Name nur selten im Buch genannt wird, bewusst ist: „Meine Schwester hat dunkle Tage. …Manchmal starrt es dich nur an. Aber manchmal streckt es die Zunge aus und berührt dich damit, und das fühlt sich an, als würde man dir mit Isas [d.i. die Mutter] Lockenstab ein Loch in den Bauch brennen …. Das Tier.“ S. 24
Die Eltern sind hilflos – die jüngere Tochter nehmen sie meist nicht wahr oder schieben sie in die Rolle der „problemlosen Tochter“. Sie reagieren in allen Varianten: passiv, verharmlosend, mit Aktionismus, mit Angst, Hysterie, Erpressung, Drohung, Bestechung… und Lucinda schiebt Malina ihre Essensportionen unter, zieht sie oft mit nach unten.
Die Autorin schafft es, im Buch wohldosiert zwischen der Anziehungskraft Lucindas und dem Universum der Schwestern zu wechseln mit den düsteren Seiten. Der Schreibweise kann man gut folgen, wobei Schützsack auch zu optisch eher ungewohnteren Mitteln greift. Das Ende ist ein wenig mehrdeutiger – ein Buch, bei dem es weniger darum geht, hier nicht zu viel zu verraten, sondern darum, es zu lesen und darüber nachzudenken, sich davon anregen zu lassen. Einige der durchschimmernden Informationen waren mir völlig neu – schon allein dafür möchte ich dieses Buch empfehlen. Lässt man sich auf das Buch ein, kann es in seiner teilweisen Trostlosigkeit durchaus düster wirken, so dass es sicherlich Jugendliche gibt, die man damit nicht allein lassen sollte. Ich halte es für eine gute Empfehlung als Buch für den Unterricht, mit nur 188 Seiten landet es da hoffentlich auch nicht auf der Liste der ungeliebten Schullektüren.

Manko, fast lächerlich angesichts der Informationsfülle des Internet: ich hätte mir Tipps/Links zu weiterführenden Informationen am Ende gewünscht, besonders zu Möglichkeiten der Hilfe – auch wenn das Buch gerade hier eindrucksvoll klar macht, wie schwierig schon die reine Einsicht einer Notwendigkeit ist.
http://www.magersucht.de/krankheit/symptome.php
http://www.psychiatrie.de/bapk/kinder/krankheitsbilder/anorexie/

Veröffentlicht am 04.02.2017

Ganz toll gezeichnet und geschrieben, da macht das Vorlesen richtig Spaß!

Ein Geburtstagsfest für Lieselotte und andere Geschichten
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bezieht sich nur auf "Ein Geburtstagsfest für Lieselotte", das ich hier nicht einzeln und als Buch auswählen kann



Ich kannte die Kuh Lieselotte noch gar nicht, bis sie in im Internet vorgestellt wurde. ...

bezieht sich nur auf "Ein Geburtstagsfest für Lieselotte", das ich hier nicht einzeln und als Buch auswählen kann



Ich kannte die Kuh Lieselotte noch gar nicht, bis sie in im Internet vorgestellt wurde. Und dann passierte folgendes: ich ging zum Literaturfrühstück und neben vielen Büchern für Erwachsene wurde - genau DIESES wirklich zauberhafte Buch vorgestellt. Fanden Liebesroman, anspruchsvolle Literatur oder Krimi vorher absolut nie ungeteilten Beifall - dieses Buch zauberte ein Lächeln in die Gesichter aller. Einfach süß, wie Lieselotte zunehmend verzweifelt versucht, "ganz unauffällig" auf ihren Geburtstag hinzuweisen (und sehr typisch Kind, mit den ganz zufälligen Tipps....). Das Schwänzchen mit dem Apfel und der Kaktus statt Blume...und in jedem Bild ganz liebevolle Details, die es zu entdecken gilt. Das wurde dann gleich ein tolles Geschenkebuch! Und DANKE, nicht "rosa Prinzessin" oder "tarnfarbener Superheld".

Veröffentlicht am 04.02.2017

Ein Buch wie ein Sog in die Nach-Wendezeit Rumäniens, magisch, vielschichtig, mitreißend

Der Scheiterhaufen
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Die junge Ich-Erzählerin bleibt lange namenlos getreu eines Satzes im Buch, dass man die schmerzvollsten Geschichten nur so erzählen könne, dass der, der zuhört, das Gefühl hat, dass sie ihm selbst widerfahren. ...

Die junge Ich-Erzählerin bleibt lange namenlos getreu eines Satzes im Buch, dass man die schmerzvollsten Geschichten nur so erzählen könne, dass der, der zuhört, das Gefühl hat, dass sie ihm selbst widerfahren. Das junge Mädchen muss mehrfach mit einer völlig veränderten Situation umgehen, erst sind die Eltern bei einem Autounfall gestorben, dann lebt sie im Internat, währenddessen endet das Ceaușescu-Regime, dann erhält sie Besuch von ihrer Großmutter, von deren Existenz sie bislang nichts wusste und die sie mitnehmen will. Doch ihre Großmutter bringt auch etwas anderes mit in ihr Leben, sie erzählt von der Vergangenheit, gibt Mut für Gegenwart und Zukunft – und bei allem schleicht sich durch sie, mit ihr eine zweite Ebene ein, eine magische, phantasievolle, und die gesamte Familiengeschichte spannt sich auf.

