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Veröffentlicht am 14.05.2019

Sich öffnende Herzen

Alte Sorten
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Als ich das Buch „Alte Sorten“ von Ewald Arenz gelesen habe, musste ich unweigerlich an Muscheln denken. Sind sie geschlossen, so weiß man, dass sie leben. Nur ab und an öffnen sie sich langsam, um sich ...

Als ich das Buch „Alte Sorten“ von Ewald Arenz gelesen habe, musste ich unweigerlich an Muscheln denken. Sind sie geschlossen, so weiß man, dass sie leben. Nur ab und an öffnen sie sich langsam, um sich bald wieder zu verschließen.
So wirken auf mich auch Sally und Liss, die Hauptfiguren des Romans. Beide haben in ihrem Leben Verletzungen erfahren, obwohl sie in ganz unterschiedlichem Alter sind. Sally ist 17, dabei ihr Abitur zu machen, Liss ist an die 50, hält einen Bauernhof am Leben.
Beide haben sich nach ihren negativen Erfahrungen zurückgezogen, die Einsamkeit gesucht. Sich verschlossen. Und nun haut Sally aus der Klinik, in die sie ihre Eltern gesteckt haben ab, und trifft auf Liss, die sie ohne viel zu fragen aufnimmt. Die beiden reden zunächst kaum miteinander, Sally hilft ihr bei der Arbeit, lernt ihre Grenzen kennen, lernt Neues kennen.
Beide Frauen nehmen sich bedingungslos an, als sie aufeinandertreffen, ohne Vorurteile. Ewald Arenz gelingt es ganz meisterhaft zu beschreiben, wie nach und nach aus diesem ersten Sich-Verstehen eine Freundschaft wächst.
Zudem hat er ein Gespür für die Landschaft. Sie ist nicht idyllisch, sie ist rau und karg. Es ist harte Arbeit, die in der Natur, auf den Feldern, beim Beschneiden der Obstbäume verlangt wird. So wird die Natur der Ort der Selbstbehauptung und auch der Ort an dem die Heilung alter Wunden möglich scheint.
„Alte Sorten“ gehört zu den Büchern, die man mit Gewinn mehrmals lesen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 22.04.2019

Hervorragend aufgearbeitetes Zeitdokument

Paul und der Krieg
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Beim Durchsehen des Nachlasses ihres Vaters stieß Dorothee Haentjes-Holländer auf eine Fülle an Dokumenten über dessen Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Entstanden ist daraus das Buch „Paul und der Krieg„, ...

Beim Durchsehen des Nachlasses ihres Vaters stieß Dorothee Haentjes-Holländer auf eine Fülle an Dokumenten über dessen Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Entstanden ist daraus das Buch „Paul und der Krieg„, in dem sie die Geschichte von Paul erzählt, der als 15-Jähriger als Flakhelfer eingezogen wird und für den als 17-jähriger Soldat der Krieg dann in amerikanischer Gefangenschaft endet.

Was Paul zwischen 1943 und 1945 erlebt hat, wird allerdings nicht nur erzählt. Dorothee Haentjes-Holländer hat zudem viele sachkundige Informationen ergänzt und zahlreiche Abbildungen machen das Beschriebene anschaulich. So ist ein Buch entstanden, das man auf der einen Seite als Geschichte lesen kann, das man aber auch aufgrund der Vielzahl an zusätzlichen Informationen als Sachbuch zur Hand nehmen kann.

Das, was dem Buch seine besondere Qualität gibt, sind die vielen persönlichen Briefe, die Paul geschrieben hat, allen voran an seinen Bruder. Als Leser bekommt man so einen ungefilterten Eindruck von dem, was einen 15-Jährigen damals beschäftigte, der schneller erwachsen wurde als er sich träumen ließ.

Der Stolz, nicht mehr Schüler zu sein, weicht bald der Ernüchterung. Der jugendliche Flakhelfer hat mit Übermüdung zu kämpfen, mit Läusen und mit Lehrern, die keine Rücksicht nehmen und bei Disziplinlosigkeit für ungerechtfertigten Urlaubsentzug sorgen. Der Leser erhält so einen genauen Blick auf den Alltag des 15-Jährigen bei der Flak und erlebt mit, wie aus dem Flakhelfer in den letzten Kriegsmonaten schließlich noch ein Soldat wird.

