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Veröffentlicht am 18.02.2024

Der Elefant im Raum

Ein falsches Wort
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In ihrem Roman “Ein falsches Wort“ schreibt Vigdis Hjorth die Geschichte einer dysfunktionalen Familie aus der Sicht der ältesten Tochter Bergljot. Im Alter zwischen 5 und 7 wurde sie von ihrem Vater ...


In ihrem Roman “Ein falsches Wort“ schreibt Vigdis Hjorth die Geschichte einer dysfunktionalen Familie aus der Sicht der ältesten Tochter Bergljot. Im Alter zwischen 5 und 7 wurde sie von ihrem Vater missbraucht, ein Trauma, das ihr ganzes Leben überschattete, obwohl sie nach Zusammenbrüchen durch eine Psychotherapie Hilfe suchte. Als sie sich in ihrer Kindheit und Jugend immer deutlicher an die Geschehnisse erinnerte, fand sie in ihrer Familie keine Unterstützung, im Gegenteil. Die Mutter beschützte sie nicht und ließ nicht zu, dass die Wahrheit ans Licht kam. Ein öffentlicher Skandal hätte ihr Ansehen beschädigt und das Ende ihrer Ehe bedeutet, die durch ihre Affaire mit Rolf Sandberg ohnehin gefährdet war. Stattdessen beschimpfte sie ihre Tochter als psychopathische Lügnerin, die nur Aufmerksamkeit erregen wolle, wann immer diese über das Geheimnis sprechen wollte. Deshalb hat Bergljot vor 23 Jahren jeglichen Kontakt mit ihren Eltern und ihren jüngeren Schwestern abgebrochen und ihr Elternhaus nie wieder betreten. Dann kommt es zu Streitigkeiten über das Testament des Vaters, der seinen beträchtlichen Besitz letztlich doch nicht gerecht unter seinen vier Kindern aufteilen wollte. Vor allem Bard, der älteste, kann sich mit seinem Wunsch, die beiden Hütten auf der Insel Hvaler allen Geschwistern und ihren Familien zugänglich zu machen, nicht durchsetzen. Bei einem Notartermin kommt es zum letzten Eklat, als Bergljot ihren vorbereiteten Text über den Missbrauch vorliest. Bis auf den Bruder Bard ist niemand auf ihrer Seite, und niemand ist bereit ihr zu glauben und ihr zuzugestehen, dass das Verbrechen ihres Vaters ihr Leben ruiniert hat. Das Unausgesprochene war bei jeder Begegnung mit der Familie für Bergljot präsent wie ein Elefant im Raum. Nach einer solchen Vorgeschichte ist Verzeihen und Vergessen nicht möglich.
Mir hat der wohl autobiografisch geprägte Roman gut gefallen, obwohl wegen der Technik des umgestellten Erzählens die zeitlichen Abläufe nicht immer klar sind. Da wird zum Beispiel über die Silvesterparty berichtet und danach ausführlich über die Beerdigung des Vaters im Dezember und das Weihnachtsfest. Es gibt wenig eigentliche Handlung im Roman. Dafür wiederholen sich Gedanken und Ereignisse in der Darstellung genauso, wie sie die Protagonistin in einer Art Endlosschleife quälen. Das ist nicht jedermanns Sache. Einwände habe ich im Übrigen gegen die sprachliche Qualität der Übersetzung. Die Übersetzerin, die so viele Sprachen beherrscht, hat das Deutsche wohl ein bisschen verlernt. Das ließe sich vielleicht bis zur Veröffentlichung im März noch korrigieren. Ansonsten durchaus empfehlenswert.

Veröffentlicht am 18.02.2024

Niemand ist ausschließlich gut oder böse

Notizen zu einer Hinrichtung
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In Danya Kukafkas Roman geht es um einen Serienmörder, der nach sieben Jahren Haft hingerichtet werden soll. Ansel Packer hat noch 12 Stunden zu leben, in denen der Leser ihn begleitet. Er will nicht ...


