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Veröffentlicht am 26.12.2023

Wenn die Zeit vergeht, vergeht das Leben

Die Verletzlichen
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Im Mittelpunkt des neuen Romans von Sigrid Nunez steht eine namenlose Schriftstellerin, die als Ich-Erzählerin während der Pandemie den Lockdown in New York erlebt. Eine Freundin bittet sie um Hilfe, ...


Im Mittelpunkt des neuen Romans von Sigrid Nunez steht eine namenlose Schriftstellerin, die als Ich-Erzählerin während der Pandemie den Lockdown in New York erlebt. Eine Freundin bittet sie um Hilfe, als ein Student, der in der Wohnung einer Freundin dieser Frau den Papagei Eureka während der Abwesenheit der Besitzerin versorgen soll, überraschend auszieht. Die Schriftstellerin erklärt sich dazu bereit und freundet sich mit dem Vogel an. Als eines Tages der Student zurückkommt, leben sie eine Weile beide in der Wohnung, und es entwickelt sich eine Art Freundschaft. Das ist der rudimentäre Plot, der jedoch keinen breiten Raum im Roman einnimmt. Es geht um viele andere Themen: Leben und Schreiben in Zeiten der Pandemie, menschliches Miteinander und Fürsorge für andere, die Besonderheiten des Zusammenlebens mit einem Tier, das Vergehen der Zeit und damit des Lebens und nicht zuletzt um Literatur. Die sehr belesene Autorin nennt und zitiert eine Vielzahl von Autoren der europäischen Literatur, was mir besonders gut gefallen hat.
Auch wenn der Roman keine stringente Handlung hat, habe ich ihn gern gelesen und bewundere die sprachliche Eleganz der Autorin, von der ich bereits mehrere Romane kenne. Sehr lohnend, wenn man bereit ist, sich auf eine etwas andere Art von Roman einzulassen. Die erhebliche Zahl sprachlicher Verstöße hätte allerdings gut ein gründliches Lektorat vertragen.

Veröffentlicht am 31.10.2023

Erinnern und Vergessen

Memoria
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Zoe Becks Roman “Memoria“ spielt in Deutschland in der nahen Zukunft. Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten und verursacht immer wieder gefährliche Brände. Eines Tages befindet sich Protagonistin ...


Zoe Becks Roman “Memoria“ spielt in Deutschland in der nahen Zukunft. Der Klimawandel ist weiter fortgeschritten und verursacht immer wieder gefährliche Brände. Eines Tages befindet sich Protagonistin Harriet, 32 in einem Zug, der auf freier Strecke hält, weil ein Seniorenheim wegen eines Großbrandes evakuiert werden muss. Harriet steigt aus wie viele andere auch. Plötzlich sieht sie am Fenster eines Hauses eine alte Frau, die verzweifelt um Hilfe ruft. Zusammen mit zwei anderen Frauen rettet Harriet sie in letzter Minute und bringt alle mit dem Auto der Frau in Sicherheit. Diese Episode löst bei Harriet Fragen und Erinnerungen aus: Die Frau hat sie mit ihrem Namen angesprochen, und sie hat sich automatisch ans Steuer gesetzt, obwohl sie glaubt, nie einen Führerschein besessen zu haben – ein Irrtum, wie sich zeigen wird. Harriet beginnt, ihre Vergangenheit zu erforschen. 15 Jahre zuvor ist etwas Furchtbares geschehen, aber sie weiß nicht was. Sie erinnert sich an Gewalt, die sie erlitten und selbst ausgeübt hat. Die rätselhafte Verletzung einer Hand beendete die geplante Karriere als Konzertpianistin, und Harriet wurde stattdessen Klavierbauerin. Die Familie zog damals überstürzt von München nach Frankfurt. Dort lebt Harriet nach dem Tod der Mutter in sehr prekären Verhältnissen, obwohl die Familie einst reich war.
Harriet dringt immer tiefer in ihre Vergangenheit ein und kommt lange verborgenen Geheimnissen auf die Spur. Ihre Nachforschungen bringen sie jedoch zunehmend in Gefahr. Immer wieder wird die Zuverlässigkeit von Erinnerungen in Frage gestellt. Harriet kann sich jedenfalls nicht darauf verlassen, dass das, was sie für wahr hält, tatsächlich geschehen ist. Die Autorin hat diese Thematik, verbunden mit den Ereignissen in Harriets Leben, zu einem spannenden, gut lesbaren Thriller verarbeitet, den ich gern weiterempfehle.

