Profilbild von Eternal-Hope

Eternal-Hope

Lesejury Star
offline

Eternal-Hope ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Eternal-Hope über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.06.2025

Ein Buch über Familie, Abschied und Trauer, das Tiefe hat und Zeit braucht

Heute kein Abschied
0

Oskar stirbt. Mitten auf dem Flughafen Schiphol bricht er zusammen und ist tot. Plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen, zwar schon in etwas reiferem Alter, aber doch unerwartet für alle... insbesondere ...

Oskar stirbt. Mitten auf dem Flughafen Schiphol bricht er zusammen und ist tot. Plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen, zwar schon in etwas reiferem Alter, aber doch unerwartet für alle... insbesondere für seine drei erwachsenen Kinder und seine Ex-Frau.

Da gibt es Tessel, die Älteste, eine Schriftstellerin, mit Mann und Tochter und insgesamt geordnetem Leben. Sie ist Anfang 40, war als älteste Tochter immer die Vernünftige, die, die alles unter Kontrolle hat, und auch die, die nach wie vor in der Nähe des Vaters gelebt hat. Dann der Mittlere und einzige Sohn, Moor, in seinen 30ern, der Rebell der Familie, der ein Leben fernab bürgerlicher Konventionen lebt und sich am Vater und dessen Wünschen und Vorstellungen vom Leben abgearbeitet hat. Und schließlich Nesthäkchen Cat, Anfang 30, die in den USA lebt und studiert.

Wie gehen diese drei unterschiedlichen Geschwister mit diesem Abschied um? Aber nicht nur das, in dem Buch geht es um noch viel mehr, als nur um die Zeit unmittelbar nach dem Todesfall, zu der die Geschwister zusammen kommen, das Begräbnis organisieren und die Verlassenschaft aufteilen.

Abwechselnd wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. So kommen nicht nur die drei Geschwister zu Wort und wir erleben mit, was für einen unterschiedlichen Vater sie doch jeweils erlebt haben und erinnern. Auch Oskar selbst lernen wir kennen, in seiner Zeit als junger Mann, dann, als er Elise, die Mutter der Kinder, kennen lernte, in der Partnerschaft, als Familienvater und auch später, als die Ehe gescheitert war. Und auch Elises Perspektive wird gezeigt.

So erleben wir in diesem klugen und vielschichtigen Buch mit, dass es gerade in zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Partnern, aber auch zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern, nicht die eine Wahrheit gibt, sondern ganz unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven, die alle für sich ihre Gültigkeit haben.

Es ist ein Buch, für das ich empfehle, sich Zeit und Ruhe zu nehmen. Nicht nur aufgrund des durchaus beträchtlichen Umfangs von knapp 500 Seiten, sondern auch, weil es seine Qualität ganz besonders entfaltet, wenn man Zeit hat, die verschiedenen Worte, Perspektiven und Weisheiten auf sich wirken zu lassen, darüber nachzudenken, sie auf das eigene Leben zu beziehen und vielleicht auch mit anderen darüber zu sprechen. Dieses Buch kann man auch gut mehrmals lesen und wird immer wieder neue Erkenntnisperlen darin entdecken, es ist kein Fast-Food-Buch zum Schnell-Lesen, sondern ein Gourmet-Menü-Buch zum Genießen und Wirken-Lassen.

Hier ein paar Beispielzitate für die Sprache dieses Buches, die mir sehr gut gefallen hat und die voll von ganz besonderen Sätzen ist:

Ganz am Anfang, als Oskar merkt, dass er stirbt:

„Es ist offensichtlich, welches Ereignis sich vor ihm erstreckt. Das spürt er. Obwohl keiner von uns jemals zuvor gestorben ist, wissen wir im entsprechenden Moment, dass es geschieht, dass es begonnen hat.“ (S. 19)

Zu der herausfordernden Beziehung zwischen den beiden Schwestern: Tessel denkt über Cat nach und fühlt sich als älteste benachteiligt:

"Warum nur ist ihre Schwester von allem immer so befreit gewesen, so beschützt? Als sie wieder auf der Toilette sitzt, im sichersten Raum der Hauses, ertappt sie sich bei dem Gedanken: Aber hiervon wirst du dich nicht freimachen können. Jetzt bist du endlich eine von uns. Wenn wir stürzen, stürzt du mit uns.“ (S. 99)

Moor über die schwierige Beziehung zu seinem Vater:

