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Veröffentlicht am 31.05.2019

Familienterror

Der Zopf meiner Großmutter
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Großmütter gelten gemeinhin als eher lieb, fürsorglich und verständnisvoll. Genau das Gegenteil ist Alina Bronskys Protagonistin Margarita, denn sie terrorisiert nicht nur ihren gutmütigen Mann Tschingis, ...

Großmütter gelten gemeinhin als eher lieb, fürsorglich und verständnisvoll. Genau das Gegenteil ist Alina Bronskys Protagonistin Margarita, denn sie terrorisiert nicht nur ihren gutmütigen Mann Tschingis, sondern auch den Enkel Maxim, genannt Mäxchen. Dass sie ihm grundlos Krankheiten andichtet, ihn mit pürierter Kost traktiert, mit einem wahren Desinfektionswahn gegen Keime ankämpft und ein Schulfest für ebenso gefährlich hält wie eine Grippeepidemie, könnte man noch unter dem Schlagwort „Überbehütung“ verbuchen. Beschimpfungen wie „Du bist ein Idiot“ oder „formloser Rotz“ passen dazu jedoch definitiv nicht, und dass sie ihm eintrichtert, „körperlich schwach und geistig minderbemittelt“ zu sein, entspricht mit Sicherheit nicht dem Erziehungsideal der Stärkung von Kindern. „Ein Klotz am Bein“ sei er, versichert sie ihm beständig, und schuld daran, dass für sie „jedes Lebensjahr für zwei“ zählt. „Niemand auf der ganzen Welt würde sich jemals so für mich interessieren wie sie“ versichert sie dem Ich-Erzähler Maxim, der zu Beginn fünf Jahre alt und gerade mit den Großeltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland übergesiedelt ist. Zunächst wehrt sich der intellektuell überlegene Enkel nicht, denn: „Ich käme ja sonst zu nichts anderem mehr“, aber allmählich durchschaut er sie doch und beginnt „am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu zweifeln“ – ein erster Schritt auf dem Weg zur Emanzipation.

Einen anderen Ausweg aus der Unterdrückung findet der Großvater mit den asiatischen Gesichtszügen. Zwar kann Margarita ihn mit Schuldzuweisungen an sich binden, doch verliebt er sich kurz nach der Ankunft in Deutschland. Maxim, der die Situation instinktiv erfasst, deckt ihn, und so ist ausgerechnet die alles kontrollierende Margarita lange ahnungslos. Umso erstaunlicher reagiert sie, als sie mit der Wahrheit konfrontiert wird: Sie gründet kurzerhand eine Patchwork-Familie. Am Krankenbett des Großvaters ergibt sich deshalb ein verwirrendes Bild: „Wenn ich auf Station war, riefen mich die Schwestern … und fragten, wer die beiden Frauen an Großvaters Bett seien und wer von ihnen mich und meinen kleinen Bruder aus Korea adoptiert habe.“

Leider hat der Humor in der stark 200 Seiten umfassenden Geschichte selten so wie an dieser Stelle bei mir gezündet. Obwohl ich skurrile Protagonisten prinzipiell mag, war mir die Egozentrik Margaritas einfach zu viel. Erklärungsansätze für ihr Verhalten werden zwar im Laufe der Geschichte sichtbar, ihre Einsamkeit, die Entwurzelung, ihre Angst, nicht gebraucht zu werden, und ihre Schuldgefühle, trotzdem kam kein Mitgefühl bei mir auf. Durch die Ich-Perspektive Maxims – es blieb mir unklar, ob er rückblickend aus der Erwachsenenperspektive oder zeitnah erzählt – konnte ich außerdem nicht einschätzen, inwieweit er diese traumatische Kindheit tatsächlich so locker wegsteckt, wie er uns glauben machen will. Darüber hinaus kam das Ende relativ plötzlich, unspektakulär und mit größeren Zeitsprüngen im letzten Drittel des Romans.

Für mich reicht Alina Bronskys neuer Roman "Der Zopf meiner Großmutter" nicht an "Baba Dunjas letzte Liebe" heran. Unterhaltsam, kraftvoll geschrieben und gut zu lesen ist er jedoch allemal.

