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Veröffentlicht am 28.03.2020

Ein gemütliches Wohlfühlbuch, das trotz ein paar Schwächen als Reihenabschluss überzeugt!

Liebe mich. Für immer
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Nachdem ich in "Halte mich. Hier" Maliks und Zeldas Liebesgeschichte mit viel Freude verfolgt habe, musste ich natürlich auch Sams und Amys Geschichte lesen, die wir in Band 2 auch schon kennenlernen. ...

Nachdem ich in "Halte mich. Hier" Maliks und Zeldas Liebesgeschichte mit viel Freude verfolgt habe, musste ich natürlich auch Sams und Amys Geschichte lesen, die wir in Band 2 auch schon kennenlernen. Trotz dass ich mit einer falschen Reihenfolge an die Reihe herangegangen bin, konnte mich auch dieser Band 3 überzeugen, sodass ich mir fest vorgenommen habe, den ersten Teil über Rhys und Tamsin auch noch folgen zu lassen. Da hier in jedem Band der Trilogie die Geschichte eines anderen Pärchens erzählt wird, ist meine falsche Reihenfolge kein Drama, schön wäre aber natürlich trotzdem gewesen, ich hätte ganz regulär mit dem Auftakt angefangen
Diese Machart der New Adult-Reihe ist ja nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal, besonders ist an dieser Reihe jedoch, dass es in allen drei Fällen in erster Linie um einen Neuanfang und die heilende Kraft der Liebe geht, die sich über alle Unterschiede und Hindernisse hinwegsetzt. Passend dazu trägt die Reihe auch den Klangvollen Beinamen "Believe in Seconds Chances".


"Für mich war es das Einfachste auf der Welt, verheiratet zu sein", sagte er. Dann bringt er seinen Läufer in Position. "Man darf nun nicht aufhören, sich zu mögen. Und man darf nie zulassen, dass der Respekt verschwindet. Denn egal, was der andere für einen Blödsinn macht, wie unverständlich manches ist - wir sehen immer nur die Oberfläche. Mindestens die Hälfte der Auslöser für den Blödsinn bleibt uns verborgen."


Die Cover der Reihe sind aufeinander abgestimmt, sodass die drei Bände nebeneinander liegend zusammen ein Unendlichkeitszeichen ergeben. Dazu passend sind auch die Titel so gewählt, dass sie in Kombination zueinander passen und "Finde mich. Halte mich. Liebe mich. Jetzt. Hier. Für immer" ergeben. Wenn man jedoch nur ein Einzelband ohne die anderen Teile betrachtet, wirken Titel und Cover etwas seltsam - eben unvollständig. Ich finde die Idee grundsätzlich wirklich klasse - als Einzelwerk wenn man sich nicht auf den Gesamteindruck konzentriert, sind mir die glitzernde Bögen und der bunte, Wasserfarbenverlauf im Hintergrund aber zu kitschig und nichtssagend. Sehr nett finde ich wiederum die kurzen Steckbriefe zu den zwei Hauptprotagonisten in den Leselaschen und die kleinen Unendlichkeitszeichen inklusive Name an den Kapitelanfängen, welche angeben, aus welcher Perspektive gerade erzählt wird. Auch wenn ich das Cover an sich also nicht unbedingt umwerfend finde, ist die Gestaltung des Piper Verlags als Ganzes wirklich sehr detailgetreu und liebevoll ausgearbeitet!


Erster Satz: "Der riesige Betonklotz, in dem sich vor allem Sozialwohnungen befinden, ragt wenig einladend in den zur Abwechslung ungewöhnlich grauen kalifornischen Himmel."


Der Beginn der Geschichte ist eher unkonventionell. Ein missglückter One Night Stand nach dem Kennenlernen in einer Bar, bei dem schlussendlich doch nicht passiert gefolgt von der Erkenntnis, dass die beiden sich kennen - das ist nicht gerade die optimale Grundlage für eine Beziehung. Das merken auch Sam und Amy, doch auch wenn sie sich eher aus dem Weg zu gehen versuchen, geht ihnen der jeweils andere nicht mehr aus dem Kopf. Wie ich schon beim zweiten Band kritisiert hatte, merkt man der Geschichte an dieser Stelle an, dass sie mit den knapp 420 Seiten nicht besonders lang ist, denn als ganz plötzlich wie aus dem Nichts Gefühle in den Beiden aufkommen wirkt das vor allem in Anbetracht der danach sehr langsamen Entwicklung in kleinen Schritten eher unrealistisch. Das kann man der Geschichte aber sehr gerne verzeihen, denn dies ist keine rasante, leidenschaftliche Liebesgeschichte mit endlosen Sexszenen, triefendem Herzschmerz und ewigem Geschmachte, sondern viel mehr die Entwicklungsgeschichte einer etwas angeknacksten Protagonistin, die zwischen Schuld, Verantwortung, Kontrolle, Trauer und Angst lernen muss, loszulassen, zu vertrauen und sich vollkommen in die Liebe zu stürzen.


"Dieses Wort! Kaputt. Sie ist nicht kaputt. Sie ist wunderbar. In diesem Moment fasse ich einen Entschluss. Ich werde sie nicht allein lassen. Ich werde ihr dabei helfen, sich in einem anderen Licht zu sehen. In dem Licht, das auf sie strahlt, wenn ich sie sehe."


Sehr erfrischend ist auch, dass Sam als männlicher Hauptprotagonist zur Abwechslung mal nicht selbst von Problemen gebeutelt, sondern einfach ein einfühlsamer, romantischer und liebevoller Mann auf der Suche nach der großen Liebe ist. Dadurch dass er abwechselnd mit Amy aus der Ich-Perspektive erzählt, bekommen wir in beide Protagonisten einen Einblick und können jeweils die Außensicht als Relativierung der Selbstwahrnehmung sehen. Zwischenzeitlich hatte ich zwar auch ein paar Probleme mit ihm, da er zuerst eher als Aufreißer dargestellt wurde und dann zum schon fast übermenschlichen Frauenversteher mutiert ist, dass er mit seinem Durchhaltevermögen und seinem stillen Verständnis aber Amy ihren Raum gewährt, ohne die Hoffnung aufzugeben, hat mir aber gut gefallen. Denn dadurch können wir uns ganz wir uns ganz auf die Entwicklung des Innenlebens von Amy konzentrieren, die sich als Sozialarbeiterin, die selbst ein ehemaliges Pflegekind mit traumatischer Jugend ist, für andere einsetzt und deren Leben in geordnete Bahnen lenkt, ihnen neue Chancen gibt, um eine alte Schuld abzuwaschen. Auch wenn es eine Weile dauert, bis sie sich in unser Leserherz schleicht, fand ich sie wirklich hinreißend und sehr authentisch. Durch ihre Altlasten, die sich hinter ihrer eher kühlen, distanzierten Fassade verbergen, ihre Ängste vor Nähe, stößt sie Sam immer wieder von sich weg, was als Leser äußerst frustrierend zu lesen ist und der Grund ist, warum sich die Liebesgeschichte eher schleppend voran bewegt.


