Platzhalter für Profilbild

Julia_Matos

Lesejury Star
offline

Julia_Matos ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Julia_Matos über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.12.2019

Eigenständig lesbar, viele ereignisreiche Jahre beleuchtend, berührend

Das Mädchen aus Assam
0

Der Klappentext lässt bereits erahnen, dass die Geschichte vom Meisterwerk „Stolz und Vorurteil“ inspiriert ist. Meine Befürchtung, es könne hiervon ein seichter, langweiliger Abklatsch sein, bleibt unbegründet.
Tatsächlich ...

Der Klappentext lässt bereits erahnen, dass die Geschichte vom Meisterwerk „Stolz und Vorurteil“ inspiriert ist. Meine Befürchtung, es könne hiervon ein seichter, langweiliger Abklatsch sein, bleibt unbegründet.
Tatsächlich schlägt die Handlung ohne zu große Zeitsprünge einen beachtlichen Bogen von 1904 bis 1919. Beleuchtet wird das farbenfrohe, weitläufige Indien und das graue Stadtleben Newcastles, mit Schwerpunkt auf England. Schnell offenbart sich für beide Welten, wie herausfordernd und von Armut und Ausgrenzung geprägt es zugehen kann und welche Lebensstile und Sorgen die bessere Gesellschaft prägen, wobei die Übergänge fließend verlaufen.
Besonders reizvoll finde ich die Ausführungen zur Freizeitgestaltung der armen Bevölkerung und zu den die Stellung haltenden Frauen während der kriegsbedingten Abwesenheit vieler Männer. Auch politische Strömungen (Wahlrecht, Emanzipation, Suffragetten, Journalismus) werden angerissen, was mir gefällt und einen Lerneffekt mit sich bringt. Begeistert dürften diejenigen sein, die sich für Teeanbau, -verarbeitung und -verkauf interessieren.
All das erfährt man beiläufig, während Familie, Beziehungen sowie Motive wie Stolz, Schuld, Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen.

Alles ist aus der Perspektive der zur Frau heranwachsenden Clarrie wiedergegeben. Man könnte meinen, dass der Erzählstil einseitig und langweilig wirkt. Das ist aber nicht der Fall. Die Autorin hat diesen Charakter als liebenswürdig und als gute Beobachterin, mit wachem Verstand und gut nachvollziehbaren, tiefgründigen, zu Herzen gehenden Gedanken und Gefühlen ausgestattet. Über die Ziele der anderen Figuren kann auf diese Weise herrlich spekuliert werden. Ich gewinne den Eindruck, dass es sich so zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgespielt haben könnte. Die Handlung ist glaubhaft und gleichzeitig schwer vorhersehbar. Ich mag die Wendungen und Überraschungen.

Negativ aufgefallen sind sprachliche Ausdrücke, die auf mich melodramatisch wirken und wohl ein weibliches Publikum ansprechen sollen, z. B. das für einen Schlag aussetzende Herz. Gutmenschentum wurde mir streckenweise zu stark bedient. Solche Faktoren erschwerten mir punktuell das Mitfiebern.
Demgegenüber gibt es aber auch richtig schöne, allgemeingültige, zu Herzen gehende Zitate.

Bereichernd würde ein erklärendes Nachwort wirken. Vielleicht ergänzen das Autorin und Verlag irgendwann. Mich würde z. B. interessieren, ob Figuren historischen Vorbildern nachempfunden sind und wie sich die Teewirtschaft in dieser Epoche (vom fiktiven Beispiel losgelöst) entwickelte.

Das Werk bietet ein gelungenes, abgeschlossenes Ende. Alle Fragen werden zufriedenstellend beantwortet und dabei auch Nebenfiguren nicht vergessen. Die weitere Entwicklung bleibt der Fantasie überlassen. Nachfolgende Bände der Reihe (im Englischen bereits veröffentlicht) vereinen den Handlungsort Indien, stellen aber völlig neue Figuren und Gegenden in den Vordergrund.
Völlig ungezwungen möchte ich auch gern nachfolgende Bände kennenlernen.

Ich vergebe vier Sterne mit Tendenz zu fünf. Es lässt sich zum schlappen eBook-Preis von derzeit 2,49 € für viele Stunden tief in verschiedene Gesellschafts- und Familienformen des beginnenden 20. Jahrhunderts eintauchen. Meine Erwartungen wurden übertroffen. Ich fühle mich gut unterhalten und auch berührt und durfte einen Kenntniszuwachs mitnehmen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.07.2019

Charakterzeichnung plakativ, Handlung grausam, magisch, berührend

Das Labyrinth des Fauns
0

Eindrücke in Kürze: Der Film bleibt unerreicht. Das Buch erzählt die gleiche Geschichte, fügt gelungen zusätzliche magische Elemente hinzu und hat mich trotz Schwarz-Weiß-Charakteren emotional erreicht.

