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Veröffentlicht am 25.06.2020

Bildhafter Blick auf's eigene Gepäck

Der Gepäckträger
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„Der Gepäckträger“ ist ein ungewöhnliches Buch, das eine interessante Thematik originell verpackt. Der Untertitel sagt es schon: „Eine Erzählung über die Kunst, unbeschwert zu leben“. Das Gepäck, um das ...

„Der Gepäckträger“ ist ein ungewöhnliches Buch, das eine interessante Thematik originell verpackt. Der Untertitel sagt es schon: „Eine Erzählung über die Kunst, unbeschwert zu leben“. Das Gepäck, um das es hier geht, ist nur zu Beginn das tatsächliche Reisegepäck der Protagonisten, aber letztlich das Gepäck, das man im Inneren mit sich herumträgt. Die Gestaltung des Buches ist gelungen – das erfreulich reduzierte Titelbild zeigt uns das Wesentliche schon, originell ist der von außen blaue Buchblock. Hier wurde liebevoll gestaltet und so etwas ist immer schön, paßt auch zum Liebevollen der Geschichte.

Der Leser ist gleich mitten in der Geschichte drin, lernt die drei Reisenden Gillian, David und Michael kennen, die mit dem gleichen Flugzeug ankommen und aus Versehen am Gepäckband den falschen Koffer erwischen. Mir haben die Schilderungen dieser drei unterschiedlichen Leute ausgezeichnet gefallen. Ihre Gedanken, ihre Erlebnisse sind ebenso bildhaft wie die geschilderte Umgebung. Man sieht den Flughafen vor sich, das schicke Haus von Gillians Schwester, die kühle Büroumgebung Davids und die Trainingsbahn, von der Michael aus auf seinen eigentlichen Traum blickt. Denn alle drei kommen mit gemischten Gefühlen und Sorgen an ihrem jeweiligen Ziel an, alle haben eben ihr Gepäck dabei. Der Autor hat hier drei Lebenssituationen ausgewählt, die so gängig sind, dass die meisten Leser sich mit einer oder mehreren davon identifizieren oder sie zumindest gut nachempfinden können. Das ist gelungen, erfreulich ist auch, wie gut die unterschiedlichen Welten der drei geschildert werden. Jeder kommt glaubhaft rüber, hat eine eigene Stimme, man kann sich beim Lesen darin versinken lassen. Dieser bildhafte angenehme Schreibstil zieht sich durch das ganze Buch.

Während das erste Drittel des Buches uns diese lebensnahen Situationen ausgezeichnet nahebringt, geht die Geschichte ab dann ziemlich vom Realen weg. Der titelgebende Gepäckträger macht unseren Protagonisten klar, welches Gepäck sie eigentlich mit sich herumschleppen. In diesem Teil muß man sich darauf einlassen, daß nicht alles logisch und real ist. Das ist nicht unbedingt mein Fall, aber es ist gut gemacht, wenn auch manchmal die Botschaft ein wenig flach rüberkommt. Auch hier gelingt es dem Autor, die drei verschiedenen Perspektiven und Reaktionen der Protagonisten anschaulich zu schildern. Sie scheinen ihm alle auf ihre Art wirklich am Herzen zu liegen. Es gibt keine großen Überraschungen, was wohl auch nicht beabsichtigt ist. Die Entwicklung der drei Stränge in sich ist absolut stimmig und nachvollziehbar. Der Weg zur Erkenntnis war mir manchmal ein wenig zu flach, in einem Fall fehlte auch etwas Würze, es ging doch alles sehr glatt, die Botschaft war ziemlich einfach. Im zweiten Fall verpaßt das Ende m.E. eine gute Möglichkeit, ist zu zuckerwattig, zu märchenhaft. Mit diesem letzten Drittel des Buches war ich also nicht uneingeschränkt glücklich.

Insgesamt aber hat David Rawlings eine charmante Methode gewählt, seine Botschaft zu vermitteln. Leicht, locker und bildhaft, vielleicht an manchen Stellen ein wenig oberflächlich, aber doch insgesamt mit Substanz und einigen Anregungen, über das innere Gepäck nachzudenken. Das Ganze in einem absolut angenehmen Schreibstil, der das Lesen zur Freude macht.