"Dieses Wort. Vertrauen. Früher war es Jeannie und mir vorbehalten. Dann kam Sam. Mit seinen schönen, weichen Haaren. Mit seiner rauen Stimme, die meinen Namen sagte."


Damit wir uns nicht langweilen füllt Kathinka Engel die Leerstellen mit Projekten wie der Umgestaltung eines Cafés, der Rettung eines alten Kinos durch ein Filmfestival, Sams Doktorarbeit, Amys Arbeit, in der sie sich vor allem für eine Namensvetterin von mir aufreibt und allerlei anderem Drumherum aus dem Leben der Protagonisten, das relativ viel Platz einnimmt und zeitweise auch über die Liebesgeschichte dominiert. Es ist zum Einen super und realistisch, dass wir hier lesen, dass das Leben mit einer neuen Bekanntschaft nicht nur aus Szenen besteht, in denen beide in skurrilen Situationen aufeinander treffen, romantische Dates haben oder sich Wortgefechte liefern - so wie in vielen anderen Büchern dieser Art dargestellt. Auf der anderen Seite hätte ich aber auch gerne noch ein bisschen mehr von Sam und Amy in Kombination gelesen und fand es ein wenig schade, dass die Beiden zeitweise in den Hintergrund rücken.


"Als Antwort zieht er mich wieder zu sich und drückt mir seine warmen Lippen auf die Stirn, auf die Schläfe. Es ist die ultimative Geborgenheit. Ein vollkommen unbekanntes Phänomen für mich. Das Beste. Das Absolute."


Ein weiterer Schachzug, den die Autorin nutzt, um darüber hinwegzutäuschen, dass im Mittelteil zwischen Amy und Sam nicht besonders viel passiert, ist dass sie die Protagonisten der anderen Bände - Rhys, Tamsin, Malik, Zelda, Jeannie, Che, Ollie und wie sie alle heißen - nochmals in den Fokus nimmt, ihre Happy Ends vertieft und die letzten offenen Fragen klärt. Für Fans der Reihe, die die anderen Bände auch gelesen und geliebt haben, ist das natürlich wundervoll, wer aber mit dem letzten Band einsteigt und diesen als Einzelband liest, wird zwischendurch mal eine Durststrecke erleben, auch wenn die Nebengeschichten über Figuren wie Norman, dem greisen Kinobesitzer, Malcolm, Amys Ersatzvater, oder Jeannie, Amys Ziehtochter, wirklich herzergreifend sind.


"Ich denke an all das, was Amy und ich schon überwunden haben, an all die Hürden. Und es werden mit Sicherheit noch weitere kommen. Aber das ist in Ordnung. Es ist mehr als in Ordnung. Perfekt auf eine unperfekte Art eben."


Trotz der ernsten Themen, die hier angesprochen werden und in den USA nochmals deutlich aktueller sind als hierzulande, handelt es sich aber eher um ein gemütliches Wohlfühlbuch. Vorhersehbarer Verlauf, herzerwärmende Story und über jedem Problem schwebt das Versprechen auf ein Happy End. Zitate aus Shakespeare, "Alice im Wunderland" und Anspielungen auf Filme, lockern zudem immer wieder die Geschichte auf. Kathinka Engel schreibt locker, leicht und auch wenn man bei ihrem Humor nicht schallend lacht, schafft sie es immer wieder gekonnt, die ernste Stimmung aufzulockern. Trotz dass wir weniger von Amy und Sam lesen, als ich es mir gewünscht hätte, ist "Liebe mich. Für immer." ein würdiger Abschluss der Reihe, in dem auch die bekannten Protagonisten der anderen Bände nochmal ordentlich zu Wort kommen.


"Zwischen Vergessen und ewigem Büßen liegen ganze Welten, Amy." Seine Stimme ist ruhig, leise. Ich drehe mich zu ihm um. "Da ist zum Beispiel das Erinnern."



Fazit:


"Liebe mich. Für immer." ist keine rasante, leidenschaftliche Liebesgeschichte mit endlosen Sexszenen, triefendem Herzschmerz und ewigem Geschmachte, sondern viel mehr die Entwicklungsgeschichte einer etwas angeknacksten Protagonistin, die zwischen Schuld, Verantwortung, Kontrolle, Trauer und Angst lernen muss, loszulassen, zu vertrauen und sich vollkommen in die Liebe zu stürzen. Ein gemütliches Wohlfühlbuch, das trotz ein paar Schwächen als Reihenabschluss überzeugt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2020

Ein einmaliges, stellenweise aber auch ermüdendes Leseerlebnis!

Schöner als überall
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"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen ...

"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen und wurde positiv überrascht. Bestückt mit vielen kleinen Weisheiten, viel Liebe zum Detail und einem scharfen Blick, liest sich die Geschichte sehr klug, an manchen Stellen aber etwas ermüdend und anstrengend. Wer auf der Suche nach einem sehr intensiven Jugendroman über Heimat, Freundschaft, Erwachsenwerden und Aufbruch sucht, wird mit großartiger Tiefe belohnt werden. Wer jedoch auf Romane steht, die von ihrer Handlung getragen werden, wird mit diesem eher verkopften Roman nur wenig anfangen können.


"Mugo kann das gut: Wenn ein Moment feierlich wird, so wichtig eben, dass Musik eingespielt würde, wären wir im Fernsehen, dann sagt sie etwas wie, super filmig, und macht den Moment kaputt."


