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Veröffentlicht am 06.02.2019

Geschichte neu schreiben

Wallace
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„Selbst die größten Umwälzungen der Geschichte beginnen bekanntlich mit einer Kleinigkeit. Und selbst die kleinste Kleinigkeit ist kaum klein genug, um nicht doch am Ende eine große Wirkung zu zeitigen.“

Albrecht ...

„Selbst die größten Umwälzungen der Geschichte beginnen bekanntlich mit einer Kleinigkeit. Und selbst die kleinste Kleinigkeit ist kaum klein genug, um nicht doch am Ende eine große Wirkung zu zeitigen.“

Albrecht Bromberg arbeitet als Nachtwächter im Museum für Natur- und Menschheitsgeschichte. Um sich die monotone Arbeit ein wenig interessanter zu gestalten, pflegt er Kreuzworträtsel im Kopf zu lösen, Vokabellisten des Mordwinischen zu erstellen sowie sich um seine prächtige Sammlung Epiphyten zu kümmern. Den Feierabend lässt er für gewöhnlich mit vier Freunden ausklingen, die sich selbst die Elias-Birnstiel-Gesellschaft nennt. Hier wird, zur großen Erheiterung des Lesers, glühend über Berufe und dazugehörende IQ-Werte, Autoren und ihre Übersetzer sowie das Prinzip der natürlichen Selektion diskutiert. Brombergs eingefahrene Routine wird jäh von einer Fotografie gestört, über die er während einer seiner Museumsgänge stolpert. Auf dieser ist ein bärtiger Mann mit wissendem Schmunzeln im Blick zu sehen, das Bromberg nicht mehr loslässt. Wie er bei seinem befreundeten Antiquariatsbesitzer Schulzen alsbald erfahren soll, handelt es sich bei jenem um den Forschungsreisenden Alfred Russel Wallace, der gleichzeitig mit Darwin die Evolutionstheorie formulierte. In die Analen der Weltgeschichte ist jedoch nur Charles Darwin eingegangen. Warum ist dem allerdings so? Aufkeimender Gerechtigkeitssinn und ein immer stärker werdendes Pflichtgefühl lassen Bromberg den Weg der Wahrheitssuche und Wiedergutmachung einschlagen. Doch lässt sich die Geschichte tatsächlich umschreiben?

Parallel zu Brombergs Ermittlung lernt der Leser den Naturkundler und Forschungsreisenden Alfred Russel Wallace unmittelbar kennen. Er durchstreift mit ihm die Tropenwälder Brasiliens, jagt seltenen Schmetterlingsarten nach und wundert sich über Kakadus auf Lombok. Er kann nicht anders als dem Forscher, den Wissensdurst die Gefahren und Strapazen langer Reisen auf sich nehmen ließ, Bewunderung und Sympathie entgegen zu bringen. Weit entfernt vom Kehlmannschen Karikieren und Durch-den-Dreck-ziehen bedeutender historischer Persönlichkeiten, zeichnet Anselm Oelze ein einfühlsames Portrait eines Forschers, den die Geschichte auf ewig dazu verdammt hat in Darwins Schatten zu stehen. Ob den Mann, der die Einsamkeit liebte, das jedoch jemals gestört hat?

