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Batyr

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.10.2019

Viktorianischer Schauerroman - parodiert

Die Ewigkeit in einem Glas
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Was für eine vergnügliche Melange: das schauerliche London des 19. Jahrhunderts mit Laster und Schmutz, eine gute Portion Spannung, die aus Bridies - Verzeihung, Mrs. Devines - beruflicher Tätigkeit erwächst, ...

Was für eine vergnügliche Melange: das schauerliche London des 19. Jahrhunderts mit Laster und Schmutz, eine gute Portion Spannung, die aus Bridies - Verzeihung, Mrs. Devines - beruflicher Tätigkeit erwächst, da sind die Figuren, die allesamt einem Tollhaus entsprungen scheinen, da ist dieser kräftige Hauch des Mysteriösen, Übersinnlichen, verkörpert durch das unirdische kleine Mädchen. Großartig, wie Jess Kidd den Erzählfaden immer wieder neu verwirbelt. Die Zeitsprünge erzeugen einen stringenten Spannungsbogen, der das Handlungsgefüge kontinuierlich vervollständigt. Behaglich-abstrus-pittoresk-verquere Lektürestunden erwarten den Leser. Lustvoll spielt die Autorin mit allen Versatzstücken, die uns aus dem originalen Schauerroman des Viktorianischen Zeitalters vertraut sind, und parodiert das Genre meisterlich!

Veröffentlicht am 02.09.2019

Freudiges Wiedersehen

Dead Lions
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Wer Mike Herrons ersten Band seiner Reihe um Jackson Lamb gelesen hat, fieberte sehnsüchtig der Fortsetzung entgegen. Und siehe da, neben dem bekannten und ins Herz geschlossenen Stammpersonal erwarten ...

Wer Mike Herrons ersten Band seiner Reihe um Jackson Lamb gelesen hat, fieberte sehnsüchtig der Fortsetzung entgegen. Und siehe da, neben dem bekannten und ins Herz geschlossenen Stammpersonal erwarten auch zwei vielversprechende Neuzugänge den erwartungsvollen Leser. Der ist ja bereits durch die Lektüre der ‘Slow Horses‘ konditioniert und damit gewieft genug, den Tricks und Finten des Autors genüsslich zu folgen: abrupte Umschwünge im Plot und Wechsel von Schauplatz und Perspektive, gekonnt platzierte punch lines allerbester britischer Provenienz, ein wahres Panoptikum skurriler Zeitgenossen, die in liebevoll-bissigen Charakterporträts präsentiert werden. Wem es um knallharte action zu tun ist, kommt nicht auf seine Kosten, aber der fein kalibrierte Handlungablauf mit seinen immer neuen Ausblicken auf die unterschiedlichsten Reizthemen unserer modernen Gesellschaft bieten ein intelligentes Lesevergnügen.

Veröffentlicht am 21.07.2019

Literarische Topographien

Verrückt nach Karten
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Der Titel der deutschen Ausgabe dieses opulenten Bildbandes lockt den Interessenten in eine vollkommen falsche Richtung. „Verrückt nach Karten“ - das lässt ein Kompendium erwarten, in dem leidenschaftliche ...

Der Titel der deutschen Ausgabe dieses opulenten Bildbandes lockt den Interessenten in eine vollkommen falsche Richtung. „Verrückt nach Karten“ - das lässt ein Kompendium erwarten, in dem leidenschaftliche Kartenliebhaber ihrer Leidenschaft für die unterschiedlichsten Arten von Landkarten, Atlanten, Globen frönen. Stattdessen entpuppt sich der Band als Wegweiser ins Land der Literatur, der Herausgeber Hew Lewis-Jones als versierter Cicerone in die Wunderwelt erdachter Topographien. „The Writer‘s Map“ ist deshalb in der Originalfassung der so viel treffendere Buchtitel, der kurz, prägnant, schnörkellos das Tor zum endlosen Kosmos der literarischen Phantasie öffnet. Der Leser erhält die Chance, anhand der zahllosen großformatigen Abbildungen Kenntnis von einer Vielzahl literarischer Werke zu erhalten. Dass diese fast ausschließlich aus dem angelsächsischen Raum stammen, ist der Auswahl der Beiträger geschuldet, die aufgrund ihrer individuellen Erfahrungen als Leser, als Zeichner, als Autor uns eine Unzahl von Lese-Empfehlungen und -Anregungen vermitteln. Nach der genussreichen Rezeption dieses Kleinods von coffeetable book dämmert dem deutschen Leser, dass sich der Horizont (im doppelten Wortsinn) phantastischer Literatur sich nicht in den beiden Leuchttürmen Tolkien und Rowling erschöpft. Neben der Freude an den vielgestaltigen Abbildungen literarischer Topographien ist diese Fülle an weiteren verlockenden Autoren und Werken nicht das geringste Verdienst dieses zauberhaften Bildbandes!