Die Gestaltung ist mit dem grob gezeichneten, schwarzen Fenchel auf grauem Grund sehr schlicht. Die Autorin erklärt in einem Interview, dass sie genau dieses Motiv ausgewählt hat, weil die Fenchelfelder der Provinz in der Geschichte häufig als Kulisse dienen und sie den Geruch sehr mag. Ich werde von den nach oben abgehenden Strünken, den feinen, haarförmigen Blättern immer an ein anatomisches Herz erinnert und finde die Knolle sehr ästhetisch, auch wenn ich ihren Geschmack nicht besonders mag. Aber zurück zum Thema: neben dem grauen, kartonierten Einband setzen Titel und Autorenname in Blau die einzigen Farbtupfer. Der Titel geht auf ein Zitat von Mugo zurück, die von einem Aussichtspunkt am Regionalbahnhof behauptete: "Hier ist schöner als überall".


Erster Satz: "Unten vor der Tür steht ein Transporter."


Wir beginnen mit der überstürzten Flucht der Freunde Martin und Noah aus München, die nach einer besoffenen Aktion, bei der der Speer der Athene-Statue dran glauben musste, zurück in ihre Heimat fahren. Auch wenn der Klapptext den Begriff "Roadmovie" einwirft, hat die Geschichte außer der Autofahrt zu Beginn wenig mit einer abenteuerlichen Fahrt ins Blaue gemein. Nicht nur dass der Aufbruch der Beiden von Beginn an ein Ziel hat, auch spielt ein Großteil der Handlung in ihrer Heimatprovinz. Nach zwei Jahren wieder zurück zu sein ist für Martin aber nicht ganz so einfach wie für Noah und als er seine Jugendliebe Mugo wieder trifft, beginnt er sein Zuhause mit neuen Augen zu sehen und muss überdenken, was Heimat für ihn wirklich bedeutet...


"Mein Herz schlägt hart gegen den Boden, und ich stelle mir vor, wie daraus ein Erdbeben wird auf der anderen Seite der Welt, und darum drehe ich mich schnell auf den Rücken. So liegen wir da nebeneinander, liegen zusammen in der Hitze, wie wir das jeden Sommer getan haben, und ich sehe uns von oben in diesem Moment und denke, dass das gestern Nacht schon eine dumme Idee war, aber irgendwie auch das genaue Gegenteil davon, weil wir hier einfach wieder wie früher sind. "


Wie ich im kurzen Einleitungstext schon vorgewarnt habe, passiert auf der reinen Handlungsebene original NICHTS. Am See sitzen mit Freunden, mit der Familie Mittagessen, durch die Felder streifen, ein kleines Grillfest - für die spannendste Action wird die Autorin sicher keinen Preis gewinnen. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte langweilig wäre, das Hauptgeschehen, spielt sich im Kopf des Protagonisten Martin ab. Jede kleinste emotionale Regung wird in Worte gefasst und mit Sprachbildern ausgestaltet, sodass wir auch häufig in sehr zeitdehnenden Szenenbeschreibungen viele kleine Details erleben können.


"Draußen hängt der Himmel tief. Es ist plötzlich viel weniger Platz auf der Erde, weil nach oben so schnell Schluss ist. Alles ist grau, es weht ein schwacher Wind, und die Schwalben schießen durch die Häuserreihen wie Pfeile. So möchte ich auch sein: völlig furchtlos und unaufhaltbar in eine Richtung zielen, aber nie damit scheitern und an einer Hauswand zerbersten."


Ihre Erzählkunst sticht dabei natürlich besonders hervor. Neben den originellen Sprachbildern, beeindruckt die Autorin immer wieder mit ihren scharfen Beobachtungen, die manchmal melancholisch, manchmal tröstlich wie eine Umarmung, manchmal schmerzhaft bissig und manchmal einfach nur unverständlich und seltsam sind. Es waren viele seltsame Regungen dabei, die ich nicht nachvollziehen konnte, aber auch viele Szenen, in denen man sich wiedererkennt. Durch anschauliche Vergleiche finden wir immer wieder Gedanken wieder, die man selbst auch schon hatte, kleine Gefühle, Ideen oder Gedankenblitze, die man nie in Worte hat fassen können, werden hier niedergeschrieben, sodass neben vielen absurden Gedanken auch einige kostbare Weisheiten zu finden sind. Kristin Höller erzählt hier lang und breit von der Schönheit des Banalen und demonstriert, dass auch aus dem Nichts eine atmosphärische, spannende Geschichte entstehen kann.


"Und dann versuche ich es mit einem letzten freundlichen Blick, nur kurz, nur vorsichtig, ein Lächeln ohne Zähne, und dieses Mal ist da dieses Schimmern in ihren Augen, rund um die Iris, und dann rund um den Mund, und das ist ein Gefühl, wie wenn der Himmel aufbricht nach einem Sturmtief, als wäre das Schlimmste vorbei, mehr noch: als könnte nie wieder etwas Schlimmes passieren."


Sehr gewöhnungsbedürftig ist dabei, dass der Roman keine erkennbare wörtliche Rede enthält. Nein im Ernst, ich frage mich das immer wieder: was ist das mit hippen Jugendromanen und der wörtlichen Rede, seufz? Dass Gesprochenes ohne Anführungszeichen oder gestalterische Abhebung in den Fließtext mit eingebettet wird trägt nicht unbedingt zum flüssigen Lesen bei und auch die sehr langen Kapitel ohne erkennbare Abschnitte, steigern den Lese-Comfort nicht gerade. Diese teilweise fast schon Gedankenstrom-artige Erzählweise sorgt jedoch dafür, dass der Leser aufmerksamer lesen und sich intensiver eindenken muss und hat somit auch etwas Gutes: etwas mal nicht in leicht konsumierbaren Häppchen serviert zu bekommen kann man auch als erfrischend anspruchsvoll betrachten.


"Ich stand am Straßenrand, die Füße still, überall das Hämmern des Pulses, mit dem Wissen: Es ist etwas passiert. Ich konnte nicht sagen, was, es war mehr ein Gefühl dafür, eine Linie, fast überschritten, allgegenwärtig in jeder Faser."


Am spannendsten sind jedoch die Charaktere, vor allem die Erzählstimme des 20jährigen Martins hat es mir sehr angetan. Zwischen einem dominanten oder manchmal sogar bis zum Egoismus ignoranten besten Freund und einer von ihm auf ein Podest gestellten Rebellin, die ihre Wut pflegt wie ein Garten, hat Martin sein Leben, Fühlen und Denken immer an anderen ausgerichtet. Als er jedoch beginnt, Noahs Egoismus und Mugos Heuchelei zu sehen, verliert er die Orientierung und muss selbst herausfinden, was ihn ausmacht und er will.