Anselm Oelze ist mit seinem Roman ein vielschichtiges Werk über Alfred Wallace und seine Zeit gelungen. Es besticht durch fundiertes Wissen, Sprachvirtuosität, lebhafte Figuren, spritzige Dialoge und Situationskomik. Gleichzeitig liefert sein Roman Denkanstöße zu wichtigen Themen wie der Frage nach Gerechtigkeit. Als romankompositorischen Missklang empfand ich lediglich den Weg, welchen Bromberg einschlägt, um Wallace zu dem wohlverdienten Platz in der Weltgeschichte zu verhelfen. Nach meinem Empfinden steht dieser in innerer Unstimmigkeit zum restlichen Werk. Sehr gut gefallen hat mir dagegen die deutliche sprachliche Trennung zwischen den Kapiteln, die Bromberg respektive Wallace gewidmet sind. In den Wallace-Kapiteln greift der Autor gekonnt die attributschwangere, verschachtelte Sprache der vergangenen Jahrhunderte auf. Markante Merkmale früherer Romane mit Wiedererkennungswert sind nicht zuletzt auch die kurzen Kapitelinhaltsangaben, die wir unter anderem aus Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ oder Henry Fieldings „Tom Jones“ kennen, sowie das augenzwinkernde „Selbstverständlich ist dies eine wahre Geschichte“, das der Autor in Anspielung an die früher oftmals praktizierte Herausgeberfiktion an den Romananfang setzt. Nicht zuletzt ist Anselm Oelzes Roman somit als eine Art Hommage an die Literatur der vergangenen Jahrhunderte zu verstehen. Ich spreche hiermit gerne eine warme Empfehlung für diesen komplexen Roman aus!

Veröffentlicht am 16.10.2018

Ein kurzweiliger, humorvoller Roman

Alles Liebe, wuff
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Seit Ella, Lulu, Cecile und Silke sich zufällig beim Pilateskurs kennenlernen, sind sie beste Freundinnen und helfen sich gegenseitig, wo sie nur können. Um so mehr, da es gerade bei drei von ihnen richtig ...

Seit Ella, Lulu, Cecile und Silke sich zufällig beim Pilateskurs kennenlernen, sind sie beste Freundinnen und helfen sich gegenseitig, wo sie nur können. Um so mehr, da es gerade bei drei von ihnen richtig dramatisch zugeht: Ella, die Journalistin, wurde von einem Tag auf den anderen von ihrem Freund für eine andere verlassen und den Chafredaktionsposten hat er ihr auch vor der Nase weggeschnappt; Ceciles Sennenhund Simpson stellt neuerdings eine Gefahr für ihren Mann Max dar, der den Hund daraufhin loswerden möchte, aber ihr Sohn Nico mit Downsyndrom braucht Simpson, weil nur er „der Einzige ist, der Nico so nimmt, wie er ist“; Silke, die Hundetrainerin, steckt in großer finanzieller Not, die sie womöglich bald zum Schließen ihrer Hundeschule nötigen wird, wenn ihr nicht endlich etwas einfällt; nur Lulu geht es soweit ganz gut, allerdings gibt es seit Ewigkeiten keinen Mann mehr in ihrem Leben und sie hat Angst als alleinstehende Katzenbesitzerin zu versauern. Rettung ist jedoch für alle vier in Sicht, wenn sie sich sowohl auf die Hunde einlassen, die das Schicksal ihnen in den Weg stellt, als auch auf die Menschen, die mit diesen Hunden einherkommen.

Mit „Alles Liebe, wuff“ ist Andrea Willson ein warmherziger und humorvoller Roman gelungen, der mit seinen mannigfachen Wendungen den Leser bis zum Ende die Romanhandlung voller Spannung und Anteilnahme mitverfolgen lässt. Die menschlichen Charaktere, aber vor allem die Hundefiguren sind mit einem derart humorvollen Verständnis gezeichnet, dass es für jeden Hundefan die reinste Freude ist. Besonders einfallsreich und pointiert sind die Hundemottos, die jedem Kapitel vorangesetzt werden. Bis auf einige Ausdrucks- und Plausibilitätsschwächen ist dem Roman nichts anzulasten, so dass ich eine klare Leseempfehlung für alle Hundefreunde – und nicht nur! – aussprechen kann. Mit anderen Worten: „Folge dem Hund. Kann ich nur jedem Menschen raten.“

Veröffentlicht am 22.09.2018

Ein bezaubernder Jugendroman

Zurück auf Gestern
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Bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr verläuft Claires Leben „verhältnismäßig normal“. Langweilig ist es aber keineswegs. Jedenfalls nicht seit dem Augenblick, als Lulu in ihr Leben tritt. Lulu ist nicht ...