Es sind oft die Kleinigkeiten, die Nebensächlichkeiten, die für uns heutige Leser am interessantesten sind: der kurze Bericht eines Kameraden, der ausrastet, weil er den Lagerkoller kriegt, der durchgeboxte Wunsch nach Religionsunterricht (wo sonst alle Lehrer beim Teufel bleiben sollten!), der Versuch sein Schicksal durch freiwilliges Melden für eine Ausbildung selbst in die Hand zu nehmen.

Mit „Paul und der Krieg“ ist ein hervorragend aufgearbeitetes Zeitdokument entstanden, das durch die Perspektive eines eher unpolitischen Jugendlichen und die genaue Beschreibung des Lebensalltags einen guten Einblick in die Herausforderungen, vor denen Jugendliche damals standen, gibt. Ohne dass es eigens gesagt werden muss, wird auf jeder Seite des Buches der Schrecken des Krieges deutlich.

Veröffentlicht am 17.04.2019

Ein Bilderbuch für Erwachsene, in dem man sich verlieren kann

Der blaue Stein
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Jimmy Liao gehört inzwischen zu den großen taiwanesischen Bilderbuchkünstlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, Bilderbücher für Erwachsene zu schaffen. Ich genieße die Bilderbücher von Liao seit ich sie ...

Jimmy Liao gehört inzwischen zu den großen taiwanesischen Bilderbuchkünstlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, Bilderbücher für Erwachsene zu schaffen. Ich genieße die Bilderbücher von Liao seit ich sie für mich entdeckt habe.

Ein klein wenig erinnert hat mich Liaos neues Buch „Der blaue Stein“ an die „Kleine Raupe Nimmersatt“, die sich durch immer mehr Obst und Gemüse isst und dadurch immer größer wird.

Beim blauen Stein ist es direkt umgekehrt. Durch Menschenhand wird der er in zwei Teile getrennt. Ein Teil bleibt im Wald, das andere wird als Rohstoff bearbeitet. Dabei empfindet der Stein großes Heimweh nach dem Wald, aus dem er abtransportiert wurde. Und immer, wenn das Heimweh übermächtig wird, zerspringt seine Form und irgendwann wird etwas Neues aus ihm geschaffen. So wird der Stein immer kleiner und kleiner. Schönes und Trauriges erlebt er; er begegnet Tod, Liebe Freundschaft. Er wird zum Kunstwerk und will es doch nicht sein. Denn was er leibt ist der Gesang der Vögel, den Duft der Blumen und das Licht, das durch das Laub fällt.

Man kann den blauen Stein auf viele Weisen deuten. Für mich steht der blaue Stein vor allem für das Hören auf seine innere Stimme. Wir versuchen uns im Leben an vielem, was uns nicht gelingt, weil wir nicht dafür gemacht sind, weil uns das Talent dafür fehlt. Nur in dem, was uns wirklich liegt, gehen wir auch auf. Wir müssen unsere Natur entdecken.

Obwohl man ja sehr bald weiß, dass der Stein immer kleiner und kleiner wird, wird es trotzdem beim Lesen nicht langweilig, weil der Stein sich so sehr verändert und immer wieder in anderer Form und in anderer Farbe auftaucht – als großer Elefant, als Katze, als Mauerstein eines Gefängnisses, als kleines Herz.

Das Schöne an den Büchern von Jimmy Liao ist, dass man sich beim Lesen in ihnen verlieren kann.

Veröffentlicht am 31.12.2018

Rumänien aus Vicas Sicht...

Verlorener Morgen
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Gabriela Adameşteanu hat mit „Verlorener Morgen“ ein Werk geschaffen, das man ohne Hemmungen als große Literatur bezeichnen kann. 1983 wurde der Roman in Rumänien veröffentlicht, in diesem Jahr ist er ...

Gabriela Adameşteanu hat mit „Verlorener Morgen“ ein Werk geschaffen, das man ohne Hemmungen als große Literatur bezeichnen kann. 1983 wurde der Roman in Rumänien veröffentlicht, in diesem Jahr ist er nun auf Deutsch erschienen.

Vica Delcă ist die knorrige Hauptfigur dieses Romans. Während ihr Mann kaum noch das Bett verlässt, fällt der circa 70-jährigen Ehefrau daheim die Decke auf den Kopf. Also fährt sie spontan mit der Straßenbahn – natürlich zweiter Klasse, alles andere wäre Geldverschwendung – nach Bukarest hinein. Von diesem einen Tag handelt der ganze Roman.