Veröffentlicht am 23.05.2019

Ein beispielloser Fall

Mörderisches Lavandou (Ein-Leon-Ritter-Krimi 5)
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Mit Beginn des Herbstes kehrt normalerweise in Le Lavandou Ruhe ein. Die Bar „Chez Miou“ gehört wieder den Einheimischen und traditionell gibt es bei der Polizei und im rechtsmedizinischen Institut mit ...

Mit Beginn des Herbstes kehrt normalerweise in Le Lavandou Ruhe ein. Die Bar „Chez Miou“ gehört wieder den Einheimischen und traditionell gibt es bei der Polizei und im rechtsmedizinischen Institut mit der Abreise der letzten Touristen weniger Arbeit. Nicht so in diesem Jahr. Was mit der Vermisstenanzeige einer jungen Frau beginnt, führt kurz darauf zu einem makabren Fund: Ein abgetrennter Fuß mit Schuh taucht auf, kurz danach der Rest der Leiche. Laut dem Befund von Dr. Leon Ritter, Gerichtsmediziner am rechtmedizinischen Institut von Saint-Sulpice, deutscher Abstammung und Lebenspartner von Capitaine Isabelle Morell, verblutete das Opfer infolge der dilettantisch durchgeführten Verstümmelung. Offensichtlich hatte der Täter es darauf angelegt, dem Opfer ein Höchstmaß an Schmerzen zuzufügen: „Allerdings liegt in diesem Fall ein Maß an Aggressivität vor, wie ich es in meiner fünfundzwanzigjährigen Berufspraxis nur selten gesehen habe.“ Kurz nach der ersten verschwindet eine weitere Frau. Frankreichweit erregen die Vorgänge in Le Lavandou Aufsehen: „Dieser Fall war ohne Beispiel und darum eine Sensation“ und „lockt die Medien an wie reife Beeren die Wespen“, dabei möchte der Polizeichef, „dass Le Lavandou für seine Blumenpracht bekannt wird und nicht für seine abgesägten Füße“.

Wie immer schickt die Staatsanwaltschaft Toulon bei Kapitalverbrechen eine Kommissarin nach Le Lavandou, sehr zum Ärger von Polizeichef Zerna. Begeistert ist auch niemand über die Psychologin Dr. Claire Leblanc, die die Kommunikationsstruktur der Gendarmerie national verbessern soll – außer dem médecin légiste, der prompt einen Flirt mit der attraktiven Frau beginnt.

Dr. Leon Ritter steht noch mehr als gewöhnlich im Mittelpunkt dieses fünften Falls. Nicht nur, dass alle Opfer bei ihm in der Gerichtsmedizin landen, scheint der Täter ihn ganz persönlich herausfordern zu wollen. Trotz seiner Beteuerungen, dass er nur für die Fakten, die Polizei dagegen für die Schlüsse zuständig sei, kann er das Ermitteln wieder einmal nicht lassen und stellt die Ergebnisse der Polizei immer wieder in Frage. Doch plötzlich ist Leon noch viel mehr in den Fall involviert, als er es sich hätte träumen lassen, und zu den beruflichen Problemen kommen nun auch noch private.

Remy Eyssens Provence-Krimis gehören zu einer der wenigen Reihen, von denen ich mir keinen Band entgehen lasse. Trotz der schaurigen Mordfälle sind es „Wohlfühlbücher“ in herrlicher Umgebung, mit französischem Flair und sehr sympathischen Protagonisten. Allerdings habe ich auch bei „Mörderisches Lavandou“, genau wie beim Vorgängerband „Das Grab unter Zedern“, den Täter vorzeitig entlarvt, dieses Mal nach etwa zwei Dritteln des Buches. Etwas weniger blutige Details hätten für meinen Geschmack genügt und der Showdown war, wenn man die Vorgängerbände kennt, nicht besonders originell, aber ansonsten hat mich der leicht lesbare Krimi wieder gut unterhalten und ich freue mich auf meinen nächsten Besuch in Le Lavandou, wenn vielleicht sogar Hochzeitsglocken läuten.

Veröffentlicht am 04.03.2019

Der verlorene Sohn

Worauf wir hoffen
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Worauf wir hoffen
Worauf wir hoffen
Fatima Farheen Mirza
Rezension vom 04.03.2019 (0)

Hadia ist die erste in ihrer Familie indisch-schiitischer US-Einwanderer, die ihren Ehemann selbst auswählt. Als ...


