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Veröffentlicht am 10.02.2019

Nicht alles wird gut

Abendrot
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Die Romane von Kent Haruf (1943 - 2014) zu lesen, ist für mich wie heimkehren, heimkehren nach Holt, dem fiktiven Ort in Colorado, an dem seine sechs Romane angesiedelt sind. Hier treffe ich immer wieder ...

Die Romane von Kent Haruf (1943 - 2014) zu lesen, ist für mich wie heimkehren, heimkehren nach Holt, dem fiktiven Ort in Colorado, an dem seine sechs Romane angesiedelt sind. Hier treffe ich immer wieder auf alte Bekannte und freue mich zu hören, wie es ihnen ergangen ist. Dabei handelt es sich keinesfalls um Fortsetzungsromane, sondern jeder Band ist unabhängig zu lesen. Trotzdem schließt „Abendrot“ in einigen Handlungssträngen direkt an „Lied der Weite“ an, sodass die Lektüre noch mehr Spaß macht, wenn man den Vorgängerband gelesen hat.

Besonders gefreut habe ich mich, dem Brüderpaar Raymond und Harold McPheron wieder zu begegnen mit ihrer Ziehtochter Victoria Roubideaux und deren kleiner, mittlerweile zweijährigen Tochter Katie. Als Victoria nun zum Studium ins zwei Fahrtstunden entfernte Fort Collins zieht, ist das zwar ein wichtiger Schritt für sie und Katie, trotzdem bleibt eine große Traurigkeit auf allen Seiten zurück. Kaum sind sie weg, ereignet sich ein schweres Unglück auf der Ranch mit weitreichenden Folgen. Auch Tom Guthrie ist wieder mit von der Partie, seine Söhne Bobby und Ivy und die neue Frau an seiner Seite, in diesem Buch allerdings nur in Nebenrollen. Dafür gibt es neue Protagonisten, denen ich bisher in Holt noch nicht begegnet war: der ernste und verantwortungsbewusste elfjährige DJ, der bei seinem Großvater lebt und mehr für den alten Mann sorgt als umgekehrt, Mary Wells mit ihnen Töchtern Dena und Emma, die den Boden unter den Füßen verliert, als ihr Mann sie verlässt, und das von Sozialhilfe in einem verwahrlosten Wohnmobil hausende Ehepaar Wallace, das seine beiden Kinder nicht beschützen kann. Ein besonders sympathischer Charakter ist die aufopferungsvolle, gütige Sozialarbeiterin Rose Tyler, die ihr Beruf bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt.

Alle diese Bewohner von Holt kämpfen mit den kleinen und großen Problemen ihres Alltags, begegnen sich wie Kugeln auf einem Billardtisch, rollen eine kleine Strecke gemeinsam, streben sofort wieder auseinander oder nehmen sich im Vorübergehen kaum wahr. Manche verlieren sich, manche stürzen ab oder bekommen ihr Leben nicht in den Griff, manche kommen wieder auf die Beine, manchen finden einen Zuhörer oder sogar eine neue Liebe. Aber für alle geht es immer irgendwie weiter.

Ich frage mich bei jedem von Kent Harufs Romanen, was eigentlich deren Faszination ausmacht, schließlich geht es darin nicht um die großen Fragen des Lebens, sondern nur um die alltäglichen Probleme von Kleinstadtbewohnern im Mittleren Westen der USA. Für mich sind es eindeutig die empathische, kitschfreie Erzählweise, die besonderen Charaktere und das bedächtige Erzähltempo Kent Harufs, die sie zu einem sehr anrührenden, beglückenden Stück Literatur für mich machen.

Veröffentlicht am 01.02.2019

Den Mond verlieren

Der Sommer meiner Mutter
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„Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Die drastische Ouvertüre dieses Romans lässt keine Zweifel über das Ende und doch habe ich ihn ...

„Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Die drastische Ouvertüre dieses Romans lässt keine Zweifel über das Ende und doch habe ich ihn gebannt und voller Spannung gelesen. "Der Sommer meiner Mutter" war mein erstes Buch von Ulrich Woelk, aber ganz bestimmt nicht mein letztes. Was man sich im Verlag allerdings bei der Wahl des Covers gedacht hat, bleibt mir ganz und gar rätselhaft.

Im Sommer 1969 ist der Ich-Erzähler Tobias Ahrens elf Jahre alt. Seine Eltern beschreiben ihn als still und nachdenklich, er ist noch ganz Kind und doch bereits Experte in Sachen Weltraum. Die wichtigsten Accessoires seines Kinderzimmers sind ein Raketenmodell, ein Mondposter und ein Weltempfänger und er fiebert der ersten Mondlandung entgegen.

