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Veröffentlicht am 23.04.2021

Rebellion einer Außenseiterin

Mado
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Die junge Mado Kaaris flieht aus Paris zurück in ihren Heimatort in der Bretagne, nachdem sie ihren gewalttätigen Ex-Freund erschlagen hat. Doch auch im Maison Blanche, der alten Bauernkneipe ihrer Mutter ...

Die junge Mado Kaaris flieht aus Paris zurück in ihren Heimatort in der Bretagne, nachdem sie ihren gewalttätigen Ex-Freund erschlagen hat. Doch auch im Maison Blanche, der alten Bauernkneipe ihrer Mutter Laure, findet sie keine Ruhe vor ihrer Vergangenheit und ihren inneren Dämonen. Gewalt, Ausgrenzung und frauenfeindliche Männer durchziehen die Lebenslinien der Frauen in der Familie Kaaris. Halt findet Mado nur bei ihrer berüchtigten und renitenten Großmutter Rosa. Sie wird ihr auch unerbittlich zur Seite stehen, als ihr rachsüchtiger Ex-Freund Mados Spur verfolgt und erste Opfer fordert. Ihre jüngere Schwester Verelle wird bald auch Bekanntschaft mit einem Mann machen, der es nicht ernst mit ihr meint. Die Enttäuschung der Schwester zusammen mit einem Familiengeheimnis rund um den Vater lassen Mados Zorn auf Männer ins Unermessliche wachsen. Kann sie sich dem eigenwilligen Bann ihrer Familie entziehen und ein eigenes Leben jenseits der Gewalt aufbauen? Oder ist sie den familiären Verstrickungen und Erblasten hilflos ausgeliefert? Mado muss sich entscheiden, bevor die nächste Situation eskaliert.

„Mado“ ist der Debütroman des Theaterregisseurs Wolfgang Franßen und schildert mit einer schnörkellosen, rasanten und manchmal auch derben Sprache ein Milieu am Rande der Gesellschaft, aus dem sich die Menschen nur schwer befreien können. Die Protagonistin Mado ist rebellisch, stur und zornig – Menschen zu lieben, hat sie nie gelernt. Sie jobt gelegentlich, tanzt sich ihre Wut nachts vom Leib, trinkt, nimmt Drogen und kämpft für ihre Freiheit. Niemand schreibt ihr vor, wie sie zu leben hat.

Eindringlich und detailliert beschreibt Franßen Mados Außenseiter-Welt und zerrütteten Familienverhältnisse und zeichnet einen Abschnitt aus ihrem Leben, das nach Aufbegehren lechzt. Trotzdem blieb mir Mado etwas auf Distanz – auch den Leser lässt sie nicht in ihr zerbrechliches Innenleben schauen, purer Zorn und Aversion gegen Konventionen halten alle Menschen von ihr fern.

Diese starken aggressiven Gefühle ziehen sich durch ihre gesamte Geschichte und bilden sogar ihren Kern, überlagern für mich aber auch einen aussagekräftigen Handlungsstrang. Dieser verliert sich meiner Meinung nach in zu vielen Details und Beschreibungen außenrum und in Mados unsteten und ruhelosen Charakter. Auch die Erzähl-Perspektive ihres Exfreundes und Boxers Marcel gaben dem Plot zwar eine Abwechslung, konnten mich aber nicht wirklich überzeugen. Auf der anderen Seite ist Franßen ein unkonventioneller Milieu-Roman gelungen, der authentischen Einblick in eine Welt der Ausgegrenzten zulässt, ohne eine Einordnung mit erhobenen Zeigefinger zu wollen. Der Leser folgt der rebellischen und störrischen Mado für eine kurze Zeit – und lässt sie weiterziehen: hoffentlich in die Freiheit und Selbstbestimmtheit und erlöst von den weitervererbten Familiendämonen.

