Eine Jüdin sucht ihre Identität
DeutschstundenPippa Goldschmidt gehört zu jenen Juden, die einen deutschen bzw. österreichischen Familienhintergrund haben, aber in Großbritannien geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Unabhängig voneinander ...
Pippa Goldschmidt gehört zu jenen Juden, die einen deutschen bzw. österreichischen Familienhintergrund haben, aber in Großbritannien geboren, aufgewachsen und sozialisiert worden sind. Unabhängig voneinander sind ihre Großeltern in den 1930er Jahren nach England emigriert, haben sich dort kennengelernt und eine Familie gegründet. Der Vater der Autorin wurde noch im Krieg geboren, sie ist Jahrgang 1968 und lebte bis 2020 in Edinburgh. Erst der Brexit zündete die Idee, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, für Nachkommen von emigrierten Juden, denen die deutsche Staatsbürgerschaft durch Nazideutschland aberkannt wurde, ist das problemlos möglich. Dass Pippa und ihr Vater ein Jahr warten mussten, bis sie ihre Pässe erhielten, war wohl dem ungewöhnlichen großen, plötzlichen Andrang wegen des Brexits geschuldet. Dass die Übergabe an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist, wirft ein schales Licht auf deutsche Behörden. Pippa bekam nicht mal einen Händedruck, ihrem Vater schenkte man eine Tüte Haribo. Was Pippa Goldschmidt aber nicht davon abhielt, mit ihrem Lebenspartner in das Land der Vorfahren zu ziehen, nach Frankfurt am Main. Dort war vor 1933 die zweitgrößte jüdische Gemeinde beheimatet. Ursprünglich lebte der Großvater Ernst Goldschmidt im nahen Offenbach, später dann in Frankfurt am Main. Die Umstände des Umzugs der Autorin sind von der Coronapandemie, den Lockdowns und Unannehmlichkeiten überschattet, aber er gelingt. Rund ein Jahr später sucht das Paar dann eine andere Wohnung und zieht an den Stadtrand.
Pippa Goldschmidt, die promovierte Astronomin, schrieb bereits einen Roman (Weiter als der Himmel) und veröffentlichte eine Kurzgeschichtensammlung. Im Buch bemerkt man als Leser die wissenschaftliche Art ihres Herangehens, auch die Verknüpfung ihres Wissens über Astronomie mit ihren teilweise sehr philosophischen und psychologische Gedanken und der Herangehensweise an ihre familiäre Vergangenheit. Sie erzählt in diesem Buch nicht tagebuchartig von ihren Recherchen, sie verknüpft sie mit der Erzählung ihres neuen Alltags und der Erinnerung an die Familiengeschichte(n), die sie bewusst und unbewusst in ihrem früheren Leben aufgenommen hat. Denn sie hat das Problem, mit dem viele jüdische Nachfahren von Holocaustopfern, Emigranten und Überlebenden zu kämpfen haben: das Schweigen, der blinde Fleck in der Vergangenheit. „Schweigen erkennt den Schmerz, lockt nicht mit dem Versprechen, dass der Schmerz verschwindet, wenn die Geschichte erzählt wird.“ schreibt die Autorin.
Stück für Stück, anhand von Dokumenten und Erinnerungsstücken, anhand von Erkundigungen und Gesprächen, setzt sie das Leben ihrer Großeltern, speziell ihres Großvaters wieder zu einem Bild zusammen. Dieses wird niemals vollkommen sein, aber es fügen sich die Puzzleteile in das Denken von Pippa Goldschmidt hinein. Es sind berührende kleine Momente, wenn sie zum Beispiel an den Bembel erinnert wird, der bei ihrer Großmutter stand, oder wenn sie das Halstuch mit der Widmung ihrer Großmutter in den Händen hält. Der Pass des Großvaters wird zu einer wahren Fundgrube an Erkenntnissen.
Ganz offensichtlich hat Pippa Goldschmidt aber ein Problem mit der Stadt Frankfurt, von der sie wohl hoffte, eine neue deutsche Heimat zu finden, sich aber eher zurückgewiesen und abgestoßen fühlt. Nicht von den Menschen, eher von den Mauern. Ich fand es merkwürdig, dass sie so ein Unbehagen angesichts der rekonstruierten Innenstadt empfindet, aber in Dresden „das heutige Simulakrum aus Gebäuden, die sowohl Kopien als auch Denkmäler ihres früheren Selbst sind“, so sehr lobpreist. Aber da zieht sie dann auch gleich Freud zu Rate, der betonte, dass das Unheimliche vom Standpunkt des Betrachters abhängt.