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Veröffentlicht am 12.04.2020

Düstere, eindrückliche Geschichte

Tess
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Mit Tess führt Thomas Hardy uns ganz tief in die Düsternis. Wir begleiten Tess, ein hübsches, zu Beginn argloses Mädchen, das im England des ausgehenden Jahrhunderts durch die Eitelkeiten ihrer Umwelt ...

Mit Tess führt Thomas Hardy uns ganz tief in die Düsternis. Wir begleiten Tess, ein hübsches, zu Beginn argloses Mädchen, das im England des ausgehenden Jahrhunderts durch die Eitelkeiten ihrer Umwelt und rigiden Regeln ihrer Zeit ins tiefste Unglück gestürzt wird.

Das beginnt noch recht harmlos, wir bekommen von Hardy das Landleben liebevoll und detailreich beschrieben. Im Laufe des Buches finden sich viele solche Beschreibungen, die das Alltagsleben informativ schildern - teils ist das herrlich malerisch, oft merkt man aber, welche Härten die einfache Landbevölkerung erfahren mußte. Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten und Kreisläufe sind sehr interessant, geben dem Leser vielerlei Einblicke. Auch die landschaftlichen Beschreibungen und die sich ändernden Jahreszeiten erstehen von den Seiten farbig auf. Manchmal verlieren sich diese Beschreibungen ein wenig zu sehr im Detail und gerade in der Mitte des Buches schleicht sich stellenweile eine gewisse Langatmigkeit ein, dies aber nur vorübergehend. Im Gesamten ist der Schreibstil sehr erfreulich und fast durchweg ist man gespannt, was als nächstes geschehen wird. Hardy versteht sich darauf, den Spannungsbogen aufrechtzuhalten und neue Wendungen einzubauen.

Der Stil ist zudem erfreulich zugänglich, wesentlich eingängiger als bei so manchem anderen Klassiker. Oft fließt auch in Nebensätzen und Beobachtungen herrlicher Humor ein. Man merkt überhaupt - Hardy kannte die Menschen, sah kenntnisreich und kritisch hinter die Fassaden. Seine Charaktere sind sorgfältig gezeichnet, facettenreich. Gerade bei den beiden Männern in Tess' Leben war ich beim Lesen immer wieder hin- und hergerissen, und auch sonst ist kein Charakter schablonenhaft, keiner leicht einzusortieren. Die Charakterzeichnung ist eine absolute Stärke des Buches.

Tess selbst wird im Laufe des Buches ab und an ein wenig anstrengend. Sie erlebt von Anfang an Unrecht durch andere, wird immer wieder enttäuscht, verraten, ausgenutzt. Während sie einerseits viel Würde und Stolz zeigt, nie den leichten Ausweg sucht, hat sie auch die Tendenz, sich selbst tief in den Staub zu treten und negativ zu sehen. Das nahm manchmal doch übertriebene Ausmaße an. Andererseits beschreibt Hardy ihre innere Entwicklung durchaus meistens glaubhaft und wir merken aus, wie sie durch all das, was ihr widerfährt, geformt wird. Sie läßt den Leser nicht kalt, man fühlt mit ihr, nimmt Anteil.

Das auf sie hereinprasselnde Unheil nimmt ebenfalls ab und an etwas zu starke Ausmaße an, meistens aber ist es nachvollziehbar, erklärt sich aus der Zeit und dem Umfeld, in dem sie lebt. Eine große Schwäche war für mich aber, daß Hardy die bei den viktorianischen Schriftstellern so beliebten unglaublichen Zufälle sehr überbenutzt. Das war an manchen Stellen so unwahrscheinlich, daß es unglaubwürdig wurde und ich es nicht ganz ernst nehmen konnte. Diese gelegentlichen Schwächen werden dann aber durch einen mitreißenden atmosphärischen letzten Teil wieder wettgemacht, der uns in intensiven Bildern dem dramatischen Ende entgegenführt, welches dann mit eindrücklicher Symbolik erzählt wird.

