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Veröffentlicht am 27.09.2022

Verhängnisvolle Aufnahmen

Teen Couple Have Fun Outdoors
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Der junge talentierte Autor Aravind Jayan erzählt in seinem humorvoll-scharfsinnigen Debüt „Teen Couple Have Fun Outdoors“ von einer turbulenten Familienkrise im südindischen Trivandrum, Kerala – dabei ...

Der junge talentierte Autor Aravind Jayan erzählt in seinem humorvoll-scharfsinnigen Debüt „Teen Couple Have Fun Outdoors“ von einer turbulenten Familienkrise im südindischen Trivandrum, Kerala – dabei bestimmen vor allem Scham, Ehrgefühl und sturköpfige Moralvorstellungen das Handeln der vier Familienmitglieder aus der Mittelklasse.

Was sollen nur die Leute denken? Besonders in Indien herrschen noch immense Ansprüche auf einen guten Ruf und gesellschaftliches Ansehen im Umfeld – so ist es nicht verwunderlich, welche große Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne auftaucht, als ein Sex-Video des Sohnes online rasant die Runde auf diversen Internet-Portalen macht. Eltern Amma und Appa sind außer sich, als sie die prekären Aufnahmen von Sreenath mit seiner Freundin Anita im Freien sehen und werfen den 20-jährigen Sohn kurzerhand aus dem gemeinsamen Haus. Zu tief sitzen die große Scham und das verletzte Ehrgefühl, das auch das neue Statussymbol, der polierte weiße Honda Civic vor der Tür, nicht mehr retten kann. Dabei ist doch im Stadtteil Blue Hills alles so sauber und in ordentlichen Bahnen.

Sreenaths zwei Jahre älterer Bruder und der pfiffig-kluge Ich-Erzähler dieser eindringlichen Geschichte hat einen scharfbeobachtenden Blick auf den Konflikt sowie den neuen, schnelllebigen Technologien samt Internet und versucht geschickt zwischen Sree und Eltern zu vermitteln, wo es nur geht. Seine authentisch-frische Stimme trägt den beschwingt erzählten Roman trotz sehr ernstem Thema und sprüht vor intellektuellem Witz und bittersüßem Charme. Er zieht Vergleiche zu Kafka und Tolstoi, interessiert sich leidenschaftlich für die Kultur und schreibt journalistische Artikel – nebenbei erfährt der interessierte Leser noch jede Menge über das moderne, aufgeschlossene Indien im Konflikt mit alteingewachsenen Traditionen samt Klassensystem und die Tücken des Klatschsystems im Internet samt Social Media. Und am Ende lässt sich der Ich-Erzähler ein wenig von dem rebellischen Charakter des Bruders anstecken.

Die geistvoll erzählte Geschichte über einen indischen Generationen-, Moral- und Statuskonflikt besticht durch die unaufgeregte, detaillierte Schilderung der Geschehnisse innerhalb des jungen Paares und der Familien und ihren teils urkomischen Versuchen, das gesellschaftliche Ansehen und die öffentliche Meinung über ihr Leben wieder herzustellen. Dabei könnte man dem Plot unterstellen, dass eigentlich wenig Aufregendes passiert und doch entfaltet „Teen Couple Have Fun Outdoors“ mit dieser indischen Kleinstadt-Tragikomödie eine packende Sogwirkung mit vielen faszinierenden Einblicken und es bleibt spannend, welche literarischen Werke noch von Aravind Jayan folgen werden!

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Veröffentlicht am 27.09.2022

Verrückte Liebesobsession

Ich verliebe mich so leicht
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Die schmale Novelle „Ich verliebe mich so leicht“ vom französischen Bestseller-Autor Hervé Le Tellier besticht durch seine lakonische und lebenskluge Erzählfreude voller literarischen und filmischen Bezügen ...

Die schmale Novelle „Ich verliebe mich so leicht“ vom französischen Bestseller-Autor Hervé Le Tellier besticht durch seine lakonische und lebenskluge Erzählfreude voller literarischen und filmischen Bezügen – über einen älteren Mann, der in verrückter Liebesobsession seiner 20 Jahre jüngeren Geliebten in ein abgelegenes, schottisches Dorf folgt.

Der namenlose und von der Liebe verdrehte und etwas aufdringliche Protagonist wird von Le Tellier als Held umschrieben und ist nicht gerade vom Glück verfolgt – seine Anreise beginnt schon mit einem verspäteten Flug und auch seine Avancen laufen ins Leere, das Treffen mit der Angebeteten in den Highlands endet in einem frustrierten Liebesaus. Das Ganze ist eigentlich schnell erzählt, doch Le Tellier lässt in 12 humorvoll-scharfsinnigen Kapiteln die kleine Geschichte durch seine leichtfüßige und doch sehr treffsichere Sprache glänzen, die diesmal zwar etwas altmodisch angehaucht ist, aber jeder Satz sowie jede Andeutung sitzen perfekt.