In Danya Kukafkas Roman geht es um einen Serienmörder, der nach sieben Jahren Haft hingerichtet werden soll. Ansel Packer hat noch 12 Stunden zu leben, in denen der Leser ihn begleitet. Er will nicht sterben, hofft auf eine Begnadigung in letzter Minute oder auf eine gelungene Flucht mit Hilfe der Gefängnisaufseherin Shawna Billings, die von ihm fasziniert ist. Ansel erinnert sich an die verschiedenen Phasen seines Lebens und erörtert den Inhalt seines Manuskripts über die Natur des Guten und des Bösen, die unzähligen Entscheidungen, die ein Leben ausmachen und die alternativen Leben, die jeder von uns führen könnte. Außerdem lesen wir die Geschichte der Frauen seines Lebens – nicht der Opfer -, die seine Biografie komplementieren. Da ist seine Mutter Lavender, die als junge Frau vor ihrem gewalttätigen Partner floh und ihre beiden kleinen Söhne zurückließ, dann Hazel, die Zwillingsschwester seiner Frau Jenny, und schließlich Saffy, die Ermittlerin, die als Kind in derselben Pflegefamilie wie Ansel lebte und Zeugin seiner grausamen Tierquälerei wurde. Sie hat sehr früh gewusst, dass Ansel als 17jähriger drei junge Mädchen ermordet hat, konnte sich aber in ihrem Team mit ihrer Überzeugung nicht durchsetzen, als Jahre später die Leichen gefunden wurden. Bis zu seiner Verurteilung waren Jahrzehnte seit seinen ersten drei Taten vergangen.
Kukafkas Roman ist kein Whodoneit. Es geht in der auf verschiedenen Zeitebenen und aus wechselnder Perspektive erzählten Geschichte um andere Dinge: um die Faszination, die Serienkiller wie Ansel Packer ausüben, wie nicht zuletzt real existierende Mörder wie Ted Bundy und Charles Manson beweisen, deren Geschichte unzählige Male beschrieben und verfilmt wurde. Auch wenn die Autorin diese Faszination kritisch sieht, können weder sie noch der Leser sich davon völlig befreien. Außerdem übt Kukafka deutliche Kritik am amerikanischen Justizsystem und insbesondere an der Grausamkeit der Todesstrafe durch die Giftspritze. Dem Zeitungsleser ist noch deutlich der aktuelle Fall des Häftlings im Gedächtnis, der reinen Stickstoff einatmen musste, als es in mehreren Versuchen nicht möglich war, ihm die Spritze zu setzen.
“Notizen zu einer Hinrichtung“ ist kein handlungspraller Reißer. Dafür sorgt schon die Erzählstruktur mit dem Wechsel der Zeitebenen und der Perspektiven. Der Roman hat durchaus Längen. Entbehrlich fand ich zum Beispiel die Ausführungen zu den ungelebten Leben der Opfer am Ende der Geschichte. Dennoch ein durchaus empfehlenswerter Roman, den ich gern gelesen habe.

Veröffentlicht am 28.01.2024

HaSchem meint es nicht gut mit Chani und Baruch

Die Hoffnung der Chani Kaufman
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Chani und Baruch stammen aus einer jüdisch orthodoxen Gemeinde in London. Zur Zeit leben sie in Jerusalem, wo sich Baruch zum Rabbi ausbilden lässt. Sie sind seit zehn Monaten verheiratet und lieben ...


Chani und Baruch stammen aus einer jüdisch orthodoxen Gemeinde in London. Zur Zeit leben sie in Jerusalem, wo sich Baruch zum Rabbi ausbilden lässt. Sie sind seit zehn Monaten verheiratet und lieben sich. Ihr einziges Problem ist, dass ihre Ehe bisher kinderlos geblieben ist. Schließlich bitten sie Baruchs reiche Eltern um Hilfe, um eine Untersuchung und eventuell eine Fruchtbarkeitsbehandlung in einer Londoner Klinik zu finanzieren. Die Schwiegermutter hat Chani immer als unpassende Partnerin für ihren Sohn abgelehnt und nimmt die kostspieligen Dienste einer unsympathischen Heiratsvermittlerin in Anspruch, um eine neue Frau für Baruch zu finden. In einem zweiten Handlungsstrang geht es um Rabbi Chaim Zilberman und seine Frau, die Rebbetzin Rifka. Rifka hat ihren Mann und ihre Kinder ein Jahr zuvor verlassen, weil sie ihren Glauben verloren hat und das Leben in der strenggläubigen Gemeinschaft nicht mehr ertrug. Nun lebt sie unter ärmlichen Verhältnissen in einer Einzimmerwohnung und muss Anfeindungen und Schikanen der Frommen ertragen, wo auch immer sie ihnen begegnet. Ihr Mann wird von seinen Vorgesetzten zur Scheidung gedrängt. Als Rifka mit der Zustimmung zögert, gerät sie in Lebensgefahr. Auch ihr jüngster Sohn Moishe wird in der Schule gemobbt und schikaniert, ohne dass die Schulleitung ihn schützt. Am Beispiel von Rifka und ihrem 20jährigen Sohn Avromi, der eine Talmudschule in Jerusalem besucht und eigentlich in die Fußstapfen seines Vaters treffen soll, zeigt die Autorin, dass es Alternativen zur strenggläubigen Lebensführung der Orthodoxen geben muss, denn einige der Gesetze beruhen nicht auf der Tora, sondern sind menschengemacht, genauer gesagt: von Männern, häufig zum Nachteil der Frauen. Deutlich kritisiert sie auch die Niedertracht, mit der die ach so Frommen die Abtrünnigen verfolgen.
Ich habe diesen Roman gern und sehr schnell gelesen, denn er hat mich in eine mir bisher weitgehend unbekannte Welt eingeführt. Ein Glossar erleichtert das Verständnis einer Vielzahl von jiddischen Ausdrücken. Die Kenntnis des ersten Teils ist nicht erforderlich. Von mir gibt es eine klare Empfehlung.