So bietet Hardy uns eine tragische Geschichte, die zwar ein paar Schwächen hat, aber gerade durch ihre psychologisch ausgefeilte Betrachtung der Menschen und die gekonnten Beschreibungen einen tiefen Eindruck hinterläßt.

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Veröffentlicht am 30.03.2020

Gelungene, etwas geruhsame Ruhrpottgeschichte

Ein Traum vom Glück
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Das Ruhrgebiet als Handlungsort für einen Roman – das hat mich gleich angesprochen und deshalb wollte ich diesen ersten Band der „Ruhrpott-Saga“ auch unbedingt lesen. Das Buch spielt im Jahre 1951 und ...

Das Ruhrgebiet als Handlungsort für einen Roman – das hat mich gleich angesprochen und deshalb wollte ich diesen ersten Band der „Ruhrpott-Saga“ auch unbedingt lesen. Das Buch spielt im Jahre 1951 und die Nachkriegszeit finde ich als Thema ebenfalls interessant, also war „Ein Traum vom Glück“ eine gute Kombination.

Das Ruhrpottflair wird ganz hervorragend eingefangen. Man merkt, Eva Völler kennt den Pott, die Lebensart, die Denkweisen, die Leute. Einige Charaktere läßt sie im Ruhrpottdialekt sprechen und das ist nicht nur ausgezeichnet geschrieben (ich konnte es direkt hören), sondern trägt wesentlich zum lokalen Flair bei. Ein Glossar erklärt Dialekt und Bergbaubegriffe.

Die Geschichte beginnt ansprechend, wir sind nämlich gleich mitten drin in der Atmosphäre und dem Geschehen. In wenigen Sätzen merken wir – ja, das sind die 1950er, ja, das ist der Pott. Auch das Erzähltempo ist hier gut, denn wir erfahren nicht nur die Situation der Hauptperson Katharina, sondern lernen auch gleich den zweiten Hauptcharakter Johannes kennen, der aus der russischen Gefangenschaft heimkehrt und vielversprechende Themen mit sich bringt. Wir haben gleich zu Beginn zwei typische Themen der Nachkriegszeit: Katharina schlägt sich mit dem Schneidern durch, hat genug Ausbildung und Talent, um weitergehende Pläne zu verfolgen – ein Modeatelier. Das paßt zum Aufbruchsgeist dieser Zeit. Johannes ist aus gutem Hause, von der Schulbank weg noch am Ende in den Krieg gezerrt worden und hat in russischer Gefangenschaft Furchtbares hinter sich. Die Thematik der Heimkehrer ist noch nicht so oft literarisch behandelt worden und so war ich auf beide Themen gespannt.

Dann wird es allerdings wesentlich geruhsamer. Die Autorin zeichnet sehr liebevoll und sehr detailreich die Atmosphäre, versteht sich darauf auch gut. Man erhält ein wirklich umfassendes Bild jener Region in jener Zeit. Nur geht diese Detailfreude häufiger zu Lasten des Erzähltempos, gerade weil auch einige Dinge öfter wiederholt werden. Die Kochvorgänge von Katharinas Schwiegermutter Mine werden uns mehrfach über Seiten hinweg geschildert und die Kinderspiele und –streiche von Katharinas kleiner Tochter Bärbel nehmen ebenfalls zu viel Raum ein – diese habe ich irgendwann nur noch überflogen, weil sie nur selten für die Geschichte relevant waren. Alltägliche Unternehmungen sind ebenfalls sehr detailreich. Dagegen kommt das (unerwartete) Ende dann sehr rasch, knapp und abrupt. Da hätte ich mir mehr Raum gewünscht, so wirkte es – gerade im Vergleich zum restlichen Buch – überhastet.

