Jäger und Gejagte
Das wirkliche LebenDas wirkliche Leben der namenlosen, 10jährigen Ich-Erzählerin ist kaum zu ertragen. Der sadistische Vater und Großwildjäger misshandelt die Mutter psychisch und physisch, trinkt und guckt Fernsehen. Die ...
Das wirkliche Leben der namenlosen, 10jährigen Ich-Erzählerin ist kaum zu ertragen. Der sadistische Vater und Großwildjäger misshandelt die Mutter psychisch und physisch, trinkt und guckt Fernsehen. Die Mutter gleicht einer Amöbe, hält sich so gut es geht aus allem raus und kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Ziegen, während im Keller im Kadaverzimmer die ausgestopften Tiere des Vaters hängen.
Wie in einem Pulverfass nehmen die erschreckenden, brutalen und quälenden Ereignisse in einer sich konstant aufbauenden Thriller- und Angststimmung ihren Lauf. Bei einem schrecklichen Unfall müssen die Protagonistin und ihr vier Jahre jüngere Bruder Gilles mitansehen, wie der Eismann ihres Viertels in seinem Wagen explodiert. Die beiden sind schwer traumatisiert und erhalten zuhause keine Hilfe - im Gegenteil. Gilles verliert sein Lächeln und fängt an, Tiere bestialisch zu quälen, während der Vater immer mehr die Kinder als Zielscheibe seiner Misshandlung entdeckt. Das fantasievolle, empfindsame und von Schuldgefühlen geplagte Mädchen hegt von nun an den Wunsch, eine Zeitmaschine zu bauen, um wieder in die Vergangenheit vor den Unfall zu reisen. Sie beginnt sich bei einem alten Professor in Physik unterrichten zu lassen, kommt in die Pubertät und schwärmt für einen älteren Nachbarn. Je mehr ihre weiblichen Formen zunehmen, desto rasender wird der Vater, der sie eines Nachts als Beute für seine Treibjagd benutzen wird. Doch die unbändige Widerstandskraft des Mädchens ist nicht zu bremsen und erwacht da erst recht zum vollen Leben.
Adeline Dieudonné ist mit ihrem Debütroman ein faszinierender und ambivalenter Wurf gelungen - Grobheit trifft auf Zartheit, Beklemmung und Angst auf Lebensmut. Mit einer präzisen, filmischen Sprache, die trotz Gewalt und Blut mit poetischen, außergewöhnlichen Sprachbildern glänzt, katapultiert sie den Leser direkt in das scheinbar aussichtslose Leben des Mädchens und ihrem unbändigen Willen, sich daraus zu befreien, um keine Beute mehr zu sein. Und sie gibt den Leser erst wieder frei, wenn er die Geschichte zu Ende gelesen hat - abgeschreckt aufgerüttelt, hypnotisiert durchgeschüttelt und die brachialen Schläge noch im Nacken, die der Vater verteilt hat. Das entsetzt, wirkt lange nach und muss verdaut werden.