Bis zu ihrem fünfzehnten Lebensjahr verläuft Claires Leben „verhältnismäßig normal“. Langweilig ist es aber keineswegs. Jedenfalls nicht seit dem Augenblick, als Lulu in ihr Leben tritt. Lulu ist nicht nur Claires beste Freundin, sie ist ihr „Herzenszwilling“. Das liegt möglicherweise unter anderem daran, dass sie am selben Tag geboren wurden. Jede freie Minute verbringen sie miteinander, verbünden sich gegen jegliche Widersacher, wie etwa gegen Claires hochbegabte Stiefschwester Sophie, die Claire ständig auf dem Kieker hat, und vertrauen sich jedes Geheimnis an – jedenfalls fast jedes, denn Claire hatte bisher nicht den Mut gefunden, Lulu zu gestehen, dass sie in deren älteren Bruder verliebt ist.

Als Claire zu ihrem fünfzehnten Geburtstag ein Familienerbstück von ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter, liebevoll Omili genannt, mit einem Brief überreicht bekommt, ändert sich schlagartig alles in beider Leben. Das Erbstück, ein kugelförmiger Kettenanhänger mit zwei eingearbeiteten Uhrwerken und einer seltsamen Gravur, hat nämlich Zauberkräfte: Zwei herzverwandte Menschen können mit ihm die Zeit zurückdrehen. Claire und Lulu wissen diese Zauberkraft bald für sich zu nutzen, um unliebsame Geschehen wieder rückgängig zu machen.

Doch das allein genügt beiden nicht – sie wollen dem Geheimnis des Zeitumkehrers nachgehen. Eine gute Freundin Omilis, die sich mit altem Schmuck auskennt, kann zumindest die Gravur in Kurrentschrift auf dem Anhänger entziffern. Es handelt sich um eine Nostradamus zugeschriebene Prophezeiung: "Tötet grauser Mord den einen, obsiegt fortan der Menschheit Streit. Nur Gemini die Feinde einen, wenn sie verdrehen den Lauf der Zeit."

Auch Omilis Brief liefert einen Hinweis: „Lies Amalias Tagebuch.“ Dank dem Tagebuch erhält Claire Einblick in Amalias Leben und das ihrer Zwillingsschwester Eugenia, die Anfang des 19. Jahrhunderts gelebt haben. Deren Vater, ein Uhrmacher und Sternenforscher, der die Prophezeiung auf seine Töchter bezog, baute den Zeitumkehrer für die beiden, damit sie die Welt retteten. Nachdem der Streit um einen Mann die beiden Schwestern entzweit, verbindet der Vater Kraft seines Lebens die zwei Hälften zu einer Kugel: „Fest schloss sich Vaters Faust um die halben Kugeln. [...] »Aus zwei wird eins«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und nur zwei reine Herzen, die im gleichen Takt für das gleiche Ziel schlagen, werden seine Macht nutzen können.« Als das Beben verebbte, sank Vaters Körper langsam zur Seite. Während seine Augen sich für immer schlossen, öffnete sich seine Faust. Und heraus rollte eine unversehrte Kugel, der man nicht im Geringsten ansah, dass sie je geteilt gewesen war.“

Bald darauf tritt das fast Undenkbare ein: Auch die Herzensschwestern Claire und Lulu entzweit ein großer Streit. Dabei hat es jemand aus der unmittelbaren Nähe zwecks Ausführung eines dunklen Planes auf den Zeitumkehrer abgesehen. Und nur wenn Claire und Lulu kein böser Gedanke und kein noch so kleines Geheimnis mehr voneinander trennt, kann es ihnen gelingen, den schrecklichen Plan zu vereiteln.

Claire, die Ich-Erzählerin, ist eine äußerst sympathische Figur, mit der sich sicherlich jede Leserin gut identifizieren kann: Sie ist humorvoll, zartfühlend und phantasievoll. Da sie vorsichtig und zurückhaltend ist, während Lulu spontan und abenteuerlustig ist, ergänzen sich die beiden auf perfekte Weise.