Meine ...

Eindrücke in Kürze: Der Film bleibt unerreicht. Das Buch erzählt die gleiche Geschichte, fügt gelungen zusätzliche magische Elemente hinzu und hat mich trotz Schwarz-Weiß-Charakteren emotional erreicht.

Meine ausführlichen Einschätzungen, ohne schlimme Spoiler:

Motivation:
Für mich war klar, dass ich das Buch lesen muss, da ich Fan des düsteren, grausamen und gleichzeitig magischen, tröstenden Films „Pans Labyrinth“ bin und ich mich als Kind von Cornelia Funkes Werken „Drachenreiter“ und „Herr der Diebe“ verzaubern und mitreißen ließ.

Genre, Adressatenkreis:
Die Handlung spielt sich ab vor der Kulisse des faschistischen Franco-Regimes in den spanischen Wäldern 1944, wo Unterdrückung, Menschenjagd, Hunger, Verhör, Mord an der Tagesordnung sind. Eingeschoben sind magische Wesen und Orte, welche die 13-jährige Ofelia kennenlernt. Es bleibt dem Leser überlassen, zu beurteilen, ob dies real ist oder einer lebhaften Vorstellungskraft entspringt bzw. Flucht in eine Traumwelt ist. Aber auch diese ist keinesfalls zuckerwatte-rosa. Es ist traurig, erschütternd, psychologisch hart und daher für sensible Menschen und solche unter 12 Jahren nicht geeignet.

Vergleich mit Film:
Die Buchadaption bewegt sich nah an der Filmvorlage.
Positiv hervorgestochen sind für mich die komplett neuen, eingeschobenen Kapitel mit magischen Geschichten. Diese verändern die Handlung nicht, bauen dafür Brücken, z. B. werden Baum, Kröte, Schlüssel, Kleid, Messer usw. in einen sowohl magischen als auch sinnstiftenden Kontext gestellt.
Die Revolutionsbewegung wird ausführlicher gezeigt, ohne Wow-Momente.
Ansonsten habe ich keine Differenzen bemerkt. Nicht besonders spannend. Ohne Vorkenntnisse wäre das anders gewesen.

Stil, Atmosphäre, Figuren, emotionales Empfinden:
Mir gefallen das Cover sowie die Illustrationen von Allen Williams.
Sprachlich stark finde ich diverse bildhafte, universelle und zum Nachdenken anregende Ausdrücke, z. B. „Frauen, die bei Männern nach Stärke suchten, statt sie in ihrem eigenen Herzen zu finden“, „Kinder bemerken solche Dinge, denn sie können bloß beobachten - und sich vor den Stürmen verstecken, die die Erwachsenen entfachen. Den Stürmen und den Wintern.“
Politik und Kirche werden leise kritisiert.
Die überwiegend düstere, punktuell hoffnungsvolle Atmosphäre wird zum Ausdruck gebracht, wegen überhastet dargestellter Geschehnisse und abrupter Perspektivwechsel aber nicht so gut spürbar wie erhofft.
Man schlüpft teils übergangslos in unterschiedlichste Gedanken- und Gefühlswelten. Es gibt eine eindeutige Schwarz-Weiß-Zuordnung von Anfang an. Gefühlt lässt der Film die Motive und Hintergründe länger offen, sodass es Raum gibt, sich hineinzuversetzen und zu spekulieren, was ich persönlich liebend gern tue. Beim Buch bleibt einem nichts anderes übrig, als vorgefertigte Charakterzüge und Meinungen hinzunehmen. Ich frage mich z. B. unweigerlich, wie sich Carmen jemals in Vidal verlieben konnte. An der Bevormundung des Lesers und dem Brechen mit der Regel „Show, don‘t tell“ wird deutlich, dass sich die Autorin ansonsten im Kinder-/Jugendbuch-Genre bewegt.
Nichtsdestotrotz: Meine dabei empfundenen Gefühle sind echt. Die Geschichte ist einfach dermaßen stark, dass ich berührt zurückbleibe. Ich möchte empfehlen, das Gelesene zwischendurch für einige Minuten sacken zu lassen. Für mich hat sich dadurch das Leseerlebnis intensiviert.