Veröffentlicht am 19.04.2019

Italienisches Panorama

Bella Ciao
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Dies ist nicht das Italien, das deutsche Urlauber im Bewusstsein haben! Der Leser begleitet Giulia, die nach dem 2. Weltkrieg, nach bald fünfzig Jahren aus Amerika heimkehrt, weil sie glaubt, in dem Städtchen ...


Dies ist nicht das Italien, das deutsche Urlauber im Bewusstsein haben! Der Leser begleitet Giulia, die nach dem 2. Weltkrieg, nach bald fünfzig Jahren aus Amerika heimkehrt, weil sie glaubt, in dem Städtchen noch eine Rechnung begleichen zu müssen. Nach dem Rückblick auf das Dorf im Jahre 1900 wundert sich der Leser, dass Giulia das Bedürfnis hat, nach beinahe fünfzig Jahren zurückzukehren. Aber Rache ist ein Gericht, das am besten kalt genossen wird. Raffiniert ist der Ablauf der Handlung komponiert. Während ‚die Amerikanerin‘ die Topographie vor ihren Augen mit der Szenerie ihrer Erinnerung vergleicht, verfolgen wir atemlos dieses Leben in bitterster Armut, die Giulias Kindheit prägt. Wir haben es nicht nur mit einer spannenden Familiensaga zu tun, sondern werden schonungslos konfrontiert mit einem düsteren Kapitel italienischer Sozialgeschichte. Während Giulias Gedanken sich auf Anita richten, der Freundin, die zur Rivalin wurde, entfaltet sich ein Abriss der Historie Italiens, wie sie erbarmungslos Anitas Schicksal prägte. Giulia, geleitet von einem gütigen Geschick, gestaltet in ihrem Leben den ‚American Dream‘, währenddessen tobt sich in Anitas Dasein der Wahnsinn der europäischen Geschichte aus. Raffaella Romagnolo orientiert sich an gewaltigen literarischen Vorbildern: sie weiß, welchen Goldstandard ‚Die Verlobten‘ oder ‚Der Leopard‘ setzen, aber beherzt und brillant entfaltet sie vor uns ihr italienisches Panorama in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts!

Veröffentlicht am 18.02.2019

Verstörend

Die Mauer
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Das ist eine Zukunftsperspektive, die den Leser nicht in zeitliche und geographische Fernen führt. Vor unserer Haustür entfaltet sich eine neue Daseinsform, vielleicht nur wenige Jahre nach unserer heutigen ...

Das ist eine Zukunftsperspektive, die den Leser nicht in zeitliche und geographische Fernen führt. Vor unserer Haustür entfaltet sich eine neue Daseinsform, vielleicht nur wenige Jahre nach unserer heutigen Gegenwart angesiedelt. Gewiss, die Prothese unserer heutigen Kommunikation, das Handy ist immer noch existent, im Roman Kommunikator genannt. Aber alle andere Infrastruktur ist auf ein unvorstellbar niedriges Niveau zurückgefallen. Die Gesellschaft Großbritanniens agiert am Limit, die Bedrohung prägt das gesamte politisch, wirtschaftliche, soziale Leben. Bis in den allerpersönlichsten Bereich sind die Konsequenzen des ‚Wandels‘ präsent. Entlarvend, dass Kavanagh, der Ich-Erzähler, beiläufig erfährt, dass dieses Stadium globaler Entwicklung auf Suaheli ganz anders benannt wird: das Ende. Kavanagh berichtet von seinem Weg durch die Welt in wuchtigen, archetypischen Bildern. So karg und schmucklos die Sprache ist, gebannt begleitet der Leser seine Hauptfigur, die Welt ist verstörend wiedererkennbar, wenn auch vollkommen verändert. Lapidar wird es wiederholt konstatiert: die Generation der Eltern trägt die Verantwortung für den Zustand der Welt, in der Kavanagh und seine Altersgenossen leben, die sie verteidigen müssen. Eine Lektüre, die plastisch vor Augen führt, wohin die Reise führen ... kann? Oder zwangsläufig führen wird?