„Ich bin überhaupt nicht in der Lage, dein Kind zu sein“ (S. 415)

Und noch eine der vielen Weisheiten in diesem Buch:

„Wenn man die Dinge berührt, berühren die Dinge auch einen.“ (S. 454)

Ein wertvolles, ein berührendes, ein besonderes Buch! Leseempfehlung für alle, die sich die Zeit nehmen möchten für die Tiefe, die dieses Buch hat, und bereit sind, sich davon berühren zu lassen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.06.2025

Anspruchsvoll & tiefgründig, psychoanalytisch orientiert

Wofür wir Töchter unsere Mütter brauchen
0

Sarah Trenztsch arbeitet seit vielen Jahren beratend mit Müttern und Töchtern, die Konflikte miteinander haben. Aufbauend auf ihrer Berufspraxis sowie auf verschiedenen psychoanalytischen Theorien hat ...

Sarah Trenztsch arbeitet seit vielen Jahren beratend mit Müttern und Töchtern, die Konflikte miteinander haben. Aufbauend auf ihrer Berufspraxis sowie auf verschiedenen psychoanalytischen Theorien hat sie nun dieses Buch geschrieben. Darin finden sich viele wertvolle Gedankenimpulse zur herausfordernden Mutter-Tochter-Beziehung.

Sehr viele Frauen heutzutage haben ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Mutter, und unreflektiert können sie dazu neigen, zu glauben, das sei nur ein individuelles Problem und habe nur mit der komplizierten Persönlichkeit ihrer eigenen Mutter zu tun. Das Verdienst der Autorin ist, dass sie klar die gesellschaftliche und strukturelle Ebene dieser Thematik aufzeigt: was wir von unserer Mutter erwarten, was diese von sich selbst erwartet, wie sie zwangsläufig an den hohen und oft unvereinbaren Ansprüchen an Müttern scheitern muss, aber auch, wie es modern geworden ist, ihr das alles vorzuwerfen, viel mehr als dem Vater... das hat sehr wohl viel mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben und in der Mütter von allen Seiten kritisiert werden und es nicht recht machen können, egal, welches Lebensmodell sie wählen.

Die beruflich sehr engagierte Mutter kann dafür angegriffen werden, zu wenig Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen. Der Mutter, die nicht oder nur wenig beruflich tätig ist, wird vorgeworfen, ein abhängiges Hausmütterchen zu sein. Und versucht eine Frau, beides, so gut wie möglich, unter einen Hut zu bringen, dann ist sie oft erschöpft und müde, und dann kann ihr die Tochter wiederum genau das vorwerfen.

Das Buch zeigt auch auf, wie mit der (wertvollen und notwendigen) Entwicklung des Feminismus leider auch der Respekt vor der traditionellen Mutterrolle gesellschaftlich in weiten Teilen verloren gegangen ist. Traditionell mütterliche und weibliche Qualitäten taugen somit für die Tochter nicht mehr zur Orientierung. Traditionell männlich besetzte Qualitäten, wie sie bis heute im Berufsleben stark gefordert sind, sind aber immer noch stärker mit dem Vater verknüpft... somit schaut die Tochter dann zu diesem hin, wenn sie sich in diese Richtung orientieren möchte, während die Position der Mutter geschwächt ist.

Diese und viele weitere Gedanken und Ideen finden sich in dem Buch. Dabei ist es auf theoretischer Ebene ein ziemlich anspruchsvolles Buch, das tief in die theoretischen Konstrukte speziell der Psychoanalyse eintaucht. Dazwischen finden sich zur Auflockerung und zum besseren Verständnis immer wieder konkrete Fallbeispiele aus der Berufspraxis der Autorin.

Aufgrund des hohen theoretischen Anspruches empfehle ich das Buch hauptsächlich einem Fachpublikum mit Vorwissen aus dem psychologischen und speziell psychoanalytischen Bereich. Weiters kann es auch für gebildete Laien interessiert sein, wenn diese bereit sind, sich gedanklich auf die psychoanalytischen Konzepte einzulassen. So wertvoll das Buch inhaltlich und mit seinen Aussagen ist, halte ich es doch sprachlich und inhaltlich für zu anspruchsvoll für eine breite Mehrheit der Bevölkerung, diese bräuchte ein weniger theoretisch und leichter zugänglich geschriebenes Buch zu dem Thema. Es ist somit eindeutig ein Fachbuch, und als solches sehr wertvoll und wichtig.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.06.2025

Was es bedeutet, fast sprachlos zu sein in einem fremden Land

»Mama, bitte lern Deutsch«
0

Tahsim Durgun hat mit "Mama, bitte lern Deutsch" ein berührendes Memoir geschrieben, das zu Herzen geht. Er lässt uns in diesem persönlichen Buch an seiner eigenen Kindheit und Jugend teilnehmen. Der Autor ...