Katrin Lankers gelingt mit „Zurück auf Gestern“ ein bezaubernder und fesselnder Jugendroman. Er ist ein Plädoyer für Freundschaft, Zusammenhalt, Verantwortung, Ehrlichkeit und Mut. Die Sprache einer Fünfzehnjährigen wird authentisch und überzeugend simuliert. Der Autorin gelingt es auch dem Fach Geschichte, das für Schüler oft trocken und uninteressant wirkt, Leben einzuhauchen und so der Jugend schmackhaft zu machen. Eine deutliche Leseempfehlung für Jugendliche!

Veröffentlicht am 22.09.2018

Auf der Suche nach dem eigenen Ich

Das Glück kurz hinter Graceland
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Laura Berry, die Elvis in seinem letzten Lebensjahr als Backgroundsängerin begleitet, kehrt nach dessen Tod Hals über Kopf in ihre Heimatstadt Beaufort zurück. „In wahnsinniger Eile war sie nach Hause ...

Laura Berry, die Elvis in seinem letzten Lebensjahr als Backgroundsängerin begleitet, kehrt nach dessen Tod Hals über Kopf in ihre Heimatstadt Beaufort zurück. „In wahnsinniger Eile war sie nach Hause gerast, weil ihr plötzlich klar geworden war, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie doch nicht als Backgroundsängerin auf Tour gehen [...] und den strahlenden Lichtern des Rock'n'Roll hinterherjagen sollen. Vielleicht wäre sie besser zu Hause geblieben und hätte den Jungen von nebenan geheiratet, den, der sie so sehr liebte, dass er ihr noch am selben Abend, als beide ihren Highschoolabschluss [...] in der Tasche hatten, einen Heiratsantrag machte. Aber das hatte sie damals nicht begriffen. Sie war blind dafür gewesen, dass ihr wahres Schicksal direkt vor ihr stand. Sie war achtzehn, und sie musste sich etwas beweisen.“

Bradley verzeiht ihr. „Statt einer Antwort hob er sie hoch und wirbelte sie herum.“ Gleich am nächsten Tag heiraten sie. „Der Rest ihres Lebens spulte sich ab wie Seide, ein schönes Ereignis folgte dem anderen, genau so, wie sie es geplant hatten.“ Und über dieses eine Jahr wird nicht mehr gesprochen, auch nicht Cory Beth gegenüber, die sieben Monate später als „Frühchen“ zur Welt kommt. Erst mit 37 Jahren, nach dem Tod Lauras soll Cory der nie erzählten Wahrheit auf die Spur kommen. Ein unwiderlegbares Indiz für ihren seit langem gehegten Verdacht, Elvis Presley sei ihr leiblicher Vater, wird von ihr entdeckt: ein schwarzes Coupé, das unweigerlich dem King of Rock'n'Roll einst gehört haben muss.

Mit Hilfe der sich in dem Blackhawk befindenden Gegenstände fährt Cory die Route rückwärts nach, die ihre Mutter vor 38 Jahren genommen hatte. Auf dem Weg nach Graceland liest sie nicht nur einen streunenden Hund auf, der zu einem wichtigen Weggefährten wird, sondern lernt auch die Menschen kennen, die einst eine wichtige Rolle im Leben Laura Berrys gespielt haben. Stück für Stück setzt sie das Puzzle zusammen...

Kim Wright lässt uns sowohl an Corys Innenleben als auch an dem Lauras teilhaben, indem sie die Erlebnissequenzen der Tochter mit denjenigen der Mutter abwechselnd präsentiert. So legt der Leser die Reise von South Carolina nach Memphis nicht nur auf linearem Weg mit Cory zurück, sondern auch mit Laura auf rückwärtige Weise, in die jeweils weiter zurückliegende Vergangenheit. Auf diese Weise wird nichts vorweggenommen, sondern das, was Cory erarbeitet durch Lauras Versatzstücke bestätigt und erweitert.