"Mugo findet überall Regeln (…) zum Beispiel dass es zwei Varianten von Liebe gibt, und die sind wie zwei Leuchtmittel: Glühbirnen, die hübsch sind und gleich zu Anfang ganz hell, und Energiesparlampen, die sind hässlich und erst schummrig, aber nach einer Zeit leuchten sie immer mehr und halten ewig. Mugo ist die schlauste Frau, die ich je getroffen habe."


Trotz der als männlich definierten Erzählstimme sind seine Gedanken, Gefühle und sein Verhalten nicht "typisch" männlich oder was wir manchmal dafür halten. Hier erzählt kein Mann, hier erzählt keine Ansammlung an gesellschaftlichen Stereotypen, da erzählt einfach ein sensibler, empfindsamer und orientierungsloser Mensch und genau das verleiht der Erzählstimme ihre Tiefe. Zwischen Enden und Neuanfängen, zwischen Kindlichkeit und Ernsthaftigkeit, zwischen Naivität und Eigenverantwortung, zwischen Einsamkeit und Unabhängigkeit, zwischen Scheitern und Träumen, zwischen Wut und Liebe, zwischen Flucht und Wurzeln - Martin bewegt sich innerhalb der wenigen Seiten in einem Spannungsfeld, dem man dem Überbegriff "Erwachsenwerden" geben könnte und erzählt somit eine ganz besondere Coming-of-Age-Geschichte.


"Das hat sie mir auch mal erklärt: Es gibt Wörter, die nehmen Frauen ihre Bedeutung weg, Wörter wie zickig, schnippisch, hysterisch; bei Männern heißt das immer einfach nur Wut und das klingt nach einem ehrlichen, starken Gefühl."


Auch die anderen Figuren wie seine spießigen aber liebevollen Eltern, der ebenfalls verwirrte Noah, die wütende Mugo, der zierlichen Josef zeigen sich von so unterschiedlichen Seiten, erleben, äußern und rufen in Martin so widersprüchliche Gedanken und Erkenntnisse hervor, dass es schwer ist, sich ein genaues Bild von ihnen zu machen. Doch genau das ist es, wodurch uns Martins Unentschlossenheit und Orientierungslosigkeit verdeutlicht wird: es gibt keine klaren Linien, keine Lager wie "gut und schlecht" und alles besteht aus viel mehr Facetten, als dass man es einfach erklären oder mit wenigen Worten darüber urteilen kann. Der Vorgang des Begreifens, dass selbst im einfachen Kleinstadtleben eine komplexe Schönheit verborgen liegt, wird schmerzhaft und wunderschön geschildert. Ein ganz besonderes Plus sind noch die vielen feministischen Gedanken und kritischen Anspielungen, die manchmal in Nebensätzen versteckt sind. Insgesamt war mir für meinen Geschmack der Erkenntnisprozess aber doch ein wenig zu langgezogen und trotz tiefsinniger Sprache und Figurennäher blieb vieles für mich nicht greifbar, sodass gemischte Gefühle zurückbleiben, in denen aber Bewunderung für die Autorin dominiert.


"Noahs Schwester ist Anwältin in einer großen Firma (…) und alle sprechen davon, wie erfolgreich sie ist, vor allem seit sie ein Kind bekommen hat und dann direkt noch ein zweites. Bei Frauen ist das so, die müssen beides gleichzeitig machen und dabei am besten noch ihre Haare zurückwerfen aus Leichtigkeit, erst dann ist es beeindruckend, weil eins von beidem ist immer irgendwem zu wenig."




Fazit:

Viele kleine Weisheiten, eine beeindruckende Erzählstimme, tiefsinnige Sprache, ein Gedankenstromartiger Aufbau und scharfe Beobachtungen machen diese kluge Geschichte zu einem einmaligen, stellenweise aber auch ermüdenden Leseerlebnis! Diese Coming-of-Age-Geschichte über Heimat, Scheitern, Wut, Freundschaft, Liebe, Aufbruch und Neuanfänge schwankt zwischen "großartig" und "langweilig."

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.03.2020

Ein einmaliges, stellenweise aber auch ermüdendes Leseerlebnis!

Schöner als überall
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"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen ...

"Schöner als überall" ist ein Debüt einer Jungautorin, das es wirklich in sich hat! Diese herrlich schräge, wahrhaftige Geschichte aus dem letzten Jahr habe ich beim Lovelybooks-Adventskalender 2019 gewonnen und wurde positiv überrascht. Bestückt mit vielen kleinen Weisheiten, viel Liebe zum Detail und einem scharfen Blick, liest sich die Geschichte sehr klug, an manchen Stellen aber etwas ermüdend und anstrengend. Wer auf der Suche nach einem sehr intensiven Jugendroman über Heimat, Freundschaft, Erwachsenwerden und Aufbruch sucht, wird mit großartiger Tiefe belohnt werden. Wer jedoch auf Romane steht, die von ihrer Handlung getragen werden, wird mit diesem eher verkopften Roman nur wenig anfangen können.


"Mugo kann das gut: Wenn ein Moment feierlich wird, so wichtig eben, dass Musik eingespielt würde, wären wir im Fernsehen, dann sagt sie etwas wie, super filmig, und macht den Moment kaputt."


Die Gestaltung ist mit dem grob gezeichneten, schwarzen Fenchel auf grauem Grund sehr schlicht. Die Autorin erklärt in einem Interview, dass sie genau dieses Motiv ausgewählt hat, weil die Fenchelfelder der Provinz in der Geschichte häufig als Kulisse dienen und sie den Geruch sehr mag. Ich werde von den nach oben abgehenden Strünken, den feinen, haarförmigen Blättern immer an ein anatomisches Herz erinnert und finde die Knolle sehr ästhetisch, auch wenn ich ihren Geschmack nicht besonders mag. Aber zurück zum Thema: neben dem grauen, kartonierten Einband setzen Titel und Autorenname in Blau die einzigen Farbtupfer. Der Titel geht auf ein Zitat von Mugo zurück, die von einem Aussichtspunkt am Regionalbahnhof behauptete: "Hier ist schöner als überall".


Erster Satz: "Unten vor der Tür steht ein Transporter."