Worauf wir hoffen
Worauf wir hoffen
Fatima Farheen Mirza
Rezension vom 04.03.2019 (0)

Hadia ist die erste in ihrer Familie indisch-schiitischer US-Einwanderer, die ihren Ehemann selbst auswählt. Als sie heiratet, ist die Familie bereits auseinandergebrochen, doch kehrt der jüngere Bruder Amar auf ihren Wunsch zum ersten Mal nach drei Jahren zurück. Anders als seine angepassten älteren Schwestern Hadia und Huda war er von Geburt an schwierig. Von der Mutter Laila nachsichtig verwöhnt, gab es mit dem Vater Rafik ständig Streit: „So wie in anderen Familien gelacht wurde, so steuerte bei ihnen alles immer auf eine Auseinandersetzung zu.“ Schulschwierigkeiten, Ablehnung der islamischen Gesetze zur Geschlechtertrennung und der Moscheefeste, Alkohol- und Drogenprobleme säumen seinen Weg. Amar fühlt sich nicht zugehörig, empfindet Wut und steht sich selbst im Weg.

Die 1991 in den USA geborene Fatima Farheen Mirza erzählt in ihrem Debütroman „Worauf wir hoffen“ vom Leben einer Einwandererfamilie. Rafik hat in der neuen Heimat alles erreicht: guter Job, eigenes Haus, eine Frau aus seiner Heimat Haiderabad, drei in den USA geborene Kinder und Respekt in der Moscheegemeinde. Während Laila tief gläubig ist, empfindet er die Religion eher als Gewohnheit und Ordnungsprinzip, an der er um der Familie willen festhält. Für die Kinder ist das Leben zwischen zwei Kulturen ein Spagat. Mit neun Jahren hat Hadia, die älteste, zwar die Wahl, ob sie als einzige in ihrer Grundschulklasse einen Hijab tragen will oder nicht, doch wie sich dagegen entscheiden, wenn die Ablehnung den Eltern als Sünde gilt? Freunde lehnen die Eltern generell ab, das andere Geschlecht ist tabu, genau wie laute Musik oder T-Shirts mit Band-Namen. Während die Töchter sich arrangieren, gute Leistungen zeigen und schließlich studieren, wird Amar zum verlorenen Sohn.

Sprachlich eher einfach, verzichtet der Roman auf jegliche Chronologie in der Erzählweise, doch fällt die Orientierung nicht schwer. Im ersten und dritten Teil steht Hadias Hochzeit im Mittelpunkt, der zweite führt zurück bis zur Kindheit der Eltern, im vierten erzählt ausführlich Rafik, der nicht über die Entfremdung von Amar hinwegkommt. Wer wird einst die Totenwaschung vornehmen und die erste Handvoll Erde in sein Grab werfen, beides Frauen nicht erlaubt?

Sehr interessant ist die Innenansicht einer schiitischen Familie, deren starre Lebensweise so inkompatibel zum US-amerikanischen Freiheitsideal scheint, obwohl viele der genannten Konfliktpunkte in Nicht-Einwandererfamilien genauso vorkommen. Rafik und Laila sind nicht ultrakonservativ, Hadia und Huda legen ihr Kopftuch nach 9/11 auf Wunsch des Vaters vorsichtshalber ab, Hadia studiert fünf Fahrtstunden entfernt, der von ihr ausgewählte Ehemann wird akzeptiert, obwohl er weder Schiit ist noch Urdu spricht, doch darf sie keineswegs zeigen, dass es sich um Liebesheirat handelt. Alles dies ist mit viel Herzblut beschrieben, doch verliert sich die Autorin in zu vielen Wiederholungen, sodass sich bei mir ein gewisser Überdruss einstellte. Ein strenges Lektorat mit starken Kürzungen, eine schärfere Fokussierung auf die kulturell bedingten Konfliktpunkte und ein Glossar für die kursiv gedruckten religiösen oder kulinarischen Begriffe hätte ich mir gewünscht.

Trotz dieser Kritik werde ich auch dem nächsten Buch von Fatima Farheen Mirza eine Chance geben, denn die Autorin hat viel zu erzählen.

Veröffentlicht am 15.06.2025

Das Geheimnis der rätselhaften Pietà

Was ich von ihr weiß
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Zwei Zeitebenen mit unterschiedlicher Erzählperspektive wechseln sich im 500 Seiten starken Roman "Was ich von ihr weiß" von Jean-Baptiste Andrea gekonnt ab. Die erste setzt 1986 ein. Personal erzählt ...