Was zunächst als Suche nach dem leiblichen Vater anmutet, stellt sich im Nachhinein als Versuch heraus, die eigene Mutter besser verstehen zu lernen. „Ich dachte, ich wäre auf diesem absurden Roadtrip, um meinen Vater zu suchen, aber inzwischen glaube ich, dass ich eigentlich auf der Suche nach meiner Mutter bin, um herauszufinden, wer sie wirklich war.“ Und damit auch auf der Suche nach dem eigenen Ich, denn „wir sind nicht nur unsere Biologie. [...] Am Ende sind die Menschen das, wofür sie sich entschieden haben.“

Bei "Das Glück kurz hinter Graceland" handelt es sich quasi um einen Bildungsroman im Kleinen: Cory legt nicht nur eine Strecke zurück, die sich in Kilometern berechnen lässt, sondern entwickelt sich mit jeder gesammelten Erfahrung und Erkenntnis weiter. Sie ist am Ende eine andere Person, als sie es zu Anfang gewesen ist. „»Was denken Sie, woher haben Sie diese startaugliche Stimme? Wer hat sie Ihnen mitgegeben?« Noch vor wenigen Tagen hätte ich gesagt, die habe ich von Elvis. Aber das war vor vier Tagen und anderthalbtausend Kilometern. »Keiner«, sage ich. »Die habe ich mir selbst gegeben.«"

Veröffentlicht am 18.09.2018

Von der Muse geküsst

Das Geheimnis der Muse
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Das Geheimnis der Muse – ein Roman Jessie Burtons, der sich sowohl mit Geschichte und Kunst als auch psychologischen Fragen und zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzt – und das mit einer ihr ...

Das Geheimnis der Muse – ein Roman Jessie Burtons, der sich sowohl mit Geschichte und Kunst als auch psychologischen Fragen und zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzt – und das mit einer ihr ganz eigenen Art der atmosphärischen Spannung.

Odelle Bastien, eine junge Frau aus Trinidad, mit erstklassigem Abschluss in Englischer Literatur und schriftstellerischen Ambitionen, zieht nach England und gewährt uns Einblick in die Zeit, die sie am meisten geprägt hat. „Die beherrschenden Ideen, das Timbre, die typische Gestalt all dessen, was ich schreibe, haben ihren Dreh- und Angelpunkt in jener kurzen Phase meines Lebens. Im Schreiben bearbeite und wiederhole ich in immer neuen Variationen die Erfahrungen, die mich damals geformt haben.“ In diese kurze Phase ihres Lebens, über die Odelle spricht, fallen zwei einschneidende Ereignisse: Odelle beginnt ihre Arbeit als Sekretärin in der renommierten Kunstgalerie Skelton, wo ihr die geheimnisvolle Marjorie Quick immer wieder neue Fragen aufwirft, und sie macht auf der Hochzeitsfeier ihrer besten Freundin Bekanntschaft mit Lawrie Scott, der sich im Besitz eines Gemäldes befindet – dem einzigen Erbstück seiner kürzlich verstorbenen Mutter. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Bild um ein verschollen geglaubtes Gemälde des andalusischen Revolutionärs Isaac Roble. Dieses Gemälde wird zum Verbindungsstück mit den Geschehnissen des Jahres 1936 in Spanien, wohin die junge Malerin Olive Schloss mit ihren Eltern vor den Unruhen der 30er Jahre aus London flieht. Dort lernen sie ihre unmittelbaren Nachbarn, Isaac Roble und seine Schwester Teresa, kennen. Zwischen Olive und Isaac entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die in Olive unerwartete kreative Kräfte freisetzt, die ihren Ausdruck in vier Gemälden wiederfinden.