In das wohlgeordnete Leben der konservativ-katholischen Familie aus einem bürgerlichen Kölner Vorort bricht im Sommer 1969 ein Sturm in Gestalt der neuen Nachbarn herein. Die Leinhards sind das genaue Gegenteil der Familie Ahrens: Während Tobias‘ Vater als Ingenieur und leitender Angestellter selbstverständlich Alleinverdiener ist, lehrt Herr Leinhard Philosophie an der Universität und beschäftigt sich mit Bloch, Adorno und der Frankfurter Schule, Frau Leinhard trägt genau die Jeans, die Tobias‘ Mutter sich nicht zu kaufen traut, ihre Haar schwingen frei, sie raucht und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin englischer Kriminalromane. Leinhards sind Kommunisten und demonstrieren gegen den Vietnam-Krieg. Trotzdem freunden sich die Ehepaare an, genauso wie ihre Kinder Tobias und Rosa, eine frühreife, kluge, bisweilen altkluge 13-Jährige, die sich für Politik interessiert, unbeschränkten Zugang zum Bücherschrank ihrer Eltern hat und an einem Roman schreibt.

Kann es sein, dass es, wie Rosa meint, außer der Mondlandung noch andere, ebenso spannende Abenteuer gibt? Tobias erfährt es in diesem Sommer, er verpasst die ersten Schritte Neil Armstrongs auf dem Mond, weil beiden Familien genau in dieser Nacht ihr bisheriges Leben um die Ohren fliegt und danach nichts mehr ist, wie es war: „Ich hatte den Mond verloren“.

2014, als Tobias längst – wie auch der Autor Ulrich Woelk – studierter Astrophysiker ist, erzählt er rückblickend die Geschichte dieses Sommers: von den faszinierenden Ereignisse im Weltraum, seinen ersten verstörenden sexuellen Erfahrungen, den Veränderungen bei seiner Mutter, die plötzlich von mehr als einem Hausfrauendasein träumte, dem Ereignis, das schließlich alles aus den Angeln hob, und seinen Schuldgefühlen, mit denen er alleine war.

Der kühl-analytische Stil des nur 189 Seiten umfassenden Romans passt sehr gut zu einem technikaffinen Ich-Erzähler. Knapp und prägnant sind die Umbrüche und Widersprüche der späten 1960er-Jahre am Beispiel zweier Familien eingefangen. Während es für den technischen Fortschritt keine Grenze zu geben scheint, sind Moralvorstellungen und Rollenbilder erstarrt. Dass dies nicht nur für Tobias‘ biedere Familie gilt, sondern in erstaunlichem Maße auch für die links-intellektuellen Leinhards, war für mich eine der Überraschungen dieses sehr lesenswerten Romans.

Veröffentlicht am 15.01.2019

Die Wale sind das Geringste in diesem Spiel

Nordwasser
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Hull, Frühjahr 1859. Die „Volunteer“, ein altes Walfangschiff aus Yorkshire, rüstet zu einer Expedition Richtung Grönland, auch wenn die beste Zeit des Walfangs wegen Überfischung vorüber ist und Petroleum ...


Hull, Frühjahr 1859. Die „Volunteer“, ein altes Walfangschiff aus Yorkshire, rüstet zu einer Expedition Richtung Grönland, auch wenn die beste Zeit des Walfangs wegen Überfischung vorüber ist und Petroleum das Walöl ablöst. Anstatt eine Mannschaft zu bilden und angesichts des gefährlichen Unternehmens an einem Strang zu ziehen, verfolgen viele der knapp 40 Männer an Bord ganz eigene Ziele. Für Kapitän Arthur Brownlee, bekannt für seine Glücklosigkeit und Tollkühnheit, soll es die letzte Fahrt werden, denn dem skrupellosen Schiffseigner Jacob Baxter geht es nicht um Wale, sondern um einen möglichst vorteilhaften Ausstieg aus dem Geschäft. Der 27-jährige Schiffsarzt Patrick Sumner, irischer Arzt und vor kurzem wegen Entfernung von der Truppe in Indien unehrenhaft aus Armee entlassen, möchte sich für einige Zeit „auflösen“ und sich dann neu erfinden. Er hat Demütigung, Verrat und Schande erlebt und hofft nun auf eine „ruhige, vielleicht sogar langweilige Zeit“ an Bord. Seine Lektüre ist die „Ilias“, sein Laster die Opiumsucht. Henry Drax dagegen, begabter Harpunier, aber Teufel in Menschengestalt, gesteuert einzig von seinen Impulsen und völlig ohne Moral, der bereits im ersten Kapitel vor Beginn der Reise zwei Menschen kaltblütig ermordet, will der Langeweile an Land entkommen.