In anderen Rezensionen wird Dragomán daher verglichen mit Isabel Allende und „Das Geisterhaus“, die Richtung ist sicherlich nicht falsch, jedoch trifft sie nach meiner Meinung nur zum Teil: Beim Geisterhaus ist das Auftauchen der Verstorbenen für die handelnden Personen die Realität ebenso wie die durch Gedankenkraft verschobenen Gegenstände, bei „Der Scheiterhaufen“ erscheint der verstorbene Großvater nur beim Blinzeln, im dahingestreuten Mehl, oder etwas war vielleicht auch nur ein Traum – der Autor spielt geschickt mit der Grenzlinie zwischen Phantasie, bloßem Hoffen nach großen Verlusten und der Magie der Situation. Ebenso virtuos steigert er seine Beschreibung dabei, überfordert den Leser nicht – der Einstieg in den magischen Bereich beim Kaffeesatzlesen mag natürlich auch einfacher Aberglaube sein oder ein alter dörflicher Brauch. Er lässt seine Geschichte mal zügig, mal gemächlich voranschreiten und schafft es, Rückblenden vorzunehmen, ohne dass man den Zeitbezug verliert. Die jüngere Geschichte Rumäniens wird in einen noch viel weiteren Bezug gestellt, gut herausgearbeitet sind die Brüche in der Gesellschaft durch ein Nebeneinander von neuen Möglichkeiten und althergebrachten Vorstellungen, von Schuld und Schuldgefühl, von Rache und Gerechtigkeit.
Der Roman ist dabei „Coming-of-age“ sowohl der jungen Protagonistin als auch der jungen rumänischen Demokratie, wobei beiden die wohl dafür unvermeidlichen harten Landungen auf dem Boden der Realität widerfahren. Dragomán schafft es, mit dem Ende seiner Geschichte vieles dabei in der Schwebe zu halten, viele offene Fragen aufzuwerfen, ohne dadurch unversöhnlich zu werden.

Weiterführend:
Ich hatte nach der Lektüre von Andrei Mihailescus „Guter Mann im Mittelfeld“ nach einem weiteren Roman gesucht, der mir das bis dahin unbekannte Rumänien näherbringen würde, mein Bild erweitern sollte – und habe mit diesem Buch für mich einen Glücksgriff getan, den ich fast in einem Zug gelesen habe.
Dragomán verläßt sich hauptsächlich auf die Geschichte und die Kraft der Bilder, dabei mag dem Leser einiges an Hintergrundwissen zum Verständnis fehlen; so erinnern das Moralverständnis oder die schulischen Erziehungsmethoden einen deutschen Leser eher an das Deutschland der fünfziger oder sechziger Jahre. Auch erklären sich manche Befindlichkeiten der Personen im Roman nur aus den Besonderheiten des rumänischen Systems inklusive Personenkult und sehr rigider gesellschaftlicher Kontrolle. Wer hier tiefer gehen möchte, dem sei das erwähnte Buch von Mihailescu ans Herz gelegt. Beide Autoren nähern sich der Thematik auf verschiedene Art - während man dem Scheiterhaufen vorwerfen mag, zu beschreiben, was nicht jeder Leser gleichermaßen zu deuten vermag, wurde Mihailescu vorgeworfen, die Anforderung an zu viel Sachbuch im Roman erfüllen zu wollen. In dieser Weise ergänzen beide einander: Wer nach aktueller Literatur aus Rumänien sucht, merkt, dass diese stark in der Auseinandersetzung mit besonders der jüngsten Geschichte fußt, stärker, als man sich dies als Deutscher mit der Erfahrung zur DDR vorstellt. Wer nach aktueller rumänischer Literatur sucht, wird merken, wie sehr diese um die jüngere Geschichte kreist und sich an ihr reibt. Zu einem Verständnis UND zu tieferen Leseerlebnissen sollten beide genannten Werke beitragen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sprachlosigkeit trotz - oder angesichts - der Sehnsucht nach Liebe

Ein Brautkleid aus Warschau
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Lot Vekemans hat bislang Dramen geschrieben, „Ein Brautkleid aus Warschau“ ist ihr Prosadebüt – der Roman ist angenehm einfach zu lesen, es gibt keine Kapriolen in Sprache oder Erzählstil, auch die Handlung ...

Lot Vekemans hat bislang Dramen geschrieben, „Ein Brautkleid aus Warschau“ ist ihr Prosadebüt – der Roman ist angenehm einfach zu lesen, es gibt keine Kapriolen in Sprache oder Erzählstil, auch die Handlung kann der Leser leicht nachvollziehen - ein wohltuend unprätentiöser Stil.