Feinfühliger Humor trifft hierbei auf eine auktoriale Erzählperspektive, die durch faszinierenden Variantenreichtum und pfiffigen Kapitelsynopsen viel Lesefreude bereitet. Und auch zwischen den Zeilen verstreut Le Tellier zwischen den ironischen Reflektionen des Helden und den detaillierten Beobachtungen in der schottischen Natur allerhand schlaue Querverweise, die dazu einladen, das schmale Buch immer wieder zur Hand zu nehmen. Das einzige Manko: Es ist viel zu schnell zu Ende!

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Veröffentlicht am 25.09.2022

Kleine Frevel in die Freiheit

Church Ladies - SWR Bestenliste Oktober 2022
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Deesha Philyaw entwirft in ihrem vielgelobten Erzählband „Church Ladies“ ein empathisches, poetisches und kraftvolles Panorama an jungen Afroamerikanerinnen, die sich von der christlichen Kirche indoktrinierten ...

Deesha Philyaw entwirft in ihrem vielgelobten Erzählband „Church Ladies“ ein empathisches, poetisches und kraftvolles Panorama an jungen Afroamerikanerinnen, die sich von der christlichen Kirche indoktrinierten Schuld und Scham befreien. In neun eindringlichen Short Stories und mit einer lyrischen Prosa stehen dabei ganz unterschiedliche persönliche Konflikte der Protagonistinnen im Vordergrund und doch ähneln sie sich im Motiv: Weg mit dem strengen und scheinheiligen Moralkatalog, den die Mütter, Pastoren oder der Bibelkreis predigen und der das eigene Ausleben von Wünschen, Weiblichkeit und Selbstbestimmung gehemmt hat.

Dabei spielt Deesha Philyaw in ihrem eindrucksvollen Debüt mit einer Bandbreite an Emotionen und literarischen Erzählweisen: mal frivol-frech, nachdenklich-melancholisch oder humorvoll-lakonisch, mal auktorial oder als langer Ich-Monolog zeichnet sie auch mit Briefen, Tagebucheinträgen oder fein beobachteten Szenen ein sehr sinnliches und authentisches Bild von Frauen, die einen Blick hinter die Doppelmoral in ihrem strengen kirchlichen Umfeld werfen und sich sexuell oder emotional befreien. Klug, bewegend und pointiert erhält der Leser dabei einen tiefen Blick in die Seelen, Sehnsüchte und Gedanken der jungen Frauen, aber auch in destruktive familiäre Konstrukte, die jahrelang unterdrücken und verletzen.

Die Autorin verwebt gekonnt nuancierte Erzählfreude mit Lebensweisheit – lange war sie selbst in Gottesdiensten und Kirchengemeinden präsent. Diese Authentizität und präzise Beobachtungsgabe zeichnen die talentierte und vielversprechende Autorin aus und lassen die fein geschliffenen Kurzgeschichten lange nachhallen.

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Veröffentlicht am 24.06.2022

Fäden in der Welt

Fischers Frau
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Die Bestsellerautorin Karin Kalisa spinnt in ihrem neuen märchenhaften Roman „Fischers Frau“ bunte Garn- und Erzählfäden in der ganzen Welt, um sie knotenweise und fantastisch wieder zusammenzuführen. ...

Die Bestsellerautorin Karin Kalisa spinnt in ihrem neuen märchenhaften Roman „Fischers Frau“ bunte Garn- und Erzählfäden in der ganzen Welt, um sie knotenweise und fantastisch wieder zusammenzuführen. Dabei geht es im Kern um eine fast unbekannte Begebenheit in den späten 1920er-Jahren an der Ostsee: Ein Fischfangverbot über drei Jahre zwang Fischer und ihre Frauen weg vom Boot und an den Webstuhl, um kunstvolle Fischerteppiche mit Motiven der See zu knüpfen.

Ein ganz außergewöhnliches Prachtstück in seltenen und schimmernden Grüntönen bekommt Kuratorin und Faserexpertin Mia Sund von ihrem Kollegen in Greifswald vorgelegt – er wird die zurückgezogene Frau so faszinieren, dass sie ihr altes, ödes Leben zurücklässt und einen Aufbruch in etwas Neues wagt. In einer Teppichwerkstatt in Zagreb versucht sie zusammen mit dem Inhaber den Geheimnissen des Persers auf die Spur zu kommen und gräbt sich gedanklich immer tiefer in das Leben der mystischen Schöpferin und Märchenerzählerin Nina Silke Strad.