Veröffentlicht am 30.07.2023

Eltern können ihre Kinder nicht beschützen

Sekunden der Gnade
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Dennis Lehanes neuer Roman spielt im Jahr 1974 in Boston. Hier lebt in einem ärmeren weißen Viertel die Krankenschwester Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Julia genannt Jules. Ihr erster Mann ist verstorben, ...


Dennis Lehanes neuer Roman spielt im Jahr 1974 in Boston. Hier lebt in einem ärmeren weißen Viertel die Krankenschwester Mary Pat Fennessy mit ihrer Tochter Julia genannt Jules. Ihr erster Mann ist verstorben, der zweite hat sie wegen einer Jüngeren verlassen. Ihr geliebter Sohn Noel starb nach seiner Rückkehr aus dem Vietnamkrieg an einer Überdosis Heroin. Jetzt ist sie allein mit ihrer 17jährigen Tochter. Es ist ein heißer Sommer mit Demonstrationen gegen die geplante Umsetzung der Aufhebung der Rassentrennung. Schüler aus schwarzen Vierteln sollen mit Bussen zu weißen Highschools gebracht werden und umgekehrt. Eines nachts kehrt Jules nicht nach Hause zurück. In derselben Nacht wird ein junger Farbiger tot neben den Gleisen am Bahnhof gefunden. Sein Auto war ausgerechnet in einem weißen Viertel liegengeblieben, wodurch er automatisch in Lebensgefahr geriet. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten um Augustus Williamson, den Sohn einer Kollegin von Mary Pat handelt. Mary Pat sucht verzweifelt nach ihrer Tochter, stellt eigene Nachforschungen an und begreift schließlich, dass Jules nicht mehr lebt. Sie hat sie über alles geliebt, aber sie konnte sie nicht beschützen. Nun hat sie das Einzige verloren, das ihr etwas bedeutete. Deshalb beginnt sie einen privaten Rachefeldzug und setzt dabei ihr Leben aus Spiel. Denn sie hat mächtige Gegner in den brutalen Schlägern des organisierten Verbrechens, die aufgrund von Korruption all die Jahre unbehelligt von der Polizei ihren Geschäften nachgehen konnten. Auch die kleinen Leute im Viertel müssen Schutzgeld zahlen.
Der spannende Roman mit teilweise recht brutalen Szenen beschreibt eine von Hass und Wut und von allgegenwärtigem Rassismus gekennzeichnete Welt, die auch fast 50 Jahre später trotz der offiziellen Aufhebung der Rassentrennung nicht verschwunden ist. Man muss nur an die krassen Beispiele von Polizeigewalt gegen Farbige denken und an die überproportional hohe Zahl dieser jungen Leute in Gefängnissen. Als Zeitzeuge der genannten Ereignisse in den 70ern macht der Autor nicht nur die Atmosphäre dieser Epoche sichtbar, sondern zeigt auch in der Figur der Mary Pat die Folgen von Verlust und Trauer, ihren Hass und ihre Wut, die sich in einem brutalen Rachefeldzug entladen. Ich kenne viele der älteren Romane des Autors, und auch das neue Buch hat mir gut gefallen.

Veröffentlicht am 27.03.2023

Ein Ort fürs Verstecken gemacht

Wolfskinder
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Jakobsleiter ist ein Ort hoch in den Bergen, weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Dort lebt seit vielen Jahren die religiöse Gemeinschaft der Täufer mit ihrem Anführer Isaiah, der den anderen weismacht, ...

Jakobsleiter ist ein Ort hoch in den Bergen, weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Dort lebt seit vielen Jahren die religiöse Gemeinschaft der Täufer mit ihrem Anführer Isaiah, der den anderen weismacht, dass unten im Dorf das Böse lauert. Sie wollen mit der modernen Welt nichts zu tun haben und bleiben unter sich. Schweigen ist hier das oberste Gebot. Die Journalistin Smilla hat in dieser Gegend zehn Jahre zuvor ihre Freundin Juli beim Campen zuletzt gesehen. Sie hat nie aufgehört, nach ihr zu suchen und sich schuldig zu fühlen. Sie sammelt alle Fälle von Frauen, die hier im Laufe der Jahre verschwunden sind und nutzt ihr Volontariat zu weiteren Recherchen. Dann verschwindet Rebekka, ein Mädchen aus der Siedlung, befreundet mit Jesse, der ebenfalls dort lebt. Wenig später wird auch Laura Bender, die Lehrerin der Dorfschule vermisst, als sie in die Berge aufbricht, um nach Rebekka zu suchen. Eines Tages begegnet Smilla ein verwahrlostes, stummes Mädchen namens Edith, das der Freundin Juli verblüffend ähnlichsieht. Ist Edith Julis Tochter? Lebt Juli am Ende noch? Im Unterschied zu Jesse und Rebekka darf die kleine Edith nicht einmal zur Schule gehen. Als durch Smillas Fund eines Videos im Archiv ihres Arbeitgebers die Medien aufmerksam werden, wird endlich auch die Polizei aktiv.
Die Autorin erzählt die von Anfang bis Ende spannende Geschichte aus sechs verschiedenen Perspektiven – Smilla, Laura, Jesse, Rebekka, Edith und Isaiah - und baut von Anfang an eine düstere, bedrohliche Atmosphäre von ständig lauernder Gefahr auf, so dass der Leser sich auf die Aufdeckung schlimmster Verbrechen gefasst macht. Einiges ahnt oder errät man, aber insgesamt birgt die Auflösung große Überraschungen. Die Charakterisierung der Figuren ist sehr gelungen, nicht zuletzt die des von Jesse geretteten und gezähmten Wolfs Freigeist, der keine unwesentliche Rolle im finalen Showdown spielt. Auch sprachlich ist der Roman durchweg gelungen. Ein erstaunliches, empfehlenswertes Thrillerdebüt.