Veröffentlicht am 13.05.2019

Philosophie, Politik, Liebe in Russland 1761 bis 1775: spannend und atmosphärisch

Die Zarin und der Philosoph (Sankt-Petersburg-Roman 2)
0

Dieser Band 2 kann unabhängig von Band 1 "Die Stadt des Zaren" (verortet zu Beginn des 18. Jahrhunderts) gelesen werden. Beleuchtet wird die russische Zarin Katharina die Große im Zeitalter der Aufklärung, ...

Dieser Band 2 kann unabhängig von Band 1 "Die Stadt des Zaren" (verortet zu Beginn des 18. Jahrhunderts) gelesen werden. Beleuchtet wird die russische Zarin Katharina die Große im Zeitalter der Aufklärung, in und um St. Petersburg von 1761 bis 1775. Historisch belegte Geschehnisse werden verwoben mit auf intensiven Recherchen beruhenden Annahmen sowie mit fiktiven Personen, die die damaligen gesellschaftlichen Stellungen und Geisteshaltungen repräsentieren. Eine Zeitlinie, ein Nachwort und ein Personenverzeichnis, welches entsprechend selektiert, helfen sehr beim Verständnis und unterstützen den Lerneffekt, insbesondere für Neulinge im Bereich der Russland-Literatur, zu denen ich gehöre.
Es hat bis etwa 40 % gedauert, mich emotional involviert zu fühlen, denn die Figuren, in deren Bewusstseinshorizont man wechselweise schlüpft, sind keine typischen Sympathiefiguren. Ich konnte zunächst nicht so mitfiebern wie erhofft. Zudem nimmt man nur episodenhaft an ihrem Leben teil, d. h. bekommt teils nur im Zeitraffer mit, was sich in den letzten Jahren ereignet hat. Spätestens ab der Hälfte erzeugte die Handlung durch die Verknüpfung der Figuren untereinander und zwei unterschiedliche Rebellionsbewegungen einen starken Sog. Mitfühlfaktor und eine hohe Spannungskurve blieben bis zum absolut zufriedenstellenden Ende bestehen.
Die Menge an Kenntniszuwachs würde ich als durchschnittlich bezeichnen. Das erfundene Ziehkind der Zarin sowie zwischenmenschliche Beziehungen fiktiver Figuren beanspruchen viel Aufmerksamkeit. Der leibliche Sohn der Zarin ist hingegen nur ein paar Zeilen wert. Dafür dürfte durch den unterhaltsamen Rahmen viel vom Erlernten im Gedächtnis hängenbleiben: Erscheinungsbild der aufstrebenden Stadt St. Petersburg und des Herrschersitzes, Leben am Hof, Überblick zu politischen Zuständen und Ausrichtungen, (laienkompatibel formulierte) philosophische Einschätzungen, Umgang mit Kultur, Einblicke in die Gesellschaft. Kleine Kritik: Beleuchtet werden Zarenhof, gehobenes Bürgertum und Leibeigene. Eine Figur, die den „klassischen arbeitenden Bürger“ repräsentiert, hätte die Eindrücke komplettieren können.
Dieses Buch bietet viel unterhaltsam aufbereiteten Lesestoff. Stil und Handlung (u. a. viel Raum für konfliktbehaftete Liebesbeziehungen) lassen mich annehmen, dass sich dieses Werk vorrangig an einen weiblichen Leserkreis richtet. Für den Einstieg in Russland-Romane geeignet.
Ich habe Lust bekommen, diese europäisch geprägte Stadt zu besuchen und weitere Werke der Autorin Martina Sahler kennenzulernen. Ein zusätzlicher Anreiz ist, dass die Chance besteht, Familienmitgliedern lieb gewonnener Charaktere zu begegnen. Ich vergebe vier Sterne mit Tendenz zu fünf Sternen und empfehle dieses Buch gern weiter.

Veröffentlicht am 26.02.2019

Temporeiche und spannende Handlung mit Stoff zum Nachdenken, mittelmäßige Charaktere

HELIX - Sie werden uns ersetzen
0

Ein gelungener Klappentext zu einer megaspannenden, aktuellen und brisanten Thematik ließ mich zu diesem Taschenbuch greifen.
Die chronologische Handlung gestaltet sich sehr temporeich und turbulent, sodass ...