Die Fahrt scheint zunächst vom Glück begünstigt, denn die Robbenjagd ist erfolgreich, man erlegt eine Eisbärin und fängt ihr Junges. Als kurz darauf auch der erste Wal zur Strecke gebracht und zerlegt ist, breitet sich sogar Siegestaumel aus. Doch dann wird immer offensichtlicher, dass die Expedition verflucht zu sein scheint. Eine Vergewaltigung und ein Mord sind nur der Auftakt zu einer Kette von Ereignissen, die in einen brutalen Überlebenskampf münden.

"Nordwasser" des 1964 geborenen, in Hull aufgewachsenen Literaturwissenschaftlers und Autors Ian McGuire ist sicher einer der brutalsten und kompromisslosesten Romane, die ich je gelesen habe. Doch sind die Grausamkeiten, sei es bei der Jagd oder im zwischenmenschlichen Bereich, nie um ihrer selbst oder der Spannung willen beschrieben, sondern dienen dazu, McGuires eigentliches Thema zu illustrieren: die Entlarvung des Monsters Mensch. Die schier unerträglichen Schilderungen von Brutalität, Gestank, Gemetzel, Menschenverachtung, Skrupellosigkeit und Blut kontrastieren in atemberaubender Weise mit der Natur des Nordens, mit dem Nordmeer-Himmel und den ebenso erhabenen wie bedrohlichen Eislandschaften.

Im Präsens, in derber Sprache und bis auf wenige kurze Rückblicke streng chronologisch erzählt, lässt sich der Roman flüssig und trotz technischer Details über die Jagd leicht lesen. Der Spannungsbogen ist enorm, so dass ich dieses Buch, das viel mehr als ein historischer Abenteuer- und Kriminalroman ist, nicht aus der Hand legen konnte. Lediglich eine Landkarte hätte ich mir gewünscht.

Wieder einmal hat es sich bei "Nordwasser" gezeigt, dass Bücher des von mir so geschätzten mareverlags auch dann die richtige Lektüre sind, wenn mich das Thema, wie hier der Walfang, nicht sofort anspricht. Ähnlich erging es mir vor knapp zwei Jahren mit der Robinsonade "Herz auf Eis" von Isabelle Autissier, die zum Lieblingsbuch wurde. Schade nur, dass "Nordwasser" den Man Booker Prize nicht bekommen hat, für den es 2016 nominiert war.

Veröffentlicht am 18.12.2018

Es geht nichts über Freunde und gute Nachbarn

Hörbe und sein Freund Zwottel
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Hörbes Abenteuer gehen weiter und wieder hat die Illustratorin Annette Swoboda die liebevoll nachkolorierten Bilder zu dieser Neuausgabe beigesteuert. Der tatkräftige Hutzelmann, Korb- und Hutmacher und ...

Hörbes Abenteuer gehen weiter und wieder hat die Illustratorin Annette Swoboda die liebevoll nachkolorierten Bilder zu dieser Neuausgabe beigesteuert. Der tatkräftige Hutzelmann, Korb- und Hutmacher und einer von 13 seiner Art im Siebengiebelwald, hat in Band eins, "Hörbe mit dem großen Hut", bei einem aufregenden Ausflug in die Worlitzer Wälder Zwottel Zottelschratz als Freund gewonnen und mit nach Hause gebracht. Nun muss auch Hörbe nicht mehr alleine leben, sondern hat wie alle Hutzelmänner einen Mitbewohner. Aber kaum ist die Einstandsfeier vorbei und der Streuselkuchen aufgegessen, gibt es ein Problem, denn der Winter steht vor der Tür und Hörbe hat nicht genug Vorräte für zwei, schon gar nicht für einen so hungrigen Zottelschratz! Zum Glück haben die beiden liebe Nachbarn. Als Hörbe schon recht verzweifelt ist, kommen ihm der kleine Leubner, Wurzeldittrich, Humpelkeil, Nörgelseff, der alte Zimprich, Hustenplischke, Mörtelmöller, der lange Ginzel, Eisenscholze, Honig-Pankranz, Wollepietsch und der bunte Hoffmann zur Hilfe. Und als es schließlich wie verrückt schneit und Eis das Hutzelmannhaus einhüllt, fällt Zottel in seinen wohlverdienten Winterschlaf.