Auch thematisch war die Gewichtung nicht vollständig mein Geschmack. Die oben erwähnten beiden Themen finden viel weniger Raum als erwartet, gerade Katharinas berufliche Pläne treten erzählerisch rasch zurück, was ich sehr schade fand. Johannes‘ Thematik bekommt ein wenig mehr Raum, ist kenntnisreich und anschaulich geschildert, geht aber für meinen Geschmack nicht genug ins Detail. Ich hatte immer gehofft, daß dazu noch was kommt, irgendetwas aufbricht, weil es alles so glatt lief. Ein damit zusammenhängender Handlungsstrang beginnt vielversprechend, findet dann aber ein etwas seltsames und zu praktisches Ende. Die Möglichkeit, dieses wichtige Thema zu behandeln, wurde für meinen Geschmack doch eher verschenkt. Hauptfokus ist eine Liebesgeschichte, bzw. eine große und mehrere kleinere Liebesgeschichten. Die sind gut erzählt, erfreulich (fast) frei von Kitsch und werfen mehrere interessante und zu der damaligen Situation passende Aspekte auf. Eva Völler gelingt es ohnehin gut, mit den Haupthandlungssträngen viele kleinere Handlungsstränge und Themen zu verknüpfen und eine Vielzahl von Themen zu behandeln. Lediglich die Gewichtung entsprach nicht meinem persönlichen Geschmack.

Vom Schreibstil her liest sich das Buch durchweg ansprechend, schön ist auch der ab und zu durchblitzende Humor. Ein wenig gestört hat mich, daß uns zu viel erklärt wird – der Leser bekommt die Schlußfolgerungen häufig auf dem Silbertablett serviert, anstatt sie selbst ziehen zu können. Ich ziehe „Zeigen, nicht erzählen“ vor. Hier hatten wir häufig Zeigen + Erzählen, und dies auch bei manchen Dingen wiederholt. Gerade die Tatsache, daß Katharina eine ausgesprochen schöne Frau ist, wird unnötig häufig erwähnt. Schön fand ich dagegen, wie uns die Charaktere nahegebracht werden. So erleben wir Katharinas „Schneiderwissen“ auch richtig, da sie gewohnheitsmäßig mit raschen Blicken Schnitt und Material der Kleidung anderer abschätzt und Fachkenntnis beweist. Ihre ältere Tochter Inge dürstet nach Bildung und es zieht sich angenehm durch das Buch, daß sie eine Schwäche für Fremdwörter oder „kluge“ Wörter hat. Überhaupt sind die Charaktere gut gezeichnet. Johannes, mein absoluter Lieblingscharakter, ist herrlich facettenreich und eine Person, mit der ich als Leser absolut mitfieberte, der mir am Herzen lag. Katharina war mir zu berechnend, zu kühl. Katharinas Schwiegermutter Mine, ein Pott-Urgestein, kommt zwar eher am Rande vor, wird aber herrlich echt und lebendig geschildert. Genau so sollte eine Nebenfigur sein – sie übernimmt nicht, aber man freut sich immer, wenn sie erscheint und die wenigen Sätze, die sie sagt, haben Hand und Fuß und zeigen ihr Wesen herrlich. Auch sonst gibt es vielfältige Charaktere, die anschaulich und echt wirken.

So ist „Ein Traum vom Glück“ ein gut lesbarer Roman mit herausragendem Lokalkolorit und gelungen gezeichneten Charakteren, der viele Themen anspricht. Wer mehr das Geschichtliche in historischen Romanen sucht, wird mit der Gewichtung nicht ganz so glücklich sein. Wer Liebesgeschichten mag und gegen ein geruhsames Erzähltempo mit vielen Alltagsdetails nichts einzuwenden hat, sollte definitiv zugreifen.

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Veröffentlicht am 28.03.2020

Treffend, pointiert und herrlich amüsant - Pott at its best

Radio Heimat
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"Radio Heimat" hat mich schon auf der ersten Seite zum Lachen gebracht, was durchaus eine beeindruckende Leistung ist. Auch sonst habe ich im ersten Teil ziemlich oft laut gelacht und mich über viele Geschichten ...

"Radio Heimat" hat mich schon auf der ersten Seite zum Lachen gebracht, was durchaus eine beeindruckende Leistung ist. Auch sonst habe ich im ersten Teil ziemlich oft laut gelacht und mich über viele Geschichten in diesem Buch sehr gut amüsiert.