Die Geschichte ist in der Ich-Perspektive geschrieben, in drei Kapiteln – jedes Kapitel aus der Sicht eines anderen der Protagonisten:


das erste Kapitel gehört der Stimme der jungen Polin Marlena, die von ihrer ersten großen Liebe schwanger wird, vom jüdischen US-Amerikaner Natan. Dieser ist zu Besuch in Polen auf der Suche nach Spuren seiner Vorfahren und Gast im Hause von Szymon, einem Cousin seines Vaters, als er und Marlena einander zufällig begegnen. Sie treffen sich fortan heimlich in Warschau. „Für den Bruchteil einer Sekunde erwog ich, umzukehren. Die Treppe hinunter zum Bahnsteig, zurück in den Zug, zurück nach Hause, zurück zu allem, was ich schon seit Jahren verlassen wollte (S. 13)“.
Als Vorwand gegenüber ihrer Mutter dient Marlena die titelgebende Suche nach einem Brautkleid aus Warschau für eine Freundin. Natan kehrt kurzfristig in die USA zurück, ohne zu wissen, dass Marlena schwanger von ihm ist.
Marlena kann nicht bei ihrer konservativen Mutter bleiben. „Bei uns im Hause bestimmte meine Mutter alles. …. Ich hatte eine Verfehlung begangen, und sie würde die Verfehlung wiedergutmachen. Nicht meinetwegen, sondern ihretwegen, wegen ihres Anstandes und natürlich wegen ihres hart erarbeiteten Platzes im Jenseits (S. 30)“.

Sie weiß nicht, wie sie Natan erreichen soll und landet stattdessen über eine Heiratsagentur bei einem Ehemann in den Niederlanden: „Ich sah traurige Augen. Augen, die vom Leben betrogen worden waren. Augen, die ich von meinem Vater kannte. Und meinem Großvater. …. Die Augen gehörten Andries.“ S. 41 Ihm gehört das zweite Kapitel.
Marlena erzählt Andries von Natan und dem Baby.
„Wenn Du weg willst, kannst du gehen. Aber wenn du noch da bist, wenn ich wiederkomme, ist das Kind von mir. Von mir und keinem anderen (S. 51)“.
Er liebt Marlenas Sohn Stan als sein eigenes Kind. Das Familienleben ist harmonisch, bis Marlena auf Besuch mit Stan nach Polen fährt. Man erfährt, dass Andries das Leben lebt, das ihm erst von seinem von ihm als grausam empfundenen Vater, dann von seiner älteren Schwester bestimmt wurde. Der letzte Satz des Vaters war „Du schuldest mir noch etwas (S. 94)“, einen Enkel. In Stan erfüllt Andries diese Schuld sowohl als auch widersetzt er sich, wie auch in seinem Verhalten in beiden Ehen.


Und dann gibt es da Szymon, der das dritte Kapitel erzählt – er ist das Bindeglied: Jude, ohne sich als im Glauben verwurzelt zu betrachten, polnischstämmig, in Polen lebend, in den Niederlanden geboren, ein Onkel Natans.


Die Motive der Personen und die ruhige fließende Erzählung sind es, die mich an dieses Buch gefesselt hielten:
Nein, rede doch über deine wahren Beweggründe, sage, was du willst – möchte man fortwährend den Protagonisten zurufen: Vekemans Personen unterlassen – sie handeln nicht. Sie lassen geschehen – sie entscheiden nicht. Sie gehen nicht auf etwas zu, eher treiben sie von etwas weg. Sie lassen andere für sich entscheiden. Bis, ja, bis Andries sich in sein Auto setzt.


Das Buch ist eine Liebesgeschichte, allerdings eine, die in weiten Teilen nicht einmal nach Erfüllung zu suchen scheint. Die Hauptpersonen erwarten das Versagen, das Sich-Etwas-Versagen. Themen sind das Schweigen und die Sprachlosigkeit, das Hinterhertrauern und Suchen nach dem, was man nicht hat, das Verhältnis zur Heimat, Entscheidungen und ihre Konsequenzen, speziell auch die Entscheidungen von anderen über das eigene Leben. Lot Vekemans schafft es, Fragen gleichzeitig offen zu lassen und das Gefühl zu geben, für ihre Personen seien sie gerade hinreichend beantwortet (auch wenn sich der Leser nicht ganz sicher ist, wie). Sie wirkt versöhnend und beruhigend trotz eines durchgehend melancholischen Tons. Ich habe den Roman in einem Abend geradezu verschlungen, fühlte mich zwischendurch traurig ob der Situationen, in denen die Protagonisten trotz meines Kopfschüttelns landeten, beendete ihn verwundert versöhnt, aber mit dem seltsamen Gefühl, mich zu fragen, was da gerade passiert sei, wo denn das Buch hin sei. Ja, ich möchte unbedingt bald wissen, was denn Lot Vekemans da an weiterem zu liefern in der Lage sein wird.