Wir beginnen mit der überstürzten Flucht der Freunde Martin und Noah aus München, die nach einer besoffenen Aktion, bei der der Speer der Athene-Statue dran glauben musste, zurück in ihre Heimat fahren. Auch wenn der Klapptext den Begriff "Roadmovie" einwirft, hat die Geschichte außer der Autofahrt zu Beginn wenig mit einer abenteuerlichen Fahrt ins Blaue gemein. Nicht nur dass der Aufbruch der Beiden von Beginn an ein Ziel hat, auch spielt ein Großteil der Handlung in ihrer Heimatprovinz. Nach zwei Jahren wieder zurück zu sein ist für Martin aber nicht ganz so einfach wie für Noah und als er seine Jugendliebe Mugo wieder trifft, beginnt er sein Zuhause mit neuen Augen zu sehen und muss überdenken, was Heimat für ihn wirklich bedeutet...


"Mein Herz schlägt hart gegen den Boden, und ich stelle mir vor, wie daraus ein Erdbeben wird auf der anderen Seite der Welt, und darum drehe ich mich schnell auf den Rücken. So liegen wir da nebeneinander, liegen zusammen in der Hitze, wie wir das jeden Sommer getan haben, und ich sehe uns von oben in diesem Moment und denke, dass das gestern Nacht schon eine dumme Idee war, aber irgendwie auch das genaue Gegenteil davon, weil wir hier einfach wieder wie früher sind. "


Wie ich im kurzen Einleitungstext schon vorgewarnt habe, passiert auf der reinen Handlungsebene original NICHTS. Am See sitzen mit Freunden, mit der Familie Mittagessen, durch die Felder streifen, ein kleines Grillfest - für die spannendste Action wird die Autorin sicher keinen Preis gewinnen. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte langweilig wäre, das Hauptgeschehen, spielt sich im Kopf des Protagonisten Martin ab. Jede kleinste emotionale Regung wird in Worte gefasst und mit Sprachbildern ausgestaltet, sodass wir auch häufig in sehr zeitdehnenden Szenenbeschreibungen viele kleine Details erleben können.


"Draußen hängt der Himmel tief. Es ist plötzlich viel weniger Platz auf der Erde, weil nach oben so schnell Schluss ist. Alles ist grau, es weht ein schwacher Wind, und die Schwalben schießen durch die Häuserreihen wie Pfeile. So möchte ich auch sein: völlig furchtlos und unaufhaltbar in eine Richtung zielen, aber nie damit scheitern und an einer Hauswand zerbersten."


Ihre Erzählkunst sticht dabei natürlich besonders hervor. Neben den originellen Sprachbildern, beeindruckt die Autorin immer wieder mit ihren scharfen Beobachtungen, die manchmal melancholisch, manchmal tröstlich wie eine Umarmung, manchmal schmerzhaft bissig und manchmal einfach nur unverständlich und seltsam sind. Es waren viele seltsame Regungen dabei, die ich nicht nachvollziehen konnte, aber auch viele Szenen, in denen man sich wiedererkennt. Durch anschauliche Vergleiche finden wir immer wieder Gedanken wieder, die man selbst auch schon hatte, kleine Gefühle, Ideen oder Gedankenblitze, die man nie in Worte hat fassen können, werden hier niedergeschrieben, sodass neben vielen absurden Gedanken auch einige kostbare Weisheiten zu finden sind. Kristin Höller erzählt hier lang und breit von der Schönheit des Banalen und demonstriert, dass auch aus dem Nichts eine atmosphärische, spannende Geschichte entstehen kann.


"Und dann versuche ich es mit einem letzten freundlichen Blick, nur kurz, nur vorsichtig, ein Lächeln ohne Zähne, und dieses Mal ist da dieses Schimmern in ihren Augen, rund um die Iris, und dann rund um den Mund, und das ist ein Gefühl, wie wenn der Himmel aufbricht nach einem Sturmtief, als wäre das Schlimmste vorbei, mehr noch: als könnte nie wieder etwas Schlimmes passieren."


Sehr gewöhnungsbedürftig ist dabei, dass der Roman keine erkennbare wörtliche Rede enthält. Nein im Ernst, ich frage mich das immer wieder: was ist das mit hippen Jugendromanen und der wörtlichen Rede, seufz? Dass Gesprochenes ohne Anführungszeichen oder gestalterische Abhebung in den Fließtext mit eingebettet wird trägt nicht unbedingt zum flüssigen Lesen bei und auch die sehr langen Kapitel ohne erkennbare Abschnitte, steigern den Lese-Comfort nicht gerade. Diese teilweise fast schon Gedankenstrom-artige Erzählweise sorgt jedoch dafür, dass der Leser aufmerksamer lesen und sich intensiver eindenken muss und hat somit auch etwas Gutes: etwas mal nicht in leicht konsumierbaren Häppchen serviert zu bekommen kann man auch als erfrischend anspruchsvoll betrachten.


"Ich stand am Straßenrand, die Füße still, überall das Hämmern des Pulses, mit dem Wissen: Es ist etwas passiert. Ich konnte nicht sagen, was, es war mehr ein Gefühl dafür, eine Linie, fast überschritten, allgegenwärtig in jeder Faser."


Am spannendsten sind jedoch die Charaktere, vor allem die Erzählstimme des 20jährigen Martins hat es mir sehr angetan. Zwischen einem dominanten oder manchmal sogar bis zum Egoismus ignoranten besten Freund und einer von ihm auf ein Podest gestellten Rebellin, die ihre Wut pflegt wie ein Garten, hat Martin sein Leben, Fühlen und Denken immer an anderen ausgerichtet. Als er jedoch beginnt, Noahs Egoismus und Mugos Heuchelei zu sehen, verliert er die Orientierung und muss selbst herausfinden, was ihn ausmacht und er will.


"Mugo findet überall Regeln (…) zum Beispiel dass es zwei Varianten von Liebe gibt, und die sind wie zwei Leuchtmittel: Glühbirnen, die hübsch sind und gleich zu Anfang ganz hell, und Energiesparlampen, die sind hässlich und erst schummrig, aber nach einer Zeit leuchten sie immer mehr und halten ewig. Mugo ist die schlauste Frau, die ich je getroffen habe."