Ein gelungener Klappentext zu einer megaspannenden, aktuellen und brisanten Thematik ließ mich zu diesem Taschenbuch greifen.
Die chronologische Handlung gestaltet sich sehr temporeich und turbulent, sodass es mir schwer fiel, das Buch aus der Hand zu legen. Auf den 646 Seiten wird mehr als 200 x die Perspektive zwischen zahlreichen durchaus glaubwürdig geratenen Figuren (mehr als 10) gewechselt. Zu oft für meinen Geschmack. Große Gefühle und reizvolle Gedankengänge sind nur von kurzer Dauer. Erschwerend kommt hinzu, dass man sich in den ersten Zeilen immer erst orientieren muss, wo und bei wem man gerade ist. Hier hätten Kapitelüberschriften oder ein Personenverzeichnis hilfreich sein können. Es gibt Figuren, deren Sicht nur zeitweise von Belang ist und deren sonstiger Werdegang nur in Nebensätzen auftaucht, während man Jessica und Helen über die gesamte Länge begleitet. Die weiblichen Hauptfiguren sind nicht besonders innovativ, trotzdem konnte ich eine gewisse Nähe entwickeln. Sie machen innere Kämpfe durch, die mir in ihren Ansätzen gefallen haben, für meinen Geschmack aber noch tiefgreifender hätten sein können, um Authentizität und Mitfühlfaktor zu erhöhen (z. B. Pflicht zur Verschwiegenheit gegenüber der Familie, Anstrengungen zur Vereinbarkeit von Job und Familie). Die profitorientiert und gefühlskalt anmutenden Männer bleiben unnahbar, undurchsichtig, ohne besondere Entwicklung und setzen sich nicht in meinem Gedächtnis fest, obwohl ihre Betrachtungen, u. a. zum Leben der armen Bevölkerung im ländlichen Afrika und zu Wirtschaftstrends, spannend, glaubhaft und vielfältig sind.
Mir gefallen besonders die auftretenden Rätsel und die mysteriösen Figuren, über deren Motive sich spekulieren lässt.
Gefühlt hätte man (wohlgemerkt als Meckern auf hohem Niveau) mehr Atmosphäre erzeugen und aus Nebensträngen mit mehr Liebe zum Detail inhaltlich mehr herausholen können (z. B. Präsidentin). Wissenschaftliches rund um Gentechnik wird für die Allgemeinheit verständlich umschrieben, hätte aber gern noch fundierter und ausführlicher sein können. Der Stoff hätte 900 Seiten bzw. zwei Bände hergegeben, die ich begeistert gelesen hätte.
Faszinierend finde ich den Bezug zur Realität, z. B. dass aufstrebende Politiker trainiert werden, keine DNA in der Öffentlichkeit zu hinterlassen, z. B. in Form von Taschentüchern. Das ist ein Wow-Erlebnis und erweitert den Horizont.
Inspirierend sind die späten Erkenntnisse zu fördernswerten menschlichen Eigenschaften.
Anfang und Mittelteil gefielen mir am besten, Verfolgung/Flucht weniger.
Das Ende stellt mich nicht ganz zufrieden. Zwar sind wesentlichste Rätsel und Fragen beantwortet, aber der Weg dahin bleibt auf den letzten Seiten auf der Strecke. Ein paar Fragezeichen bleiben, was ich bei diesem Genre aber durchaus passend finde, weil ich auf diese Weise selbst gefordert bin, die Lücken aufzufüllen.
Nach meinem Empfinden schießen die Ergebnisse des in einem Anfangsstadium befindlichen Forschungsexperiments ein bisschen über‘s Ziel hinaus. Das erhöht die Dramatik, mindert aber die Glaubhaftigkeit. Trotzdem herrlich viel Stoff zum Mitdenken, Rätseln und Nachreflektieren. Darüber wie sich die Welt entwickelt, wie man selbst dazu steht (Ethik, globaler Wettbewerb, ...) und handeln würde. Will man einen Schockeffekt erzielen und zu Diskussionen im Leserkreis anregen, haben solche Übertreibungen ja auch durchaus ihre Berechtigung. Weiter in die Zukunft extrapoliert, ergibt die Darstellung absolut Sinn. Als weiterführende Literatur empfehle ich: „Bios“ von Daniel Suarez (spielt 2045) und die c23-Reihe von Ralph Edenhofer (Sci-Fi im 23. Jahrhundert).
Super unterhalten und um Denkanstöße bereichert, vergebe ich für „Helix“ vier Sterne mit Tendenz zu fünf.