Frank Goosen fängt den Pott einfach hervorragend ein. Er erzählt zu Beginn Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend, von Omma und Oppa, Onkel Josef und Tante Henni und anderen Verwandten. Manche begegnen uns immer wieder, gerade Omma und Oppa begleiten uns durch eine Großteil des Buches und das ist gut so, denn über die beiden hätte ich noch viel mehr lesen können. Es passiert nichts Außergewöhnliches, es ist das ganz normale Ruhrpottleben der 60er - (etwa) 80er. Osterbesuche, Frühschoppen, Spaziergänge usw. Aber eben im Pott und das bekommt schon durch die herrlichen Dialoge im Dialekt so herrlich durch. Ich konnte es geradezu in meinem geistigen Ohr hören. Diese Dialoge alleine sind großes Kino. Aber auch sonst fließt gelungenes Lokalkolorit ein. Man spürt den Pott, seine Menschen und seine Eigenheiten. Wenn Frank Goosen der erste in der Familie ist, der studiert, der von den bodenständigen Wurzeln und "vonne Alleestraße" weg geht, sind die Reaktionen seiner Familie und seines Umfeldes herrlich geschildert. Pointiert, aber nie verletzend, wird uns hier viel nahegebracht und man sieht alles direkt vor sich.

Zwischendurch schwächeln die Geschichten für meinen Geschmack. Da haben wir dann Teenagerallerlei - trinken, Band gründen, Parties feiern. Da kommt das Spezielle des Ruhrpotts gar nicht mehr durch, das sind beliebige Teenagergeschichten, die es überall und jederzeit gibt. Auch einige satirisch überzeichnete Geschichten passen nicht so richtig in das Buch, denn auch hier geht es nicht wirklich um den Pott und seine Lebensart und es ist eben zu übertrieben. Das würde in einen Band mit allgemeinen Satiren passen, nicht aber in diese "Geschichten von zuhause". Auch gibt es einige leider ziemlich nichtssagende Geschichten. Das Buch fing fulminant an, fiel dann doch ziemlich ab und erholte sich ein wenig, bot einen leicht ruckeligen (passend zum eigensinnigen Ford Taunus des Autors) Schlußteil. Am besten ist Frank Goosen meiner Ansicht nach, wenn er im familiären Umwelt bleibt und mit deftigem Pottbezug vom alltäglichen Wahnsinn berichtet. Der Schreibstil ist durchweg erfreulich, unterhaltsam, treffend.

Unterhaltsam und empfehlenswert ist das Buch allemal und echtes Pottgefühl bekommt man hier absolut. Leseempfehlung für alle, die sich immer noch wundern, daß es im Pott "so viel Grün" gibt und für die, die den Pott kennen und ihn hier herrlich wiederfinden.

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Veröffentlicht am 18.02.2020

Bildhaftes, sprachlich herrliches Eintauchen in die Belle Époque

Keyserlings Geheimnis
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Das Buch besticht von der ersten Seite an durch eine ausgesprochen schöne Sprache und die bildhafte Schilderung der Szenerie. Wenn wir mit Keyserling durch Schwabing schlendern, dann sieht man es alles ...

Das Buch besticht von der ersten Seite an durch eine ausgesprochen schöne Sprache und die bildhafte Schilderung der Szenerie. Wenn wir mit Keyserling durch Schwabing schlendern, dann sieht man es alles geradezu vor sich, ebenso wie die später vorkommenden Orte – das Haus am See in der Sommerfrische, die einfache Hinterhofwohnung in Wien, das kurländische Schloß. So wie Keyserling in seinen Werken eine damals schon am Rande des Unterganges entlangbalancierende Welt auferstehen läßt, gelingt es auch Modick, uns in diesem Buch in die Belle Époque mitzunehmen. Seine elegante Sprache paßt hier sowohl zur Zeit wie auch zum feinsinnigen Keyserling selbst. Die Handlung ist eher zweitrangig, besonders viel passiert auch gar nicht und doch war ich beim Lesen gebannt und konnte in die Atmosphäre ganz eintauchen.