Während Band eins mit Hörbes abenteuerlicher Wanderung und seiner Begegnung mit Zwottel sehr spannend ist, gefallen mir in Band zwei das Gemeinschaftsleben der Hutzelmänner und ihre Hilfsbereitschaft besonders gut. Wunderschön und sehr atmosphärisch sind die Beschreibung und Illustration der Winterfreuden und -mühen, sei es in der behaglichen Hütte am Feuer, sei es draußen bei Räumarbeiten oder einer lustigen Schneeballschlacht. Als im 31. und letzten Kapitel alle zusammen Weihnachten feiern und dazu sogar Zwottel aus seinem Schlaf erwacht, hat die kleine Gemeinschaft den großen Vorlesern und den Zuhörern ab fünf Jahren bewiesen, dass man zusammen alles schaffen kann.

Veröffentlicht am 18.12.2018

Die Welt steckt voller Überraschungen

Hörbe mit dem großen Hut
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Während die meisten Kinderbuchfreunde bei den Klassikern von Otfried Preußler (1923 – 2013) nur an seine bekanntesten Titel "Der kleine Wassermann" (1956), "Die kleine Hexe" (1957), "Der Räuber Hotzenplotz" ...

Während die meisten Kinderbuchfreunde bei den Klassikern von Otfried Preußler (1923 – 2013) nur an seine bekanntesten Titel "Der kleine Wassermann" (1956), "Die kleine Hexe" (1957), "Der Räuber Hotzenplotz" (1962) mit den beiden Fortsetzungsbänden (1969 und 1973) sowie "Das kleine Gespenst" (1966) denken, gehören für mich die zwei leider etwas weniger populären Vorlesebücher um die Abenteuer des sympathischen Hutzelmanns Hörbe zu den absoluten Favoriten. "Hörbe mit dem großen Hut" (1981) und "Hörbe und sein Freund Zwottel" (1983) sind nun in sehr liebevoll von Annette Swoboda nachkolorierten Neuausgaben erschienen und machen damit als Vorlesebücher ab fünf Jahren sogar noch mehr Spaß.

Hutzelmann Hörbe ist zwar sehr klein, aber durchaus kein Hutzelmännchen, sondern ein gestandener Korbflechter und Hutmacher, der weiß, was er will. An einem schönen Herbsttag mitten unter der Woche lässt er aus einer spontanen Laune heraus die Arbeit einfach ruhen und begibt sich auf einen Wanderausflug. Als einziger alleinwohnender unter den sonst paarweise lebenden 13 Hutzelmännern im Siebengiebelwald genießt er eine gewisse Unabhängigkeit, ist aber dafür ein wenig einsam. Frohgemut verlässt er an diesem Tag sein Hutzelmannhaus unter einem Reisighaufen nach dahin und dorthin mit dem Vorsatz, am Abend zurückzukehren. Gemäß seinem Motto „Man soll sich nicht in Gefahr begeben, wenn es nicht sein muss“ ist er fest entschlossen, die Worlitzer Wälder zu meiden, wo der gefährliche Plampatsch hausen soll. Doch dann kommt alles anders, denn zunächst attackieren ihn die gefräßigen Ameisen, dann wird er auf den Rabenteichen von einer bedrohlichen Strömung erfasst und gerät schließlich in einen Wasserfall. Ein Glück, dass er seinen genialen Doppelhut hat und Zwottel, der Zottelschratz mit dem Zottelpelz und dem Zi-Za-Zottelschwanz ihm aus der Patsche hilft...

Am Ende seines Ausflugs hat Hörbe nicht nur das Rätsel um den Plampatsch gelöst, sondern auch einen wunderbaren Freund gewonnen, mit dem das Alleinsein ein für alle Male ein Ende hat.

Mit der Figur des Hörbe hat Otfried Preußler unverkennbar ein Wesen aus seiner böhmischen Heimat zum Helden seiner spannenden Geschichte in 27 kurzen Kapiteln gemacht. Der abenteuerliche Ausflug ins Unbekannte und die Begegnung zwischen dem tatkräftigen Hutzelmann und dem unbedarften „geborenen Spaßmacher“ Zwottel sind ein Vorlesespaß, der den kleinen Zuhörern genauso wie den großen Vorlesern auch fast 40 Jahre nach seiner Entstehung immer noch größte Freude macht.