„Was für ein trauriges Leben, in das sie da hineingeboren worden war. Ein trauriges Leben war das beschissenste überhaupt. Durch keinen Trost zu retten. (…) Plötzlich musste sie lachen, schüttelte den Kopf und schlug mit den Händen ineinander, als klatsche sie ihrer Familie Beifall.“ S. 246

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Veröffentlicht am 21.03.2021

Ednas fantastische Pilgerreise

Als wir uns die Welt versprachen
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Es gibt Herzensdinge im Leben, die müssen noch in Angriff genommen werden, auch wenn das Leben fast zu Ende ist: Die fast 90jährige Edna verlässt ihr Haus mit gemütlichem Garten nur noch selten, schwelgt ...

Es gibt Herzensdinge im Leben, die müssen noch in Angriff genommen werden, auch wenn das Leben fast zu Ende ist: Die fast 90jährige Edna verlässt ihr Haus mit gemütlichem Garten nur noch selten, schwelgt viel in der Vergangenheit. Dann liest sie wie immer ihre Zeitschrift und entdeckt auf einem Foto Jacob wieder. Mit ihm verbindet sie einen schmerzvollen, traumatischen Abschnitt im Kindesalter – beide waren verarmte Schwabenkinder, mussten weitab ihrer Heimat auf deutschen Bauernhöfen hart mitarbeiten und wurden auf „Viehmärkten“ begutachtet. Jacob hat seiner kleinen „Zimperliese“ Edna immer geholfen, ihre Freundschaft hat sie das Leid besser ertragen lassen – bis sie tragisch getrennt wurden und sich aus den Augen verloren haben. Nach den Blick in Jacobs Augen auf dem Foto steht für Edna fest: sie wird Jacob in Ravensburger Krankenhaus besuchen und hat sie sich dafür einen besonderen Weg ausgesucht: den harten über die Alpen, den sie schon als Schwabenkinder gegangen sind. Denn sie quält seit Jahrzehnten das schlechte Gewissen, will Buße tun: Sie glaubt, ein Versprechen gebrochen und Jacob im Stich gelassen zu haben.

„Aber dann, eines Tages, wenn man es am wenigsten erwartete, geschah etwas, was einen zurückbrachte. Und dann war es, als wäre man nie weg gewesen. Als zähle die ganze Zeit, die seit diesem Augenblick vergangen war, überhaupt nichts mehr.“ S. 141

Kurzerhand packt sie ihren kleinen Koffer und ihren geliebten Papagei Emil ein – (er stammt noch von Jacob aus der Schwabenkinder-Zeit), kramt eine sehr alte Landkarte von damals aus und wandert los, ohne zu wissen, wo sie übernachten kann und was sie zu Essen bekommt. Unterwegs passiert ihr allerhand Skurriles, Dramatisches und Berührendes – sie trifft auf die verschiedensten Menschen, die ihr helfen, von denen sie aber auch noch lernen kann und jeder geht aus den Begegnungen verändert weiter. Sie entwickelt schier unglaubliche Kräfte in ihrem Alter, um einem verloren geglaubten Versprechen nachzugehen. Und eventuell bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Unterwegs gehen ihre Erinnerungen und Gedanken kontinuierlich zurück in die Zeit auf dem Bauernhof und zu den bewegenden und traurigen Erlebnissen als Schwabenkind.

So komponiert die Autorin Romina Casagrande ihren szenischen Roman in zwei Zeitsträngen und packt allerhand menschliche Schicksale und bunte Charaktere auf der Reise in ihre Handlung. Die bildgewaltigen Naturbeschreibungen und die berührenden Rückblenden zusammen mit ein paar poetisch, nachdenklichen Sätzen sind schön herausgearbeitet. Der fast fantastisch anmutenden Pilgerreise der hochbetagten Edna in der Jetzt-Zeit fehlt es etwas an Glaubwürdigkeit und Authentizität – dafür gab es umso mehr Slapstick. Wer sich daran nicht stört, den erwartet ein emotionaler, leichtfüßiger und humorvoller Roman, der einen wichtigen und traurigen Teil der Geschichte rund um die Schwabenkinder miteinwebt und sehr menschlich ist.