Tahsim Durgun hat mit "Mama, bitte lern Deutsch" ein berührendes Memoir geschrieben, das zu Herzen geht. Er lässt uns in diesem persönlichen Buch an seiner eigenen Kindheit und Jugend teilnehmen. Der Autor wächst mit drei Geschwistern und seinen Eltern in einer trostlosen Plattenbausiedlung in Deutschland auf.

Die Kinder sind in Deutschland geboren, es ist die einzige Heimat, die sie kennen - und doch müssen sie viele Erfahrungen damit machen, als fremd angesehen zu werden, und auch ihr Aufenthaltsstatus ist immer wieder bedroht, wenn die Behörde entscheidet, Yesiden würden gerade in der Türkei nicht mehr verfolgt werden und somit der ursprüngliche Asylgrund wegfallen.

Schon als kleine Kinder müssen sie immer wieder für die Eltern übersetzen oder dolmetschen, denn auch nach 20 Jahren in Deutschland sprechen die beiden, insbesondere die Mutter, kaum Deutsch.

Was für ein Kontrast das für den Autor ist: einerseits daheim seine (in der kurdischen Muttersprache) intelligente und sprachlich sehr gewandte Mutter zu erleben, die in ihrer Muttersprache niemals um Worte verlegen ist, selbstbewusst ist und sich gut ausdrücken und durchsetzen kann. Und dann andererseits im Vergleich dazu die schüchterne, gedemütigte, um Worte ringende Frau zu begleiten, in die die Mutter sich zum Beispiel auf Ämtern, aber auch auf Schulfesten im Kontakt mit Deutschen verwandelt. Für diese Mutter einstehen und auch bei schwierigen und überfordernden Themen im juristischen oder medizinischen Bereich übersetzen zu müssen, ist oft sehr überfordernd für die Kinder, ebenso wie die vielfältigen Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen, die sie erleben müssen.

Während all dem hat sich der Autor einen ganz wunderbaren Humor bewahrt und das Buch ist lebendig geschrieben und voll von Liebe zu seiner Mutter und seiner Familie. Das Buch ist so nahbar und persönlich erzählt, mit vielen kleinen Geschichten aus dem Leben der Familie, sodass man sich beim Lesen mit der Familie sehr verbunden fühlt und mit ihnen hofft und bangt.

Selbst hat der Autor einen beeindruckenden sozialen Aufstieg hingelegt, Abitur gemacht und Germanistik studiert. Seine Geschichte ist auch eine Geschichte der Selbstermächtigung, wie z.B. dieses eindrucksvolle Zitat zeigt: "Ich begann, Bücher zu lesen - und irgendwann auch Zeitungen. (...) ... weil ich mir die Sprache der Menschen aneignen wollte, die über uns verfügen konnten. Ich wollte dafür sorgen, dass ich, dass wir, irgendwann genug sein würden. Die Ungerechtigkeit, die uns widerfahren war, spornte mich an, meine Leistungen in der Schule zu verbessern." (S. 96 von 167 im E-Book)

Was den Titel des Buches und seine Mutter und deren nach Jahrzehnten noch mangelnde Deutschkenntnisse angeht, so zeigt der Autor differenziert auf, dass er sich gewünscht hätte, sie hätte engagierter und aktiver Deutsch gelernt und ihr das auch mal wütend vorgeworfen hat, aber dass er im Gespräch mit ihr und in der Reflexion über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Familie auch erkannt hat, welche Hürden ihr dabei im Weg gestanden sind: neben einem auslaugenden, körperlich anstrengenden Job ohne Urlaub und Feiertage, die Familie mit vier Kindern versorgend, mit geringem Bildungsstand und einer als eher abweisend empfundenen Gesellschaft im neuen Land ist das nicht leicht.