Trotz der als männlich definierten Erzählstimme sind seine Gedanken, Gefühle und sein Verhalten nicht "typisch" männlich oder was wir manchmal dafür halten. Hier erzählt kein Mann, hier erzählt keine Ansammlung an gesellschaftlichen Stereotypen, da erzählt einfach ein sensibler, empfindsamer und orientierungsloser Mensch und genau das verleiht der Erzählstimme ihre Tiefe. Zwischen Enden und Neuanfängen, zwischen Kindlichkeit und Ernsthaftigkeit, zwischen Naivität und Eigenverantwortung, zwischen Einsamkeit und Unabhängigkeit, zwischen Scheitern und Träumen, zwischen Wut und Liebe, zwischen Flucht und Wurzeln - Martin bewegt sich innerhalb der wenigen Seiten in einem Spannungsfeld, dem man dem Überbegriff "Erwachsenwerden" geben könnte und erzählt somit eine ganz besondere Coming-of-Age-Geschichte.


"Das hat sie mir auch mal erklärt: Es gibt Wörter, die nehmen Frauen ihre Bedeutung weg, Wörter wie zickig, schnippisch, hysterisch; bei Männern heißt das immer einfach nur Wut und das klingt nach einem ehrlichen, starken Gefühl."


Auch die anderen Figuren wie seine spießigen aber liebevollen Eltern, der ebenfalls verwirrte Noah, die wütende Mugo, der zierlichen Josef zeigen sich von so unterschiedlichen Seiten, erleben, äußern und rufen in Martin so widersprüchliche Gedanken und Erkenntnisse hervor, dass es schwer ist, sich ein genaues Bild von ihnen zu machen. Doch genau das ist es, wodurch uns Martins Unentschlossenheit und Orientierungslosigkeit verdeutlicht wird: es gibt keine klaren Linien, keine Lager wie "gut und schlecht" und alles besteht aus viel mehr Facetten, als dass man es einfach erklären oder mit wenigen Worten darüber urteilen kann. Der Vorgang des Begreifens, dass selbst im einfachen Kleinstadtleben eine komplexe Schönheit verborgen liegt, wird schmerzhaft und wunderschön geschildert. Ein ganz besonderes Plus sind noch die vielen feministischen Gedanken und kritischen Anspielungen, die manchmal in Nebensätzen versteckt sind. Insgesamt war mir für meinen Geschmack der Erkenntnisprozess aber doch ein wenig zu langgezogen und trotz tiefsinniger Sprache und Figurennäher blieb vieles für mich nicht greifbar, sodass gemischte Gefühle zurückbleiben, in denen aber Bewunderung für die Autorin dominiert.


"Noahs Schwester ist Anwältin in einer großen Firma (…) und alle sprechen davon, wie erfolgreich sie ist, vor allem seit sie ein Kind bekommen hat und dann direkt noch ein zweites. Bei Frauen ist das so, die müssen beides gleichzeitig machen und dabei am besten noch ihre Haare zurückwerfen aus Leichtigkeit, erst dann ist es beeindruckend, weil eins von beidem ist immer irgendwem zu wenig."




Fazit:

Viele kleine Weisheiten, eine beeindruckende Erzählstimme, tiefsinnige Sprache, ein Gedankenstromartiger Aufbau und scharfe Beobachtungen machen diese kluge Geschichte zu einem einmaligen, stellenweise aber auch ermüdenden Leseerlebnis! Diese Coming-of-Age-Geschichte über Heimat, Scheitern, Wut, Freundschaft, Liebe, Aufbruch und Neuanfänge schwankt zwischen "großartig" und "langweilig."

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.03.2020

Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Jahr in der Box
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Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung ...

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung auf Lovelybooks, nicht mal eingetragen auf Goodreads (dank mir jetzt schon, gern geschehen, Carlsen Verlag!) und das obwohl der Roman schon am 5. März erschienen und überall zu kaufen ist. Dass ich mich mittlerweile fühle, als sei ich der einzige Mensch, der diese Geschichte schon gelesen hat macht mich sehr traurig, denn "Das Jahr in der Box" ist ein beeindruckender Jugendroman über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Cover ist wirklich toll und einfallsreich gestaltet. Unter dem hellen Umschlag ist das relativ dünne Büchlein dunkelblau und auch innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung eher schlicht und unauffällig. Vorn auf dem Umschlag zusehen sind neben den überdimensionalen, ausfüllenden Buchstaben des Titels einzelne Gegenstände aus Pauls Box, die zusammengenommen eine Geschichte von einem ereignisreichen, prägenden Jahr erzählen, auf das wir nun zusammen mit dem Protagonisten Paul zurückblicken. Deshalb hätten Autor und Verlag auch keinen passenderen Titel für diese Geschichte finden können.


Erster Satz: "Die Box ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton"


Was ein kaputtes IPhone, eine Sonnenbrille, ein Kondom, eine Dose Mentos, ein rotes Armband, ein Stapel Kinokarten, eine Pizza-Speise-Karte, ein Bierdeckel mit einer Strichliste, ein Programmflyer der Theater-AG, eine Superhelden-Kurzgeschichte und ein Springmesser gemeinsam haben, erfahren wir erst nach und nach. Jedem Gegenstand in der Box wird ein Kapitel gewidmet, indem Paul sich an die Szenen erinnert, die er mit dem Gegenstand verbindet. Auf diese Weise ist es dem Autor erlaubt, gezielte Zeitsprünge zu wichtigen Ereignissen zu unternehmen und uns Schritt für Schritt zu erzählen, was im letzten Jahr in Pauls Leben passiert ist. Wir erleben große Entwicklungen, zum Bespiel wie drei Außenseiter (oder auch genannt MoFs) langsam Freunde werden, wie sie sich zusammen den fiesen Attacken und Anfeindungen der sogenannten "Wicker Crew" um Kotzbrocken Wieland und seinen Schlägerfreund Glotz stellen müssen, wie sich Paul zum ersten Mal verliebt. Wir lesen aber auch von ganz normalen Momenten aus dem Leben eines Teenagers wie Computer-Matches unter Freunden, Schulpartys, Mathe-Unterricht, Hausarrest und nächtlichen Abenteuern. Dabei nähern wir uns auf der zeitlichen Ebene immer weiter dem Tag X, an dem einer von ihnen tragisch zu Tode kommen wird. Dass es zu einem solchen Ende kommen wird, wissen wir schon von Beginn an aus den Kapiteln der Jetzt-Ebene, die mit "Heute" betitelt wurden. Auch wenn durch die zweigeteilte Erzählweise viel vorweg genommen wurde, bleibt offen: wer, wann, wie und warum? Und so stellen wir uns zusammen mit Paul den harten aber auch wichtigen Erinnerungen und angestauten Gefühlen, mit denen er sich am Tag des Umzugs endlich befassen muss und finden so heraus, was passiert ist...