Die Autorin Jessie Burton greift in diesem Teil des Romans tief verwurzelte tradierte Denkmuster auf, in denen der Mann als Subjekt, die Frau als Objekt figuriert und vertauscht die Geschlechter-rollen: Es ist der Mann, der zur ‚Muse’ für die Künstlerin wird. Er ist Objekt ihrer Liebe und seine Liebeserwiderung ist ihr unentbehrlich für das kreative Schaffen. Aus dem ultimativen „Ich kann ohne dich nicht leben“ wird ein „Ich kann ohne dich nicht malen“. Auch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts herrscht Konsens darüber, Frauen könnten zwar dichterisch und künstlerisch tätig sein, ein wahres Kunstwerk könnte aber nur ein Mann zustande bringen. Nur ein Mann kann Neues schaffen. Diese Auffassung konzentriert sich in der Figur des Kunsthändlers Harold Schloss, Olives Vater. Aus einer von Olive Schloss nicht geplanten Situation heraus, wird Isaac Robles für den Schöpfer ihres Werks gehalten. Harold Schloss glaubt einen wahren Künstler gefunden zu haben und nimmt "Die heilige Justa im Brunnen" als "Frauen im Weizenfeld" auf einen Siegeszug mit nach Paris. Weitere Gemälde entstehen unter falscher Identität.

Ein verhängnisvolles Tauziehen beginnt: „Ich glaube, es war immer schon in dir und hat nur darauf gewartet, endlich ans Licht zu kommen. Ich war nur zufällig zur richtigen Zeit da, sodass du mich als Projektionsfläche benutzt hast. […] Ich bin eine Berühmtheit in Paris, obwohl ich nie dort gewesen bin. Ich male Selbstporträts, die ich nie zu Gesicht bekommen habe. Du stiehlst meine Identität, Olive. Ich merke, wie ich mehr und mehr verschwinde, je sichtbarer ich werde.“ Olive hält Isaac entgegen: „Weißt du, wie viele Künstler mein Vater verkauft? Das letzte Mal, als ich gezählt habe, waren es sechsundzwanzig. Wie viele Frauen sind darunter, was meinst du, Isaac? Keine. Nicht eine einzige. Frauen können nämlich nicht malen, weißt du? Sie haben zwar, soweit mir bekannt ist, ebenso wie die Männer Augen und Hände, Herz und Seele, aber ihnen fehlt das Schöpferische. Dagegen kommt man nicht an, ich hätte keine Chance.“ – „Aber es wäre doch immer noch dasselbe Bild, wenn dein Name darunter stünde“, sagte Isaac. „[...] Du hättest die Verhältnisse ändern können.“ – „Es hätte nie und nimmer funktioniert. […] Das, was du ›die Verhältnisse ändern‹ nennst, würde mich so viel Energie kosten, dass keine mehr zum Malen übrig bliebe, und genau das ist der springende Punkt: Du willst, dass ich die Energie, die ein Mann aufwenden kann, um etwas möglichst Gutes zu schaffen, dafür nutze ›die Verhältnisse zu ändern‹. Du verstehst das nicht, Isaac, weil du immer ein Leben als Individuum geführt hast.“

Bereits dreißig Jahre später kann die junge Odelle als Individuum und Dichterin in der Gesellschaft Anklang finden. Das Britische Konsulat in Trinidad verleiht ihr den ersten Preis für das Gedicht "Caribbean Spider-Lily", ihr die Liebe thematisierendes Gedicht, das sie auf der Hochzeit ihrer Freundin Cynthia vorträgt, sorgt für positiven Aufruhr und auf Marjorie Quicks Initiative hin wird ihre Kurzgeschichte "Die Frau ohne Zehen" in der London Review abgedruckt. Als karibische Migrantin hat sie mit Problemen und Vorurteilen anderer Natur zu kämpfen. Sie muss feststellen, dass das in ihrem Heimatland gezeichnete Bild von England nicht mit dem übereinstimmt, was sie selbst in London vorfindet. „Man stellt sich vor, in London gibt es nichts als Ordnung und Überfluss und Anstand und grüne Natur. Man verliert ganz das Gefühl für die Distanz. […] Die Queen regiert in London und ist gleichzeitig Staatsoberhaupt unserer Insel. Also fühlt es sich an, als wären wir in London zu Hause. […] Man denkt, die Leute kennen einen, weil sie auch Dickens und Brontë und Shakespeare lesen, aber ich habe hier noch niemanden getroffen, der auch nur drei seiner Stücke nennen könnte. [..] Sie schauen nicht mal aus dem Fenster raus, weil sie denken, sie kennen sowieso jeden Busch und jede Blume da draußen, die Rinde von jedem Baum und die Stimmung jeder Wolke. Aber wir haben Platz für jede Menge Sprachen […] Was ist ihr Englisch im Vergleich mit meinem Kreolisch, mit allem, was dazugehört – Kongo und Spanisch, Hindi, Französisch, Englisch, Bhojpuri, Yoruba und Manding?“