Wir begleiten den schon an den Folgen seiner Syphiliskrankheit laborierenden Autor Keyserling im Sommer 1901, Aufhänger ist ein Sommeraufenthalt mit Künstlerkollegen am Starnberger See und das Gemälde, das Lovis Corinth in jenem Sommer von Keyserling malt. Das Gemälde ist vorne im Buch abgebildet, was ich sehr gelungen finde, ich habe auch immer wieder mal dahin zurückgeblättert. Auch der Sommeraufenthalt selbst, der Freundeskreis jener Männer, die alle aus dem Kurland (heute Lettland) stammen, ist interessant zu lesen. Schön, wie der Autor hier ab und an den Dialekt einflicht, den ich noch von einer Großtante kenne und der den Unterhaltungen eine gelungen lokale Note gibt. Im Rahmen dieses Sommeraufenthaltes denkt Keyserling immer wieder zurück an frühere Episoden in seinem Leben und so ist auch das Buch selbst episodisch.

Modick bringt uns hier den tatsächlichen Lebensweg Keyserlings gut nahe, auch die Kollegen – wie zB der unerträglich großspurige Wedekind – sind gut getroffen und es werden auch einige Zitate gekonnt eingeflochten. Ja, so könnte es absolut gewesen sein, hier merkt man, daß sorgfältig recherchiert und der historische Hintergrund mit Geschick literarisch verarbeitet wurde. Auch das ansprechende Titelbild passt dazu.

Während ich am Anfang von den sprachlich sehr schönen Naturbeschreibungen angetan war und auch manchen Satz mehrfach las, wurde dieser Kunstgriff der Beschreibungen rasch überbenutzt. Es werden doch gar zu viele Szenen mit solchen Beschreibungen eingeleitet, jede Tageszeitänderung, jedes Wetter, jede Jahreszeit wird so „verarbeitet“ und wenn die Beschreibungen zum Selbstzweck werden und bildhafte Vergleiche von Lichtmustern, säulenartigen Bäumen und dergleichen anfangen, sich ein wenig zu wiederholen, dann beeinträchtigt das leider die Wirkung. Hier wäre weniger mehr gewesen. Auch die Hingabe, mit der der Autor Aufzählungen benutzt, wirkte auf Dauer etwas anstrengend. Blumenarten, Farben, Eigenschaften – was irgendwie aufgezählt wird, wird auch aufgezählt. Die beiden Punkte waren für mich doch leichte Schwächen der ansonsten so wundervoll genutzten Sprache.

Die Ausschnitte aus Keyserlings Lebensweg sind gut gewählt, um seinen Hintergrund, seine Motivation und auch sein eigenes Werk besser zu verstehen. Sein „Geheimnis“ ist dann rein fiktiv. Es gab zwar tatsächlich zu Keyserlings Studentenzeit einen Skandal, über den aber nichts Näheres bekannt ist. Modick schildert uns hier eine fiktive Geschichte, die inhaltlich durchaus als mögliche Erklärung passen würde. Allerdings wird im Buch der „Skandal von Dorpat“ schon vorher so oft erwähnt, daß diese ständigen Andeutungen irgendwann richtiggehend enervierend wurden. Es wäre in dieser häufigen Wiederholung nicht notwendig gewesen, denn so hatte ich von dem „Skandal“ schon genug, bevor er zum Ende des Buches dann Thema wird. So gut diese von Modick geschilderte Episode zu den tatsächlichen Geschehnissen passen könnte – sie wirkte auf mich eher wie ein Antiklimax. Ob das nun an den vorherigen ständigen Andeutungen liegt, oder daran, daß es eine Geschichte ist, die man in dieser Art schon so oft gehört oder gelesen hat und die – abgesehen von einer wirklich originellen Wendung zum Schluß – nichts Originelles hat, weiß ich nicht. Der Zauber des Buches hat für mich aber leider in diesem letzten Fünftel abgenommen.

Trotzdem hat mich die gelungene Sprache, dieser Schreibstil, der mich in die Welt jener Zeit so völlig eintauchen ließ, in den Bann gezogen und das nächste Buch des Autors liegt hier schon bereit.

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