Durch die Andeutungen und Vorgriffe, die Michael Sieben gekonnt einstreut, wird gerade so viel Information preisgegeben, um den Leser neugierig zu machen. Dieses geschickte Spielen mit der Zeit ist neben der sich im Verlauf der Geschichte immer mehr herausbildenden dunklen Vorahnung, die einen beschleicht der Hauptgrund, warum die Geschichte immer spannend bleibt. Zu einem späteren Zeitpunkt beginnt auch die Handlung auf der Jetzt-Ebene sich selbstständig zu entwickeln und für Dynamik zu sorgen. Ein weiterer Punkt, der diese Geschichte so reich und spannend macht, ist, dass in diesem dünnen Büchlein so viel an Inhalt enthalten ist. Hier geht es um Freundschaft, Mobbing, Nerdkultur, Kleinstadtleben, Sexismus, Armut, alltägliche Herausforderungen und in erster Linie um die überraschend echten Gedanken und Gefühle eines Teenagers, der vielleicht ein bisschen mehr mitmachen musste, als der Durchschnitt, sonst aber jeder von uns sein könnte. Ständig dachte ich bei einer Szene, bei einem Gefühl "ja genau" und war von der leisen Weisheit beeindruckt, die sich hierin versteckt ohne sich jeweils altklug zu zeigen.

Allgemein hat mir der Schreibstil des Autors sehr gut gefallen, da man hier die angestaute jugendliche Energie der Protagonisten wunderbar nachfühlen kann. Michael Sieben schreibt erfrischend, humorvoll, bildreich - schlicht aber träumerisch schildert er Situationen greifbar real und versteckt auch immer wieder ein wenig Ironie zwischen den traurigen Momenten. Trotz der ernsten Thematik schafft es der Autor ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, angedeutete Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Etwas gewöhnungsbedürftig ist nur die fehlende wörtliche Rede in den Gegenwart-Szenen, die durch Halbsätze und Spiegelstriche ersetzt wurden. Ich weiß nicht was das immer ist mit hippen Jugendromanen und wörtlicher Rede (siehe "tschick" oder "Schöner als überall")… Ansonsten trifft der Autor genau den Ton der Jugendlichen und man nimmt den Protagonisten man ihre Jugendsprache, ihre Gefühle und ihre Denkweise ab, was absolut nicht selbstverständlich ist und bei vielen anderen Autoren schon daneben gegangen ist (zum Beispiel bei einem der zuvor genannten Bücher, ich denke ihr findet schnell raus welches ich meine ^^). "Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss.

Das Kernstück der Geschichte ist hier aber -wie so oft- die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich ist da der Protagonist Paul, der das gesamte U-Bahn-Netz von Berlin auswendig weiß, Superhelden-Geschichten schreibt, in denen er die Gedanken anderer lesen und kontrollieren kann, in seiner neuen Klasse aber aufgrund eines misslungenen Nasen-Spruchs auf der Abschussliste steht und jeden Tag Grausamkeiten ertragen muss, die weit über peinliche Spitznamen und Hänseleien hinausgehen. Zu seiner beziehungsunfähigen Oberarzt-Mutter Bille hat er eigentlich ein gutes Verhältnis, er will sie nur nicht noch mehr belasten und behält deshalb vieles für sich. Als er langsam mehr Kontakt zu dem übergewichtigen Mehmet knüpft, der ihn als einziges wie ein Mensch behandelt und auch der kleine, schmächtige Ken mit der großen Klappe für ihn einsteht, beginnt sich seine Lage zu verbessern. Wie aus den drei komplett unterschiedlichen Außenseitern Freunde werden, ist wirklich schön mitanzusehen. Mit Wieland und Glotz und deren Clique haben die drei einen harten Gegner. Gut dass ihnen auch Kens Cousine Mara zur Seite steht, die nachts als "Wicker City Queen" feministische Botschaften auf Hauswänden hinterlässt.

Das Ende kam für mich trotz einiger Andeutungen relativ überraschend und findet einen runden Abschluss für die Geschichte, sodass wir Paul guten Gewissens auf seinem weiteren Weg alleine lassen können.


Fazit:


"Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt, aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss. Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Veröffentlicht am 12.03.2020

Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Jahr in der Box
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Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung ...

Als ich begonnen habe, meine Rezension zu schreiben, war ich total geschockt, dass noch nirgends über dieses Buch geredet wird, noch nicht mal auf Instagram. Keine einzige Rezension auf Amazon, keine Kurzmeinung auf Lovelybooks, nicht mal eingetragen auf Goodreads (dank mir jetzt schon, gern geschehen, Carlsen Verlag!) und das obwohl der Roman schon am 5. März erschienen und überall zu kaufen ist. Dass ich mich mittlerweile fühle, als sei ich der einzige Mensch, der diese Geschichte schon gelesen hat macht mich sehr traurig, denn "Das Jahr in der Box" ist ein beeindruckender Jugendroman über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

Das Cover ist wirklich toll und einfallsreich gestaltet. Unter dem hellen Umschlag ist das relativ dünne Büchlein dunkelblau und auch innerhalb der Buchdeckel ist die Gestaltung eher schlicht und unauffällig. Vorn auf dem Umschlag zusehen sind neben den überdimensionalen, ausfüllenden Buchstaben des Titels einzelne Gegenstände aus Pauls Box, die zusammengenommen eine Geschichte von einem ereignisreichen, prägenden Jahr erzählen, auf das wir nun zusammen mit dem Protagonisten Paul zurückblicken. Deshalb hätten Autor und Verlag auch keinen passenderen Titel für diese Geschichte finden können.