Während Vica Delcă nun durch Bukarest fährt und ihre Schwägerin wie auch ihre frühere Arbeitgeberin zunächst gar nicht antrifft, breitet sie in einem inneren Monolog die Geschichte der beiden Frauen und nebenbei auch ihre eigene aus. Großbürgertum trifft hier auf Kleinbürgertum, Neid und Bewunderung auf Gesellschaftskritik. Vica Delcă spiegelt so die Sozialgeschichte einer Generation in Rumänien. Veränderungen, die der Kommunismus gebracht oder auch nicht gebracht hat, das Absetzen ins Ausland und die damit verbundene Enteignung, und dazwischen ist Vica Delcă, die in ihrem kleinen Laden immer irgendetwas zum Handeln hatte.

Ihr Mund sitzt nicht am falschen Fleck, so viel hat sie zu erzählen, dass Wiederholungen nicht ausbleiben. Das gehört auch zum Knorrigen der Hauptfigur. Auf manches kommt sie immer wieder zurück, meist mit anderen Gedankenpirouetten. Hinzu kommt eine Vielzahl an Rückblenden, das Ausmalen der Begegnung bereits auf der Fahrt oder beim Warten. Hinzu kommen jede Menge Urteile über die Mitmenschen, die allzu oft nicht allzu nett sind.

Mit ihrer schnoddrigen Sprache muss man Vica Delcă einfach liebgewinnen. Sie will niemandem etwas Böses, auch wenn sie in ihrem Urteil sehr direkt sein kann. Sie will von niemandem abhängig sein, auch wenn sie kleine Geschenke gern annimmt. Sie ist stolz auf das, was sie in ihrem Leben erreicht hat, auch wenn das heißt, stolz darauf zu sein, mit wenig Geld über die Runden zu kommen.

Geschickt springt die Handlung mit dem Betrachten eines alten Fotos in die Zeit von 1914/16, man springt in die Kindheit der Lehrerin Ivana. So nimmt der Roman auch die nicht ganz so junge Geschichte Rumäniens mit dem ersten Weltkrieg in den Blick.

Veröffentlicht am 02.11.2018

Beeindruckende Lyrik-Anthologie

Die Morgendämmerung der Worte
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Eine Lyrik-Anthologie mit Gedichten der Sinti und Roma: eine spannende Sammlung haben da Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki zusammengetragen. Ein „Poesie-Atlas“ ist daraus wohl geworden, weil die Gedichte, ...

Eine Lyrik-Anthologie mit Gedichten der Sinti und Roma: eine spannende Sammlung haben da Wilfried Ihrig und Ulrich Janetzki zusammengetragen. Ein „Poesie-Atlas“ ist daraus wohl geworden, weil die Gedichte, die die beiden Herausgeber mühsam zusammengesucht haben, aus ganz unterschiedlichen Ländern und sogar aus unterschiedlichen Erdteilen stammen. Die über 250 Gedichte aus „Die Morgendämmerung der Worte“ stammen von rund hundert Autorinnen und Autoren, aus rund 20 Sprachen wurden sie ins Deutsche übersetzt. Dass es sich zumeist um Neuübersetzungen handelt, zeigt, wie gründlich die Vorarbeit zu diesem Werk waren.

Somit leistet diese Anthologie einen einzigartigen Blick auf das lyrische Schaffen der Sinti und Roma der letzten rund hundert Jahre. So nimmt es nicht wunder, dass hier ganz unterschiedliche Themen zur Sprache kommen. Zentral ist in vielen Gedichten die Frage nach der eigenen Identität, aber auch nach Vorurteilen, ebenso nehmen Gedichte über Verfolgung einen breiten Raum ein. Hinzu kommen Gedichte über Liebe, Einsamkeit und Trauer. Und natürlich ist auch dabei, worüber Dichter am liebsten schreiben: das Dichten selbst.

Seinen Titel hat der Band von einem Gedicht Rajko Djurics:

Ich warte am Ufer des Flusses
Auf die Dämmerung der Worte

Auch Dezider Banga verbindet die Dunkelheit mit mit dem Dichten:

Ich ging in tiefster Mitternacht
zu nachtschwarzer Stunde
über die Wiese
als die Sterne in die goldenen
Fußstapfen der Sonne traten
die dem Dichter
den Weg wiesen

Die Beschreibung des Dichtens als quasi mystische Beschäftigung kann freilich auch ins Komische abgewendet werden, wie Jack Micheline zeigt:

Ich geh jetzt raus und vertrete mir
die Beine und lache, daß sich die Balken biegen.
Es ist Vollmond.
Ich werde mit dem Mond reden,
werde tanzen
mit den Gerippen auf dem Friedhof.