Veröffentlicht am 25.01.2019

Unterhaltsam und lehrreich: Liebe, Gleichberechtigung, Architektur, Revolution in der jungen DDR

Allee unserer Träume
0

Dies ist die Geschichte um die vielfältig ausgeprägte Liebe einer jungen Frau zu sehr unterschiedlichen Männern und vor allem zur Architektur, vorrangig des von ihr geplanten und in der Umsetzung aktiv ...

Dies ist die Geschichte um die vielfältig ausgeprägte Liebe einer jungen Frau zu sehr unterschiedlichen Männern und vor allem zur Architektur, vorrangig des von ihr geplanten und in der Umsetzung aktiv begleiteten Bauabschnitts der Karl-Marx-Allee zu Beginn der 1950er in Ostberlin.
Genre, Cover und Klappentext haben mich angesprochen.

Erzählt wird in der Er-/Sie- und Vergangenheitsform, ausschließlich aus der Perspektive der unerfahrenen, manchmal soziale Bindungen vernachlässigenden, idealistisch denkenden und leidenschaftlichen Architektin Ilse. Ihre Beobachtungen, Gedanken und Gefühlslagen wirken stimmig. Nach außen hin leicht unterkühlt wirkend, ist sie keine typische Sympathiefigur. Eben reizvoll, authentisch, mit Ecken und Kanten, deren beruflichen Werdegang, familiäre und freundschaftliche Bindungen und Liebesbeziehungen ich über die gesamte Länge mit Spannung verfolgt habe. Gut haben mir der hervorblitzende trockene Humor und die kritische - aber nicht überzogen wirkende - Haltung gegenüber der DDR-Staatsführung gefallen.
Beleuchtet wird eine leicht überschaubare Anzahl von Figuren, sodass ich jederzeit gut folgen konnte. Dass es in der ersten Hälfte zu Rückblenden in die Vergangenheit kommt, finde ich stilistisch gut gelöst, für den Spannungsmoment und das Verständnis förderlich.

Die Lebensgeschichte scheint autobiografisch inspiriert, aber nahezu komplett fiktiv zu sein. Das finde ich im Nachhinein überhaupt nicht schlimm, da ich auf diese Weise in den Genuss unterhaltsamer Belletristik mit Kenntniszuwachs gekommen bin.
Glaubhaft gemacht wird die Planung und Umsetzung der riesigen, politisch motivierten Allee, zu repräsentativen Zwecken und um große Mengen Wohnraum zu schaffen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es ganz ähnlich abgelaufen ist. Erst Jahrzehnte später im Westen geboren, habe ich dank dieses Buches etwas gelernt über die damalige und dortige Art zu leben, zu lieben und zu arbeiten. Beispielsweise über sich im Wandel befindliche Rollenbilder von Mann und Frau und zum Umgang mit Homosexualität. Vor allem habe ich viel erfahren zu Belangen der städtebaulichen Gestaltung und zu politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zwängen, denen die Gesellschaft der DDR (hier im Besonderen die Planer, Bauarbeiter, Trümmerfrauen) ausgesetzt war. Der Rückblick auf den Nationalsozialismus gerät demgegenüber rudimentär. Hier hätte es mir gefallen, weniger von Ilses Beziehung zu ihrem Vater und dafür mehr politische Wahrnehmungen zu lesen. Bemerkenswert: Der Aufstand des 17. Juni 1953 und die sich im Vorfeld aufbauende Stimmung in der arbeitenden Bevölkerung ist stimmig eingebettet.
All das wird nebenher vermittelt, auf flüssig zu lesende Art. Indem Emotionen bei mir hervorgerufen wurden, verfestigt sich bestimmt viel im Gedächtnis.

Minuspunkte: Der eingeschränkte Blickwinkel von Ilse lässt es nicht zu, andere Geheimnisse, Gefühle und Motive näher zu ergründen. Im Mittelteil baut die Spannungskurve ab, es schleichen sich kleine Längen ein.

Es erfolgt noch ein Sprung in Ilses Zukunft inklusive Reflektionen zu im Mittelpunkt stehenden beruflichen und privaten Entscheidungen. Dies befriedigte meine Neugier und rundet die Geschichte gelungen ab.

Ein Werk, das sich gut ergänzt mit „Die Stimmlosen“, welches nach dem Ende des 2. Weltkrieges das fiktive Leben von Ärzten, ihren Familien und einem befreundeten US-Offizier in Hamburg beschreibt.

Vier mit Tendenz zu fünf Sternen für einen Roman, der mich gut unterhalten und gleichzeitig zu beachtlichem Kenntniszuwachs geführt hat, den ich unter privaten und beruflichen Gesichtspunkten bereichernd finde.