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Veröffentlicht am 03.04.2020

Wilde Hirschgulascherzählungen

Das eiserne Herz des Charlie Berg
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Charlie Berg hat einen sehr ausgeprägten Geruchssinn und es nicht leicht - die gescheiterten Künstlereltern sind nur mit ihrer eigenen Verwirklichung beschäftigt, die autistisch veranlagte Schwester ist ...

Charlie Berg hat einen sehr ausgeprägten Geruchssinn und es nicht leicht - die gescheiterten Künstlereltern sind nur mit ihrer eigenen Verwirklichung beschäftigt, die autistisch veranlagte Schwester ist ein wandelndes Zitatenlexikon und er träumt mit 19 Jahren von einer Freundin: Am liebsten die mexikanische Videobrieffreundin. Sein einzigster Lichtblick, um aus Piesbach zu entfliehen ist eine Zivistelle am Wattenmeer - doch da stellen sich so einige Hürden und Kriminalgeschichten wie der Tod des Opas in den Weg.

Bei den Bergs gab es nach oder vor großen Reisen immer Hirschgulasch, um sich dann ausgiebig von dem Erlebten zu erzählen - die berühmten großen Hirschgulascherzählungen. Ein bisschen kommen mir die über 700 Seiten des Autors auch so vor: buntgewürftelte, viele Stückchen an ausschweifenden Erinnerungen und verschrobenen Charakteren, sehr detailliert ausgeweitet und verrührt. Und am Ende der Lektüre kann ich mich kaum noch an den Geschmack des Gulaschs erinnern.

Sebastian Stuerz hat eine wunderbare Fantasie, kann tolle Sprachbilder, überraschende Wendungen und witzige Situationskomik entwerfen. Die Idee mit dem Geruchssinn, dem Literaturwettbewerb und den Charme der 90er-Jahre mit den Videotapes fand ich gelungen. Aber für meinen Geschmack gab es zu viele Einblicke in die Pubertät von Charlie, ein wenig mehr Zentriertheit und weniger vulgäre Begebenheiten hätten dem Roman besser getan. Der Autor hat viel Potenzial und ich bin gespannt, welche Geschichte er beim nächsten Mal 'kocht'.

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Veröffentlicht am 26.03.2020

Wakala und Saubazi

Das kann uns keiner nehmen
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Hans, ein eher verschlossener Hanseat, und der derb-aggressive Saubazi Tscharli treffen bei ihrer Kilimandscharo-Besteigung aufeinander. Hier, am höchsten Bergmassiv Afrikas, zwischen Himmel, Wolken und ...

Hans, ein eher verschlossener Hanseat, und der derb-aggressive Saubazi Tscharli treffen bei ihrer Kilimandscharo-Besteigung aufeinander. Hier, am höchsten Bergmassiv Afrikas, zwischen Himmel, Wolken und Erde entsteht aus anfänglicher Unsympathie und Falschbeurteilen eine Freundschaft. Denn Tscharli hat zwar einen sehr harten und teils obszönen Kern, verbirgt aber so manches weiches Geheimnis. Stück für Stück lässt der "Beißer" Hans hinter seine Fassade blicken. Als klar wird, dass Tscharli schwer krank ist, begeben sich die beiden auf eine abenteuerliche Reise durch Afrika - von Tansania bis nach Sansibar (eine schöne Landkarte hierzu ziert den inneren Buchumschlag). Hier ist vor allem die Darstellung von Land und Leute sehr detailreich und anschaulich. Eher beschwerlich und manchmal sehr nah an der Schmerzgrenze sind die vielen vorlauten Bemerkungen und Kommentare von Tscharli in seinem anstrengenden Fantasie-Suhali-Bairisch-Englisch - nicht selten musste ich ein Wörterbuch online zurate ziehen und eher schaudern als schmunzeln.