Zwei Zeitebenen mit unterschiedlicher Erzählperspektive wechseln sich im 500 Seiten starken Roman "Was ich von ihr weiß" von Jean-Baptiste Andrea gekonnt ab. Die erste setzt 1986 ein. Personal erzählt aus der Sicht des Abtes der abgelegenen piemontesischen Sacra di San Michele, erfahren wir von den letzten Stunden im Leben des einzigen Mitbewohners ohne Gelübde, Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo. Der Bildhauer lebt seit etwa 40 Jahren in der Abtei, wo der Vatikan seit 1951 sein Hauptwerk, eine skandalumwitterte, rätselhafte Marmor-Pietà, im Keller vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt hält. Während der Abt sich anhand von Unterlagen zu dem mysteriösen Kunstwerk zurückerinnert, blickt der sterbende Ich-Erzähler im zweiten Erzählstrang chronologisch auf sein bewegtes Leben bis zu seinem völligen Rückzug aus der Welt zurück.

Zwei Welten
Michelangelo Vitaliani wurde 1904 als Kind italienischer Auswanderer in Frankreich als Sohn eines Bildhauers geboren, arm, kleinwüchsig und, als wären diese Eigenschaften nicht schon Anlass genug für Spott, mit der Bürde eines monumentalen Namens. Nach dem Tod des Vaters schickte ihn seine Mutter 1916 zu einem Steinbildhauer nach Italien. Drei glückliche Umstände halfen dem jungen Mimo, die demütigenden Sklavenjahre bei einem brutalen Lehrmeister im ligurischen Bergdorf Pietra d’Alba zu überleben: seine Liebe zur Bildhauerei, Freundschaften mit etwas älteren Jugendlichen und die Bekanntschaft mit der gleichaltrigen Viola Orsini, Tochter der ortsansässigen wohlhabenden und einflussreichen Adelsfamilie. Während Mimo von einer Künstlerkarriere träumt, träumt Viola vom Fliegen. Das hochintelligente, freigeistige und vielseitig interessierte Mädchen passt nicht in ihre vorgezeichnete Rolle und will ihre Ketten sprengen. Ab dem Sommer 1918 sind Mimo und Viola unzertrennlich, allerdings heimlich, denn Mimo bleibt wegen seines sozialen Stands der Zugang zur Villa Orsini verwehrt – bis er dank von den Orsini-Brüdern vermittelten vatikanischen und faschistischen Großaufträgen in die Künstlerelite Italiens aufsteigt.

Ein Stoff mit mehr Potential
Der 1971 geborene französische Autor und Filmemacher Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte der tiefen, jedoch spannungsgeladenen Freundschaft zwischen Mimo und Viola vor dem Hintergrund der politischen Turbulenzen Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Aufstieg, Machtübernahme und Fall des Faschismus. Wie bei einem Filmemacher zu erwarten, ist die Dramaturgie sorgfältig geplant und durchdacht, der Spannungsbogen um die rätselhafte Pietà wird erst spät aufgelöst und ein Rädchen greift passgenau ins andere. Allerdings ist die Erzählweise konventionell, es wird mehr geredet und erzählt als gezeigt und die klischeehaften Figuren haben wenige Ecken und Kanten, weshalb trotz ihres zu Herzen gehenden Schicksals stets eine Mauer zwischen ihnen und mir stand. Leider kommen für mich auch die politischen Bezüge, die Verantwortung des vermeintlich unpolitischen Künstlers in der Diktatur, die Rolle des Vatikans im Holocaust, zu der es nur wenige beschönigende Sätze gibt, sowie Mimos künstlerischer Entwicklungsprozess zu kurz. Mehr Zeitgeschichte und Atelier, dafür weniger Spelunke, hätte mir besser gefallen.

"Was ich von ihr weiß" ist ein leicht und flüssig zu lesendes, abgesehen von einigen Längen unterhaltsames Buch. Die Auszeichnung mit dem renommierten Prix Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres 2023 überrascht mich allerdings, denn der Stoff hätte meiner Ansicht nach mehr Potential gehabt.

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Veröffentlicht am 24.03.2023

Bruchstellen und Beulen

Lichte Tage
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"Wer waren wir, Ellis, ich und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir". (S. 218)

Im vielversprechenden epilogartigen ...