Immer wieder wird in den Gedichten der Verlust der Worte beschrieben, vor allem bei den nichteuropäischen Autoren, die ihre Roma-Sprache nicht mehr verwenden, sondern ihre Gedichte in den Sprachen ihrer Heimatländer schreiben. Der Verlust der Sprache wird dabei nicht mit dem Verlust der Identität gleichgesetzt – doch ist die Identität dadurch bedroht. „Wer sind wir, Roma ohne Romani“ fragt etwa Jimmy Storey.

Auch die Heimatlosigkeit wird immer wieder in den Gedichten thematisiert. Am schönsten vielleicht bei Thais Barbieux:

Ich bin eine Taube.
Wo ist mein Land?
Denn kein Blau ist unter meinen Flügeln,
kein Himmel in meinem Herzen.

Zur Heimatlosigkeit gehört auch die Rolle des Außenseiters, der sich nicht willkommen sieht und der um seine Rechte kämpfen muss. Am impulsivsten wird dies in „Die Schlacht am Noodledom Platz“ von Ronald Lee besungen, wo die Auseinandersetzung der britischen Roma (Romanichels) mit der Polizei fast schon balladenhaft besungen wird:

Romanichels haben hier gelagert
Auf diesem alten Stück öffentliches Land
Seit sie sich erinnern können
Aber jetzt erklärt die neue Verordnung
Dass Lagern hier verboten ist
Weil es hier kein Scheisshaus und keine Wassertoilette gibt.

Mit den Vorurteilen gegenüber Roma und Sinti wird in den Gedichten ganz unterschiedlich umgegangen: mal resigniert, mal ironisch, mal anklagend. Wenn es aber um die eigene Identität geht, so sind sich die meisten der Schriftsteller einig: die Kultur wird von den Alten, den Ahnen weitergegeben. „Vergesst nicht die Verse der Vorfahren“ – diese Mahnung findet sich nicht nur einmal in den Gedichten des Sammelbandes. Eine Mahnung, die ihren Grund auch im Versuch der Ausrottung der Sinti und Roma hat. Ihre Verschleppung in Lager ist Thema vieler Gedichte. Am eindrücklichsten hat vielleicht Ceija Stojka darüber geschrieben:

Ich
Ceija
sage
Auschwitz lebt
und atmet
noch heute in mir
ich spüre noch heute
das Leid

Das bestehende Leid nach Auschwitz thematisieren auch andere Schriftsteller, wie etwa Stefan Horvath:

Vergessen, das geht nicht,
dafür ist zuviel passiert.
Wir Tote, wir reden
als wären wir heute erst krepiert.

Antonio Ortega warnt in seinem „Unsonett der dunklen Nacht“ dagegen davor, den Schmerz zu inventarisieren: „leben ist nicht sterben voll Wunden“, denn „der Schmerz ist des Lebens nicht würdig“. Und ja, auch das Leben ohne Wunden kommt in den Gedichten des Lyrikbandes zum Tragen. So wird in Cecilia Wolochs Gedicht der Geliebte folgendermaßen beschrieben:

Mein Geliebter mit seinem Haar wie Nachtigallen
Mit seiner Brust wie Taubengeflatter wie graue Tauben die sich in der Dämmerung putzen
Mit seinen Schultern wie zärtliche Balkone halb im Schatten, halb in der Sonne

Und ja: die Vergleiche der Beine, der Zunge, der Zähne, der Finger: sie sind genauso komisch. Überhaupt haben einige der Poeten einen Hang zum Komischen.

Man kann der Anthologie also keinesfalls vorwerfen, einseitig zu sein. Die Gedichte sind vielmehr sehr vielseitig ausgewählt. Was allerdings ein wenig zu bedauern ist, sind die fehlenden Anmerkungen. Bei manchen Gedichte hätte man sich Erklärungen zur Entstehung gewünscht oder auch Erläuterungen zu einzelnen Wörtern. Die sind zwar da, aber sehr unübersichtlich im Vorwort versteckt.

Die Einteilung des Sammelbandes nach Ländern lässt den Wunsch aufkommen, dass weitere Anthologien zur Lyrik der Roma und Sinti entstehen werden, die statt nach Ländern nach Themen sortiert sind – wie Identität, Vorurteile, Liebe, Natur (inklusive des Mondes, der in fast allen Naturgedichten irgendwie besungen wird).

Fazit: Die Lyrik-Anthologie ist ein äußerst gelungenes Werk. Ein Schatz, in dem es viel zu entdecken gibt.