Veröffentlicht am 19.11.2023

Familie ist eine schädliche Einrichtung

Endstation Malma
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In Alex Schulmans Roman “Endstation Malma“ fahren verschiedene Menschen mit dem Zug nach Malma, ein kleiner Ort, der mehrere Stunden von Stockholm entfernt liegt. Sie fahren jedoch keineswegs gleichzeitig ...


In Alex Schulmans Roman “Endstation Malma“ fahren verschiedene Menschen mit dem Zug nach Malma, ein kleiner Ort, der mehrere Stunden von Stockholm entfernt liegt. Sie fahren jedoch keineswegs gleichzeitig im selben Zug, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens. Tatsächlich handelt es sich um drei Generationen einer Familie. Ein Vater fährt mit seiner kleinen Tochter Harriet, Harriet mit ihrem Mann Oskar, als ihre Ehe bereits gescheitert ist und schließlich deren Tochter Yana, nachdem der Vater gestorben und die Mutter schon vor Jahren spurlos verschwunden ist. Was hoffen sie, in Malma zu finden? Die Perspektiven und die Zeitebenen wechseln, so dass die Aufmerksamkeit des Lesers gefragt ist. Yana erhofft sich von der Reise nach Malma Aufklärung über Rätsel der Vergangenheit. Verschiedene Geheimnisse kommen ans Licht und vor allem sehr problematische familiäre Beziehungen. Die Ehen scheitern, und sowohl Harriets Mutter als auch Harriet selbst lässt ihre Tochter im Stich. „Familie ist eine schädliche Einrichtung“ könnte man meinen, wenn man diesen Roman liest, so traurig sind die Schicksale der Kinder, die verlassen oder früh von einer Schwester getrennt werden. Alex Schulman stellt diese Schicksale einfühlsam und empathisch und auch sprachlich außerordentlich gelungen dar.
Ein sehr empfehlenswertes Buch, dessen Figuren im Gedächtnis haften und zum Nachdenken anregen.

Veröffentlicht am 12.11.2023

Locked Room Thriller

The Institution
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In Helen Fields neuem Roman “The Institution“ geht es um einen Mord in einer speziellen Einrichtung für psychisch kranke Straftäter, der Parry Institution. Sie wurde auf den Resten einer alten Festung ...


In Helen Fields neuem Roman “The Institution“ geht es um einen Mord in einer speziellen Einrichtung für psychisch kranke Straftäter, der Parry Institution. Sie wurde auf den Resten einer alten Festung hoch über einem Stausee fern von jeglicher Zivilisation errichtet. Hier hat Dr. Connie Woolwine einen Einsatz als verdeckte Ermittlerin, zusammen mit ihrem Partner Brodie Baarda, der angeblich in seiner Zeit beim Militär schreckliche Verbrechen begangen hat und auf der Station H. von ihr als Psychologin betreut werden soll. Sie wollen auf diese Weise herausfinden, wer die Krankenschwester Tara Cameron ermordet und ihr ungeborenes Baby entführt hat und sich nun mit Lösegeldforderungen an die Familie wendet.
Im Lauf des Romans führt Dr. Connie, wie sie genannt wird, Gespräche mit den fünf Serientätern und dem Personal. Fast jeder wirkt irgendwie verdächtig, und lange fehlt jede Spur. Die erfahrene Profilerin arbeitet unter Zeitdruck, weil sie überzeugt ist, dass die kleine Aurora lebt, als Frühgeburt jedoch spezielle Betreuung braucht. Connie vermutet, dass der Mörder einer der Serienkiller ist und Hilfe von jemand hatte, der zum Personal gehört.
In der ersten Hälfte des recht umfangreichen Romans passiert nicht allzu viel. Erst in der zweiten Hälfte nimmt die Geschichte Fahrt auf, als ein schwerer Sturm dafür sorgt, dass es laufend Stromausfälle gibt und die Anstalt komplett von der Außenwelt abgeschnitten ist. Insgesamt ist der Roman interessant und spannend, auch wenn ich zum Ende hin nicht alle Wendungen glaubwürdig fand. Wegen der vielen grausamen Details der von den Insassen verübten Verbrechen ist der Roman für empfindliche Leser nicht so gut geeignet.