Matthias Politycki verarbeitet neben den bunten Roadtrip-Eindrücken auch eine autobiografisch geprägte Krankheitsgeschichte in Afrika - diese kommt auf den letzten Seiten sehr detailreich geschildert zur Geltung und verlangt wegen den vielen Durchfall- und Eiterschilderungen eine Menge vom Leser ab.

Mich konnte der rasante Roman leider nicht ganz fesseln - vieles erschien mir zu gewollt und etwas zu plakativ. Trotzdem hat er auch viele nennenswerte und schöne Momente, die vom Leben, Scheitern, Tod und das Revidieren von Urteilen handeln - und von einer ganz besonderen, wenn auch nicht von Anfang an gewollten Männer-Freundschaft. Letztere hat beiden geholfen, wichtige Lebensabschnitte zu verarbeiten und die Schwelle zum Horizont zu betreten.

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Veröffentlicht am 04.05.2020

Wirrungen um Gender, Sexualität und Neuerfindung

Mrs Fletcher
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Die geschiedene Eve ist Mitte Vierzig und weilt nicht lange im Empty-Nest-Syndrom, nachdem sie ihren Sohn Brendan zum College gebracht hat. Neuentdeckung, Neuerfindung und das Ausleben sexueller Fantasien ...

Die geschiedene Eve ist Mitte Vierzig und weilt nicht lange im Empty-Nest-Syndrom, nachdem sie ihren Sohn Brendan zum College gebracht hat. Neuentdeckung, Neuerfindung und das Ausleben sexueller Fantasien sollen in ihrem zukünftlichen Mittelpunkt stehen. Sie entdeckt den Ausdruck MILF, findet Gefallen an Internet-Pornografie und datet verschiedene Personen. Zudem belegt sie einen Abendkurs am örtlichen College in "Gender und Gesellschaft" - ein Thema, das sich neben dem Suchen und Finden von Liebe und Sexualität durch das gesamte Buch ziehen wird.

Im Kurs findet sich eine bunte Truppe an Menschen zusammen, einschließlich der Dozentin Margo, einer Transgender-Frau und Eves bisexueller Arbeitskollegin und Begierdeobjekt Amanda. Während Eve ihre neu gewonnene Freiheit und den Ausbruch aus bestimmten Gedankenmustern genießt, hat ihr Sohn Brendan mit seinen noch unreifen und menschenfeindlichen Ansichten keinen Erfolg am College - er wird es hinschmeißen. Auch seine Sicht wird immer wieder in die Erzählperspektive im Roman verwoben.

Amouröse Gefühle und Verwicklungen mit einiger Situationskomik, ohne in die Sparte Erotikroman zu fallen, ist die Stärke des Romans. Die Themen Gender, Geschlechtervielfalt, Feminismus, Frauen- und Transfeindlichkeit, Behinderung, Altwerden sowie das Loslassen eines Kindes ziehen sich durch das Buch und poppen immer wieder auf, ohne gezielt mit dem Zeigefinger auf Missstände oder die eigene Unperfektion zu zeigen. Eher soll es wohl eine Gesellschaftssatire sein, doch da fehlt es mir an manchen Stellen an Humor.

Eves Neuerfindung und Wandlung zu Ursula ist mit einigen Schwankungen verbunden, langes Hin und Her, ein plagendes, schlechtes Gewissen nach manchen Dates und am Ende doch die Heirat mit einem Mann ihres Alters. Insgesamt lässt mich der Roman etwas ratlos zurück, mir hat der Tiefgang in das Seelenleben und in die Handlungsimpulse der vorgestellten Menschen gefehlt - einzig und alleine Margo wird mir in Erinnerung bleiben.

Es ist ein unterhaltsamer, amüsanter und teils auch melancholischer Roman, der sich leicht lesen lässt - wenn man nicht mehr Sinn darin sucht als das alltägliche Leben und seine Aufs und Abs an sich.

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