Erster Satz: "Die Box ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton"


Was ein kaputtes IPhone, eine Sonnenbrille, ein Kondom, eine Dose Mentos, ein rotes Armband, ein Stapel Kinokarten, eine Pizza-Speise-Karte, ein Bierdeckel mit einer Strichliste, ein Programmflyer der Theater-AG, eine Superhelden-Kurzgeschichte und ein Springmesser gemeinsam haben, erfahren wir erst nach und nach. Jedem Gegenstand in der Box wird ein Kapitel gewidmet, indem Paul sich an die Szenen erinnert, die er mit dem Gegenstand verbindet. Auf diese Weise ist es dem Autor erlaubt, gezielte Zeitsprünge zu wichtigen Ereignissen zu unternehmen und uns Schritt für Schritt zu erzählen, was im letzten Jahr in Pauls Leben passiert ist. Wir erleben große Entwicklungen, zum Bespiel wie drei Außenseiter (oder auch genannt MoFs) langsam Freunde werden, wie sie sich zusammen den fiesen Attacken und Anfeindungen der sogenannten "Wicker Crew" um Kotzbrocken Wieland und seinen Schlägerfreund Glotz stellen müssen, wie sich Paul zum ersten Mal verliebt. Wir lesen aber auch von ganz normalen Momenten aus dem Leben eines Teenagers wie Computer-Matches unter Freunden, Schulpartys, Mathe-Unterricht, Hausarrest und nächtlichen Abenteuern. Dabei nähern wir uns auf der zeitlichen Ebene immer weiter dem Tag X, an dem einer von ihnen tragisch zu Tode kommen wird. Dass es zu einem solchen Ende kommen wird, wissen wir schon von Beginn an aus den Kapiteln der Jetzt-Ebene, die mit "Heute" betitelt wurden. Auch wenn durch die zweigeteilte Erzählweise viel vorweg genommen wurde, bleibt offen: wer, wann, wie und warum? Und so stellen wir uns zusammen mit Paul den harten aber auch wichtigen Erinnerungen und angestauten Gefühlen, mit denen er sich am Tag des Umzugs endlich befassen muss und finden so heraus, was passiert ist...

Durch die Andeutungen und Vorgriffe, die Michael Sieben gekonnt einstreut, wird gerade so viel Information preisgegeben, um den Leser neugierig zu machen. Dieses geschickte Spielen mit der Zeit ist neben der sich im Verlauf der Geschichte immer mehr herausbildenden dunklen Vorahnung, die einen beschleicht der Hauptgrund, warum die Geschichte immer spannend bleibt. Zu einem späteren Zeitpunkt beginnt auch die Handlung auf der Jetzt-Ebene sich selbstständig zu entwickeln und für Dynamik zu sorgen. Ein weiterer Punkt, der diese Geschichte so reich und spannend macht, ist, dass in diesem dünnen Büchlein so viel an Inhalt enthalten ist. Hier geht es um Freundschaft, Mobbing, Nerdkultur, Kleinstadtleben, Sexismus, Armut, alltägliche Herausforderungen und in erster Linie um die überraschend echten Gedanken und Gefühle eines Teenagers, der vielleicht ein bisschen mehr mitmachen musste, als der Durchschnitt, sonst aber jeder von uns sein könnte. Ständig dachte ich bei einer Szene, bei einem Gefühl "ja genau" und war von der leisen Weisheit beeindruckt, die sich hierin versteckt ohne sich jeweils altklug zu zeigen.

Allgemein hat mir der Schreibstil des Autors sehr gut gefallen, da man hier die angestaute jugendliche Energie der Protagonisten wunderbar nachfühlen kann. Michael Sieben schreibt erfrischend, humorvoll, bildreich - schlicht aber träumerisch schildert er Situationen greifbar real und versteckt auch immer wieder ein wenig Ironie zwischen den traurigen Momenten. Trotz der ernsten Thematik schafft es der Autor ab und zu durch trockenen Humor, wunderschöne philosophische Sätzen und eine ruhige, angedeutete Liebesgeschichte, die sich aber hier eher am Rand abspielt, aufzulockern. Etwas gewöhnungsbedürftig ist nur die fehlende wörtliche Rede in den Gegenwart-Szenen, die durch Halbsätze und Spiegelstriche ersetzt wurden. Ich weiß nicht was das immer ist mit hippen Jugendromanen und wörtlicher Rede (siehe "tschick" oder "Schöner als überall")… Ansonsten trifft der Autor genau den Ton der Jugendlichen und man nimmt den Protagonisten man ihre Jugendsprache, ihre Gefühle und ihre Denkweise ab, was absolut nicht selbstverständlich ist und bei vielen anderen Autoren schon daneben gegangen ist (zum Beispiel bei einem der zuvor genannten Bücher, ich denke ihr findet schnell raus welches ich meine ^^). "Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss.

Das Kernstück der Geschichte ist hier aber -wie so oft- die Vielfalt an skurriler aber liebenswerter Protagonisten. Natürlich ist da der Protagonist Paul, der das gesamte U-Bahn-Netz von Berlin auswendig weiß, Superhelden-Geschichten schreibt, in denen er die Gedanken anderer lesen und kontrollieren kann, in seiner neuen Klasse aber aufgrund eines misslungenen Nasen-Spruchs auf der Abschussliste steht und jeden Tag Grausamkeiten ertragen muss, die weit über peinliche Spitznamen und Hänseleien hinausgehen. Zu seiner beziehungsunfähigen Oberarzt-Mutter Bille hat er eigentlich ein gutes Verhältnis, er will sie nur nicht noch mehr belasten und behält deshalb vieles für sich. Als er langsam mehr Kontakt zu dem übergewichtigen Mehmet knüpft, der ihn als einziges wie ein Mensch behandelt und auch der kleine, schmächtige Ken mit der großen Klappe für ihn einsteht, beginnt sich seine Lage zu verbessern. Wie aus den drei komplett unterschiedlichen Außenseitern Freunde werden, ist wirklich schön mitanzusehen. Mit Wieland und Glotz und deren Clique haben die drei einen harten Gegner. Gut dass ihnen auch Kens Cousine Mara zur Seite steht, die nachts als "Wicker City Queen" feministische Botschaften auf Hauswänden hinterlässt.

Das Ende kam für mich trotz einiger Andeutungen relativ überraschend und findet einen runden Abschluss für die Geschichte, sodass wir Paul guten Gewissens auf seinem weiteren Weg alleine lassen können.


Fazit:


"Das Jahr in der Box" ist ungezwungen erzählt, aber nicht flapsig, teilweise ungewöhnlich aber nicht unrealistisch, auf nette Weise schräg aber nicht konfus und allgemein so voller witziger, glücklicher aber auch trauriger, tragischer Momente, dass man es einfach lieben muss. Eine beeindruckende Geschichte über ein Jahr voller Freundschaft, Mobbing, Abenteuer, Trauer, Gewalt, Glück, Wut und erste Liebe...

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