Damit regt das Buch auch zum Nachdenken an, was wir alle - auch die, die das Glück haben, in privilegierteren gesellschaftlichen Positionen aufwachsen zu dürfen - dazu beitragen können, aktiv Integration und ein gelingendes Miteinander zu fördern. Ein wertvolles Buch, dem ich breite Verbreitung wünsche!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.06.2025

Familienepos über Entwicklungsmöglichkeiten, Familienmuster und alte Rechnungen

Die Frauen von Cornwall
0

Daphne Du Mauriers Debütroman, im englischsprachigen Original mit dem Titel "The loving spirit", wurde nun von Brigitte Heinrich neu ins Deutsche übersetzt und vom Insel Verlag herausgebracht, diesmal ...

Daphne Du Mauriers Debütroman, im englischsprachigen Original mit dem Titel "The loving spirit", wurde nun von Brigitte Heinrich neu ins Deutsche übersetzt und vom Insel Verlag herausgebracht, diesmal unter dem Titel "Die Frauen von Cornwall". Als großer Fan von "Rebecca", Daphne Du Mauriers bekanntestem Werk, zu dem es auch das gleichnamige Musical gibt, war ich sehr gespannt auf dieses Buch und habe mich auf eine vielschichtige Familiengeschichte mit einem Hauch Mystik gefreut.

Diese Erwartung hat das Buch auch durchaus erfüllt und ich habe es sehr gerne gelesen. Es ist ein umfangreiches Werk, für das man sich Zeit nehmen sollte: nicht nur ist es fast 500 Seiten lang, sondern es ist auch auf eine Art und Weise geschrieben, die mich dazu eingeladen hat, länger bei manchen Kapiteln zu verweilen und so habe ich für die Lektüre dieses Buches deutlich länger gebraucht als sonst für ein Werk in diesem Umfang. Das heißt aber nicht, dass es langweilig zu lesen gewesen wäre - das war es überwiegend nicht und ich bin gerne den Geschichten der verschiedenen Familienmitglieder gefolgt.

Das Buch ist in vier große Teile geteilt, die jeweils ein Familienmitglied der Familie Coombe in den Mittelpunkt stellen: es beginnt mit Janet Coombe, geht weiter mit deren Sohn Joseph Coombe, danach folgt dessen Sohn Christopher Coombe und schließlich dessen Tochter Jennifer Coombe. Damit wird insgesamt eine Zeitspanne von 1830 (Beginn Janet) bis 1930 (Ende Jennifer) abgedeckt und somit genau ein Jahrhundert.

Janet ist ein Freigeist und träumt davon, zur See zu fahren, doch im frühen 19. Jahrhundert ist das für eine Frau undenkbar, und so verbringt sie ihr Leben damit, sich nach einem freieren Leben zu sehnen und sich zu wünschen, sie wäre ein Mann und könnte so leben, wie sie sich das wünscht, auch wenn ein Teil von ihr sich durchaus auch nach einer Liebesbeziehung sehnt.

Dieses Zitat zeigt ihre innere Zerrissenheit zu diesem Thema: "Janet war immer noch auf dem Hügel und blickte aufs Meer, und es hatte den Anschein, als gebe es zwei Seiten ihr; eine, die Ehefrau eines Mannes sein, ihn umsorgen und zärtlich lieben wollte, und eine andere, die sich einzig und allein danach sehnte, Teil eines Schiffs zu sein, Teil des Meeres und des Himmels, mit dem frohen, freien Leben einer Möwe." (S. 18)

Janet heiratet schlussendlich und bringt sechs Kinder zur Welt, eines davon ihr Sohn Joseph, dem sie sich am nächsten verbunden fühlt, in dem sie sich wiedererkennt und der ihre Sehnsucht nach dem Meer mit ihr teilt und schließlich Kapitän wird, auf dem nach ihr benannten Schiff "Janet Coombe", das in der familieneigenen Werft gebaut wurde.

Joseph verbringt sein Leben auf See, doch auch er ist ein unruhiger Geist und die berufliche Erfüllung macht ihn nicht glücklich, er wird sich zeitlebens nach der engen Verbindung mit seiner Mutter zurücksehnen und sich trotz vieler Affären und mehrerer Ehen auf keine Frau wirklich einlassen können. Dennoch hofft er, dass sein Sohn Christopher seinen Weg als Seemann fortsetzt.

Doch Christopher fühlt sich am Meer gar nicht wohl und zu einem anderen Leben berufen. Lange hadert er mit dem Erwartungsdruck seines Vaters, versucht, diesen zu erfüllen, scheitert daran und bricht aus diesem vorgeplanten Leben aus und flieht nach London. Doch dafür zahlt er einen hohen Preis: es kommt zum Bruch mit dem Vater.