Karin Kalisa verknüpft das Leben der Frauen Mia und Nina auf kreative und poetische Weise und webt gekonnt immer wieder Bezüge zum Märchenerzählen mitein. Empathisch, feinsinnig und verspielt im Ausdruck changiert die versierte und fabulierfreudige Autorin zwischen Fiktion und historischen Ereignissen, Wahrheit und Fälschung, Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen „es war und es war nicht“, wenn Mia die mysteriösen und magischen Chiffren des Teppichs zu entknoten versucht und dabei tief in ihre eigene Vergangenheit taucht. Mancher märchenhafter Erzählstrang mag dabei etwas zu versponnen sein, doch Kalisas verträumt-detaillierter Blick auf die bewegenden Lebenslinien zweier faszinierender Frauen inspiriert zum Reflektieren und Philosophieren.

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Veröffentlicht am 03.06.2022

Begehrenswerte Doppelgängerin

Ein französischer Sommer
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Die junge Autorin Francesca Reece entführt in ihrem mysteriös-atmosphärischen und prickelnden Debüt auf rund 450 Seiten in die Sonne und Straßen Südfrankreichs sowie in dunkle Vergangenheiten, Geheimnisse ...

Die junge Autorin Francesca Reece entführt in ihrem mysteriös-atmosphärischen und prickelnden Debüt auf rund 450 Seiten in die Sonne und Straßen Südfrankreichs sowie in dunkle Vergangenheiten, Geheimnisse und Projektionen.

Das Studium in der Tasche, jobbt die junge attraktive Engländerin Leah in Paris und genießt ihr Bohème-Leben sowie ihre Sexualität in vollen Zügen – eine Announce eines bekannten Autors und ein darauffolgender Ferienjob in Südfrankreich wird ihrem Leben eine neue Wendung geben. Als Assistentin für den narzisstischen, egozentrischen und ins Alter gekommenen ehemaligen Kultschriftsteller Michael Young soll sie delikate Tagebücher aus der Jugend transkribieren – Young möchte anhand der Aufzeichnungen nochmal einen Erfolgsroman veröffentlichen. Sie verbringt den Sommer zusammen mit Youngs intellektueller Familie in deren Villa an der Côte d’Azur – und taucht dabei tief ein in die Kapriolen sowie sexuellen Abenteuer des Autors, die an unterschiedlichen Orten wie in den ausschweifenden 60er-Jahren in London sowie ins griechische Athen unter der Militärjunta stattfinden. Je mehr sie sich mit der Vergangenheit von Young beschäftigt, desto mystisch-dubioser wird eine Sache: Sie sieht der großen und unter mysteriösen Umständen verschwundenen Jugendliebe des Autors verblüffend ähnlich.

Aus den zwei auch stilistisch stark unterschiedlichen Erzähl-Perspektiven von Leah und Young verwebt Reece dabei gekonnt und doch etwas verworren Vergangenes mit der Gegenwart, in der Leah den Swimming-Pool, das nonchalante Treiben in den französischen Städten und verschiedene Liebeleien genießt. In diese Szenen mischen sich szenisch dicht die anderen Handlungsorte wie London und Athen und die Zeitebenen verschmelzen miteinander – vor allem Young scheint diese Zeitmelange nicht mehr unterscheiden zu können, während Leah sich in einer Art Selbstfindungsgeschichte in diversen Sehnsüchten samt drogeninduzierten Eskapaden in der Familie verliert und nicht nur Projektion und Objekt von Youngs Empfindlichkeiten sein möchte.

In einer ironisch-scharfsinnigen Atmosphäre zwischen Sally Rooney und François Ozon baut Reece eine subtile und voyeuristische (passender Originaltitel) Spannung auf – mit intimen Einträgen des Tagebuchs eines zynischen Autors mit Schreibblockade, der Leah als Muse benutzt und sich verweigert, das Jetzt und Heute sowie sein vorschreitendes Alter und Schuld aus der Vergangenheit zu akzeptieren. Und über dem ganzen Bourgeoisie-Dasein schwebt das Damoklesschwert von Astrids Verschwinden und einer unausgesprochenen Schuld.

Sprachlich größtenteils stark, soghaft und bildgewaltig, hat das sinnlich-freche Debüt leider auch seine Schwächen – neben dem eher unrealistischen Doppelgängertum laufen zu viele Nebenschauplätze und -darsteller sowie der dicht aufgebaute Haupthandlungsstrang am Ende etwas ins Leere. Wer bereit ist, das zu akzeptieren, wird trotzdem seine leichtfüßige Lesefreude an diesem geistreich-selbstironischen und stimmungsvollen Sommerroman haben, der mit viel französischem Flair und Lebensgefühl an mediterrane Orte und in die Tiefen von Zeit, Klassenunterschiede und sehnsuchtsvollen Projektionen reist.

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