Während Odelle in dem Gemälde "Rufina und der Löwe" eine Geschichte sieht, die zum Teil auch
ihre eigene geworden ist, ist es für Lawrie „eine Ware, ein Mittel zum Zweck. Er sah darin eine Gelegenheit, die Chance, neu anzufangen“. Edmund Reede, der Direktor des Skelton, sieht in den Bildern "Die heilige Justa im Brunnen" und "Rufina und der Löwe" eine Fortführung der Tradition spanischer Malerei und zugleich eine Variation des Themas der zwei heiligen Schwestern Justa und Rufina: „Robles war nicht der einzige Spanier, der Rufina und Justa gemalt hat. Velázquez, Zurbarán, Murillo und Goya, vier große spanische Maler, die die zwei Schwestern auch gemalt haben. […] Schöpferische Rebellion gegen die herrschenden Verhältnisse. […] Die Töpferin Rufina, eine aufrechte Vertreterin der Arbeiterklasse, trotzt dem Löwen des Faschismus. […] Und die Entdeckung, dass zwischen den beiden Gemälden […] eine enge Verbindung besteht, erschließt uns neue Einblicke in seine Arbeitsweise, in seine ganze Geistesart […]. Mein Konzept der Ausstellung zielt darauf, deutlich zu machen, dass der früh aus dem Leben gerissene Robles, eine internationale Berühmtheit der modernen Kunst, sich der großen Tradition spanischer Malerei, in der er stand, […] sehr wohl bewusst war.“

Kunst- und Literaturtheorien zielen oftmals darauf, sich einem bestimmten Werk über den Autor zu nähern, Rückschlüsse über sein Werk aus der Zeit ziehen, in der der Künstler gelebt hat oder sogar das Werk im Licht einer gegenwärtigen Geistesströmung zu deuten. Die Autorin Jessie Burton scheint mit ihrem Roman Das Geheimnis der Muse auf eine andere Herangehensweise sensibilisieren zu wollen. Sie propagiert den Sinn-Objektivismus: Alle Fragen, die das Werk aufwirft, kann das Werk selbst beantworten. Das Werk selbst sprechen lassen, ist Programm dieses Ansatzes. Indem die Autorin Edmund Reede so überzeugend das Werk "Rufina und der Löwe" in den Kontext des spanischen Bürgerkriegs setzen und ihn daraus scheinbar einwandfrei und überzeugend die künstlerische Aussage des Revolutionärs Isaac Robles ableiten lässt, dekonstruiert sie diese Art der Herangehensweise an ein (Kunst-)Werk. Jessie Burton erlaubt dem Leser mit ihrem Roman hinter die wahren Kulissen zu blicken und gewährt ihm die Möglichkeit, eine eigene Interpretation für das Werk zu finden, ohne ihm eine bestimmte Deutung aufzuzwängen. „Am Ende gelingt ein Kunstwerk nur dann, wenn […] sein Schöpfer den unverrückbaren Glauben daran besitzt, der es ins Dasein bringt.“

Jessie Burton setzt sich in ihrem Roman Das Geheimnis der Muse souverän mit dem geschichtlichen Hintergrund Spaniens zur Zeit des Bürgerkriegs, der Kolonialpolitik des Empires und dem Selbstbild Großbritanniens der 60er Jahre, mit dem alten und neuen Kunstverständnis und dem Geschlechterrollen-Diskurs auseinander – dies alles eingebettet in zwei miteinander verwobene Handlungsstränge, die einen bis zur letzten Seite fesseln.