Mir sind einige Verallgemeinerungen aufgefallen im Verlauf des Buches, die mich etwas verunsichert haben. So heißt es mit Bezug auf die Judengesetze ab 1933, „durften Juden schon nicht mehr arbeiten“. Die Juden durften oftmals in ihren Berufen nicht mehr arbeiten, unterlagen Beschränkungen, aber sie wurden zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet, mussten oft stundenlang zu ihren Arbeitsstätten laufen, weil sie unter 6 Kilometern Arbeitsweg keine Verkehrsmittel nutzen durften. Was die Kinder betrifft: Auch der Schulbesuch war bis 1938 möglich: zuerst hatten höhere Schulen zum Teil noch ein Limit von 1,5 % Juden erlaubt, aber erst ab 15.11.1938 galt das Verbot für alle Kinder, die danach nur noch jüdische Schulen besuchen durften.
Andererseits habe ich im Buch auch von Ereignissen und vielen Details gelesen, die mir noch nicht so geläufig waren, wie vom Internierungsaufenthalt des Großvater Ernst auf der Isle of Man. Dass dieser sich an das Gemälde von Max Liebermann „Zwei Reiter am Strand“ erinnert fühlt, ist ein winziger Blick in seine Gefühls- und Erfahrungswelt vor der Emigration. Er muss ein recht wohlhabender Mann gewesen sein, wenn er noch nach der Emigration mehrfach nach Deutschland reiste, um den Transport seines Hab und Guts nach England zu bewerkstelligen. Die Autorin beschreibt leider nicht, wie das ohne Schikanen möglich war, als Jude mehrfach ein- und auszureisen. Sie berichtet nur, „Seit 1935 darf Ernst nicht mehr selbst als Anwalt arbeiten, er muss einen nicht jüdischen Anwalt beauftragen, in seinem Namen zu handeln.“ 1936 musste er jedenfalls fliehen, reiste aber mit deutschem Visa 1937 und 1938 nach Deutschland. Es war eine Zeit, wo alle Normalitäten auf den Kopf gestellt wurden, aus heutiger Sicht schwer zu begreifen. Und „Nur wir, die Betrachter, wissen, was in der Zukunft geschehen wird.“, so Pippa Goldschmidt.
Ja, man sieht alles aus heutiger Sicht, mit heutigem Wissen. In meiner recht großen jüdischen Verwandtschaft gab es einige, denen die Emigration gelungen ist, vorrangig mit Hilfe eines einzigen reichen amerikanischen Verwandten. Sie alle sind verstreut in Kanada, den USA, Argentinien und Brasilien, nur einer nahm einen anderen Weg über England, wurde Angehöriger der britischen Armee und wanderte nach Australien aus. Kein einziger der Emigranten und ihrer Nachfahren hat meines Wissens die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, keiner wollte jemals in das Land der Täter zurück. Der größte Teil meiner Verwandten ist aber in den Vernichtungslagern umgekommen. Den vielen Geschichten nachzuspüren, das war mir immer ein tiefes Bedürfnis, auch Stolpersteine zu verlegen ist eine Art von Trauerbewältigung. Pippa Goldschmidt erlebte das auch. So kann ich mich im Geiste mit ihr verbünden. Sie schreibt „Ich bin kein Opfer, und die Deutschen sind keine Täter mehr, und doch müssen wir uns mit den Erfahrungen unserer Familien auseinandersetzen.“ Dem stimme ich gern zu.
Fazit: Für mich eine interessante und neue Erfahrung, wie es sich anfühlt, in ein fremdes, doch eigenes Land zu reisen, bleiben zu wollen, dort leben zu wollen. Auch wenn ich die astronomischen Erzählungen und Erklärungen als etwas langatmig empfand, hat mir das Buch insgesamt gut gefallen. Ob sie nun auch richtig angekommen ist in Berlin, das wäre vielleicht ein Thema für ein neues Buch von Pippa Goldschmidt.