Veröffentlicht am 03.09.2022

Vom Privileg, ein Leben ohne Privilegien kennengelernt zu haben

Anleitung ein anderer zu werden
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“Anleitung ein anderer zu werden“, der neue Roman von Edouard Louis, ist wie seine vier Vorgänger autobiografisch. Wie schon in “Das Ende von Eddy“ erzählt er von seiner von extremer Armut geprägten Kindheit ...

“Anleitung ein anderer zu werden“, der neue Roman von Edouard Louis, ist wie seine vier Vorgänger autobiografisch. Wie schon in “Das Ende von Eddy“ erzählt er von seiner von extremer Armut geprägten Kindheit in einem kleinen Dort in der Picardie. Weil er anders ist als andere, wird er schon als kleiner Junge als Schwuchtel und schwule Sau beschimpft und immer wieder körperlich angegriffen. Er hat von Anfang an nur einen Wunsch, diesem Milieu zu entkommen und Rache für diese schreckliche Kindheit zu nehmen. Eine erste Chance auf Veränderung bietet sich ihm, als er das Gymnasium in Amiens besuchen darf. Er findet in Elena eine enge Freundin, die ihm durch ihr weltoffenes, gastfreundliches Elternhaus eine andere Welt erschließt. Nach dem Abitur helfen ihm andere gebildete, gutsituierte Freunde, sich auf die Prüfung für die Ecole Normale Supérieure vorzubereiten, denn Eddie, der sich inzwischen Edouard nennt, hat begriffen, dass Bildung Macht ist und dass man den sozialen Aufstieg nicht wirklich ohne den Besuch einer Eliteschule schafft. In diesen Jahren bis Mitte 20 lebt er wie ein Getriebener, besessen vom Wunsch nach Veränderung, immer wieder bemüht, sich an ein neues Umfeld anzupassen und zieht weiter, wenn es nicht funktioniert. Er versucht, alle Leben zu leben, obwohl dieser Versuch durch seine Herkunft eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Keiner aus seinem Dorf hat diesen Neuanfang bisher geschafft, nicht einmal die jungen Männer, die Kellner oder Koch werden wollten.
In Louis Buch steckt mehr als sein persönliches Schicksal. Es enthält auch eine gute Portion Sozialkritik, zeigt es doch, dass die gut situierte Hälfte der französischen Gesellschaft gar nicht weiß, wie erbärmlich die andere Hälfte zum Teil lebt. Das zeigt sich schon in der Schule, wenn Eddy das Kantinenessen für sich abbestellen muss, weil kein Geld da ist und ihm gesagt wird, seine Eltern sollten sich doch mal ein bisschen bemühen. Noch krasser ist die Szene in der Zahnarztpraxis in Paris, wo er vier Jahre lange seine kaputten, schiefen Zähne reparieren lässt, weil es mit einem solchen Gebiss niemand nach oben schafft. Die entsetzte Zahnärztin behauptet, jeder in Frankreich könne sich einen Zahnarztbesuch leisten. Schließlich gebe es die Krankenversicherung, die den größten Teil der Kosten abdeckt. Dass Menschen wie in seinem armen Dorf in der Provinz nicht einmal jeden Tag etwas zu essen haben, weiß auch sie nicht.
Mir hat das Buch gut gefallen, obwohl mir vieles bereits aus “Das Ende von Eddy“ und “Im Herzen der Gewalt“ bekannt war und wir ja auch wissen, wie die Geschichte ausgeht: Edouard Louis, 30, hat es geschafft und ist einer der führenden Autoren der französischen Gegenwartsliteratur.