Jennifer wiederum, Christophers jüngstes Kind und einzige Tochter, liebt ihren Vater auch sehr, wird ihn aber leider nur kurz in ihrem Leben haben. Sie wächst als kleines Kind teilweise in der alten Familiengegend im Cornwall auf, wird sich ihre ganze Jugend, die sie dann in London verbringen muss, danach zurücksehnen, und schließlich zurückkehren, um ihre Seelenruhe zu finden, aber auch, um eine alte familiäre Rechnung zu begleichen.

Die Figuren sind liebevoll und tiefgründig gezeichnet und ich habe insbesondere deren Entwicklung über das Jahrhundert sehr spannend gefunden: alle sehnen sie sich auf ihre Art nach Freiheit und Selbstverwirklichung, eigentlich ein sehr modernes Thema. Und alle haben sie ihre Begrenzungen darin, wie sie damit umgehen und was für sie im Leben möglich ist, welche Hoffnungen und Träume sich erfüllen und welche enttäuscht bleiben... doch insgesamt ist über die vier Figuren eine Entwicklung hin zur Moderne und hin zu freieren, selbstbestimmteren Menschen sichtbar. Das zeigt sich am allerstärksten im Vergleich von Jennifer mit ihrer Urgroßmutter Janet.

Das Buch ist somit nicht nur ein lesenswerter Klassiker, sondern auch ein durchaus aktuelles Werk, das auch für die heutige Zeit wertvolle Fragen stellt und zum Nachdenken anregt.

Schade finde ich allerdings, dass der Verlag sich dazu entschieden hat, es dermaßen stark als "Frauenbuch" zu positionieren: ein Titelbild mit rosa Wölkchen im Hintergrund, und dazu der unpassende Titel "Die Frauen von Cornwall", während das Buch bekanntlich zwei Männer und zwei Frauen, also ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis, mit ihren Lebensgeschichten thematisiert, und keineswegs ausschließlich oder überwiegend Frauen.

Ich finde es bedauernswert, dass mit dieser Positionierung wohl noch mehr als ohnehin schon ein weibliches Lesepublikum angesprochen und Männer eher abgeschreckt werden und damit der schon vorhandene Trend, dass viele Frauen "alles" lesen, also Bücher weiblicher und männlicher Autoren, aber die Werke von Frauen oft als "Frauenliteratur" positioniert und nur von einem Geschlecht gelesen werden, verstärkt wird - das hätte ich mir im Jahr 2025 anders gewünscht, und das hat dieses hervorragende Werk so nicht verdient.

Für diese Positionierung kann dieses tolle Werk aber nichts und ich kann es ansonsten allen, die sich für Klassiker und tiefgründige Familiensagas interessieren, sehr empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.05.2025

Sehr düsterer Krimi Noir mit außergewöhnlichem Antihelden & außergewöhnliches Gesellschaftsporträt

Tiefer Winter
0

Der Polar Verlag hat sich auf die Herausgabe und Übersetzung von anspruchsvollen Krimis spezialisiert, die mehr bieten wollen, als nur zu unterhalten. Ein solcher ist auch der Krimi Noir "Tiefer Winter", ...

Der Polar Verlag hat sich auf die Herausgabe und Übersetzung von anspruchsvollen Krimis spezialisiert, die mehr bieten wollen, als nur zu unterhalten. Ein solcher ist auch der Krimi Noir "Tiefer Winter", das Debüt des US-amerikanischen Autors Samuel W. Gailey. Wie während des Lesens und auch nochmal stärker im Nachwort klar wird: hier schreibt einer, der die Schattenseiten des ländlichen Amerikas selbst gut kennen gelernt hat und sie präzise zu beschreiben vermag.

Wir befinden uns in Wyalusing, einem gottvergessenen Nest irgendwo im ländlichen Pennsylvania. Hier gibt es kaum etwas, das schön oder ansprechend wäre. Die Menschen leben in Trailern oder heruntergekommenen Häusern. Nicht einmal Straßenbeleuchtung gibt es hier. Alkohol, Drogensucht, Gewalt und Korruption sind allgegenwärtig, da ist auch der Deputy selbst keine Ausnahme, im Gegenteil, er treibt die Verkommenheit dort noch auf die Spitze. Jobs gibt es kaum, schon gar nicht solche mit Perspektive. Wer überhaupt einen hat, arbeitet meist im lokalen Schlachthaus. Und alle, die etwas aus sich machen wollen und können, verlassen diese schreckliche Gegend spätestens nach der High School... wer den Absprung nicht geschafft hat, bereut es oft später.