"Wer waren wir, Ellis, ich und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir". (S. 218)

Im vielversprechenden epilogartigen Eingangskapitel von 1950 wählt die unglücklich verheiratete, schwangere Dora Judd in einem Akt erster Auflehnung gegen ihren Mann Len als Tombolapreis statt des von ihm präferierten Whiskys eine Reproduktion von van Goghs berühmtem Sonnenblumengemälde. Dieses Bild, im Ausschnitt auf dem wunderschönen Cover zu sehen, und sein Entstehungsort, die Provence, sind für Dora, später für ihren Sohn Ellis und dessen Freund Michael, die Verkörperung von Licht, Farbe, Hingabe, Hoffnung, Inspiration und Freiheit.

Umkehr
46 Jahre danach ist aus Ellis ein „verwahrloster Eremit“ (S. 86) geworden, der in Oxford mehr dahinvegetiert als lebt. Seine Künstlerambitionen fielen dem frühen Tod Doras zum Opfer, stattdessen entfernt er nachts als "Tin Man", so der Originaltitel des 2017 erschienenen Romans, "Blechmann", Beulen aus Autokarosserien. Die größte Beule seines Lebens ist der Unfalltod seiner Frau Annie 1991 nach 13 Jahren Ehe. Von ihm übrig ist „[…]nichts als ein Körper, der all seine Energie dafür aufwandte, vor etwas zu fliehen, was sich nicht in Worte fassen ließ.“ (S. 36)

Längst hängt Doras Sonnenblumenbild nicht mehr im Haus seines Vaters, wo inzwischen die empathische Carol mit ihm zusammenlebt. Als Ellis, wachgerüttelt durch eine Krankschreibung, sein Leben noch einmal ändern will und auf dem Dachboden nach der Reproduktion sucht, findet er dort auch einen vergessenen Karton mit Michaels Gedankenbuch.

Michaels Sicht
Während im ersten Teil Ellis sein Leben, seine Ehe und die besondere Freundschaft mit Michael bilanziert, spiegeln Michaels Notizen, begonnen in einer schwierigen Lebensphase 1989, seine Sicht auf den Zweierbund, auf eine Provencereise der beiden Neunzehnjährigen, als plötzlich ein ganz anderes Leben möglich schien, und die Zeit ab 1976, als sie mit Annie zum Trio wurden.

Licht und Schatten
Reduziert auf die reine Romanhandlung, hat mir die natürliche, sprachsensible Ausführung über die verschiedenen Facetten von Liebe und Freundschaft in "Lichte Tage" durchaus zugesagt, allerdings nicht die Gesamtumsetzung. Anscheinend hat die 1964 geborene britische Schauspielerin und Autorin Sarah Winman dem Stoff für ihren dritten Roman zu Unrecht misstraut und ihn mit überflüssiger Dramatik hart an der Kitschgrenze sowie plump eingestreuten Informationen zu van Gogh und einem Gedicht von Walt Whitman angereichert. Den Figurenzeichnungen fehlen Grautöne, es hakt bei der Gewichtung einzelner Szenen und vor allem Annie bleibt als Charakter enttäuschend blass. Zwar sorgen die sprunghaften Zeitwechsel für angenehme Abwechslung, aber die oftmals platten Dialoge hielten mich auf Distanz. Poetische Landschaftsbeschreibungen aus der Provence kontrastieren mit Fäkalausdrücken und fragwürdigen Sprachbildern, etwa die „erschöpfte Schwalbe, die sanft vom Himmel fällt“ (S. 194): Entweder sie plumpst oder sie gleitet sanft. Inwiefern dies ebenso wie unpassende Adjektive und unklare Bezüge von Pronomina an der Übersetzung oder am Originaltext liegt, kann ich nicht entscheiden:

"Ich hatte akzeptiert, dass ich nicht der Schlüssel zu seinem Schloss war. Sie sollte erst später kommen." (S. 155)

Ein sorgfältigeres Lektorat wäre dringend erforderlich gewesen, auch bei der verwirrenden Namensverwechslung ausgerechnet im ersten Satz: „Carol“ statt „Dora“.

Sein Publikum wird Lichte Tage bei Fans gefühlvoller Liebes- und Schicksalsromane garantiert finden. Für mich hat das durchaus interessante Buch über biografische Bruchstellen jedoch leider Potential verschenkt.

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