Somit finden wir in Wyalusing ein Sammelsurium der im Leben gescheiterten Existenzen vor. Da gibt es den Antihelden der Geschichte, Danny, ein freundlicher, kindlicher Riese, äußerlich erwachsen geworden, aber kognitiv nach einem Unfall als Kind, bei dem er auf dem Eis eingebrochen ist und zu lange unter Wasser war, für immer auf dem Stand eines liebenswerten, aber etwas naiven etwa 6-jährigen Jungen eingefroren. Bei dem Unfall hat Danny außerdem seine Eltern verloren, die ihn retten wollten, und musste danach bei einem eher abweisenden Onkel aufwachsen. Vom Leben verwöhnt wurde Danny also wahrhaftig nicht, hat sich aber seine Freundlichkeit und Herzensgüte bewahrt. Er lebt in einem Zimmer, das ihm die Bennetts vermieten, ein freundliches Ehepaar, das außerdem einen Waschsalon betreibt, in dem Danny aushelfen kann. Von den meisten in der Gegend wird Danny gemieden und verspottet, außer den Bennetts gibt es nur noch seine ehemalige Schulfreundin Mindy, die freundlich zu ihm ist.

Diese will er an ihrem Geburtstagsabend besuchen, um ihr ein handgeschnitztes Geschenk zu überreichen. Leider ist Mindy schon tot, als Danny zu ihr kommt... und damit verliert Danny nicht nur eine ihm wohlgesonnene Person und liebe Freundin, sondern bösartige, skrupellose Menschen wollen ihm auch noch den Mord in die Schuhe schieben, was erst einmal zu gelingen scheint. Denn die Menschen sind, wie sie sind, haben ihre Vorurteile gegenüber Menschen mit Handicaps und sind schnell bereit, die Lügen über ihn zu glauben...

Es kommt zu einer Verhaftung Dannys, dann zu seiner Flucht und am Ende zu einem dramatischen Finale im Schnee.

Die Kunst des Autors besteht darin, gleichzeitig ein tiefgründiges, düsteres Gesellschaftsporträt des ländlichen Lebens zu zeichnen und einen spannenden Krimi Noir zu erzählen, der höchst unterhaltsam zu lesen ist, obwohl man sehr früh weiß, wer der Mörder ist und wer nicht. Die Hauptspannung besteht also im Gegensatz zu vielen anderen Krimis hier nicht in der Ermittlungsarbeit der Kommissare (davon gibt es mehrere, aber das sind ähnlich heruntergekommene Figuren wie alle anderen in diesem Buch), sondern in der Frage, ob und wie es Danny schaffen könnte, gegen alle Wahrscheinlichkeiten zu entkommen und zu überleben. Ein kognitiv beeinträchtigter und verletzter Mann mitten im tiefsten Winter Pennsylvanias, und gleich mehrere Verfolger, die ihm nachstellen!

Dabei vermittelt dieser anspruchsvolle Krimi Noir gleichzeitig ein eindringliches Bild dessen, wie hart und brutal das Leben in manchen vergessenen ländlichen Teilen der USA sein kann. Es ist ein Buch, das stellenweise sehr hart zu lesen sein kann und von blutiger Gewalt und Fäkalsprache nur so trieft. Doch das passt zu diesem Milieu und macht das Buch gleichzeitig authentisch, auch wenn man es als Leser/in aushalten können muss. Besonders sympathisch habe ich Danny gefunden, und seine Wahl zum Mittelpunkt des Buches speziell bei einem Debütroman außergewöhnlich und mutig.

Ich selbst habe das Buch sehr gerne gelesen, weil es gleichzeitig unterhaltsam ist und zum Nachdenken anregt. Es ist abwechselnd aus den Perspektiven verschiedener Personen geschildert, was ich ebenfalls sehr schätze und es für mich noch interessanter gemacht hat. Insgesamt erweitert es das Verständnis dafür, in welchen düsteren Lebenssituationen auch manche Wähler in den USA leben, was sicherlich ihre Weltsicht und Wahlentscheidungen mit beeinflusst. Eine Leseempfehlung für alle, die sich auch für die sehr düsteren Seiten des ländlichen Amerikas interessieren und sich von Gewalt und Fäkalsprache nicht abschrecken lassen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere