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Veröffentlicht am 26.05.2019

Leise Töne

Papaverweg 6
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Es sind die leisen Töne, die Margarita Kinstner in ihrem Buch „Papaverweg 6“ anschlägt. Das Leben geht seinen Gang in dem Mehrfamilienhaus in Wien, das im Papaverweg 6 gelegen ist. Papaver heißt nichts ...

Es sind die leisen Töne, die Margarita Kinstner in ihrem Buch „Papaverweg 6“ anschlägt. Das Leben geht seinen Gang in dem Mehrfamilienhaus in Wien, das im Papaverweg 6 gelegen ist. Papaver heißt nichts anderes als Mohn, und so steht der Papaverweg für einen vergleichsweise ruhigen Wohnort.

Zehn Wohnungen gibt es in diesem Haus, deren Bewohner man nach und nach kennenlernt. Ganz unterschiedliche Menschen wohnen in dem Haus: von der alleinerziehenden Mutter bis zur Weltreisenden, vom Sozialarbeiter bis zur Öko-Aktivistin. Und gegenüber wohnt Oskar. Oskar, der Alte, der am Fenster sitzt, hinüberschaut und beobachtet, was sich alles in dem Haus abspielt. Oskar, der Alte, der ein Buch führt mit den Namen der Mieter. Vielleicht weil er neugierig ist, vielleicht, weil er sich um seine Mitmenschen Gedanken macht, vielleicht, weil er vergesslich geworden ist.

Oskar ist die heimliche Hauptfigur des Romans. Nicht nur, dass sein Blick aus dem Küchenfenster immer wieder das Haus mit all seinen Bewohnern ins Zentrum rückt, auch sein Leben wird immer mehr entfaltet. Der schmerzliche Tod seiner Frau, die beginnende Demenz und ein Geheimnis, das in der Erde ruht – all das breitet Margarita Kinstner mit ihrem liebevollen Blick auf den Menschen aus.

Es ist nicht der voyeuristische Blick zum Nachbarn, der Thema ist. Dazu passiert im Papaverweg viel zu wenig, als dass das interessant sein könnte. Es ist der Alltag all dieser unterschiedlicher Menschen, den man als Leser irgendwann nicht mehr vermissen möchte. Gerade auch, weil jeden etwas ganz anderes umtreibt.

Margarita Kinstner erzählt unaufgeregt, langsam, präzise. Das ist es, was mir an dem Buch so gut gefallen hat.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Sich öffnende Herzen

Alte Sorten
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Als ich das Buch „Alte Sorten“ von Ewald Arenz gelesen habe, musste ich unweigerlich an Muscheln denken. Sind sie geschlossen, so weiß man, dass sie leben. Nur ab und an öffnen sie sich langsam, um sich ...

Als ich das Buch „Alte Sorten“ von Ewald Arenz gelesen habe, musste ich unweigerlich an Muscheln denken. Sind sie geschlossen, so weiß man, dass sie leben. Nur ab und an öffnen sie sich langsam, um sich bald wieder zu verschließen.
So wirken auf mich auch Sally und Liss, die Hauptfiguren des Romans. Beide haben in ihrem Leben Verletzungen erfahren, obwohl sie in ganz unterschiedlichem Alter sind. Sally ist 17, dabei ihr Abitur zu machen, Liss ist an die 50, hält einen Bauernhof am Leben.
Beide haben sich nach ihren negativen Erfahrungen zurückgezogen, die Einsamkeit gesucht. Sich verschlossen. Und nun haut Sally aus der Klinik, in die sie ihre Eltern gesteckt haben ab, und trifft auf Liss, die sie ohne viel zu fragen aufnimmt. Die beiden reden zunächst kaum miteinander, Sally hilft ihr bei der Arbeit, lernt ihre Grenzen kennen, lernt Neues kennen.
Beide Frauen nehmen sich bedingungslos an, als sie aufeinandertreffen, ohne Vorurteile. Ewald Arenz gelingt es ganz meisterhaft zu beschreiben, wie nach und nach aus diesem ersten Sich-Verstehen eine Freundschaft wächst.
Zudem hat er ein Gespür für die Landschaft. Sie ist nicht idyllisch, sie ist rau und karg. Es ist harte Arbeit, die in der Natur, auf den Feldern, beim Beschneiden der Obstbäume verlangt wird. So wird die Natur der Ort der Selbstbehauptung und auch der Ort an dem die Heilung alter Wunden möglich scheint.
„Alte Sorten“ gehört zu den Büchern, die man mit Gewinn mehrmals lesen kann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 22.04.2019

Hervorragend aufgearbeitetes Zeitdokument

Paul und der Krieg
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Beim Durchsehen des Nachlasses ihres Vaters stieß Dorothee Haentjes-Holländer auf eine Fülle an Dokumenten über dessen Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Entstanden ist daraus das Buch „Paul und der Krieg„, ...

Beim Durchsehen des Nachlasses ihres Vaters stieß Dorothee Haentjes-Holländer auf eine Fülle an Dokumenten über dessen Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Entstanden ist daraus das Buch „Paul und der Krieg„, in dem sie die Geschichte von Paul erzählt, der als 15-Jähriger als Flakhelfer eingezogen wird und für den als 17-jähriger Soldat der Krieg dann in amerikanischer Gefangenschaft endet.

Was Paul zwischen 1943 und 1945 erlebt hat, wird allerdings nicht nur erzählt. Dorothee Haentjes-Holländer hat zudem viele sachkundige Informationen ergänzt und zahlreiche Abbildungen machen das Beschriebene anschaulich. So ist ein Buch entstanden, das man auf der einen Seite als Geschichte lesen kann, das man aber auch aufgrund der Vielzahl an zusätzlichen Informationen als Sachbuch zur Hand nehmen kann.

Das, was dem Buch seine besondere Qualität gibt, sind die vielen persönlichen Briefe, die Paul geschrieben hat, allen voran an seinen Bruder. Als Leser bekommt man so einen ungefilterten Eindruck von dem, was einen 15-Jährigen damals beschäftigte, der schneller erwachsen wurde als er sich träumen ließ.

Der Stolz, nicht mehr Schüler zu sein, weicht bald der Ernüchterung. Der jugendliche Flakhelfer hat mit Übermüdung zu kämpfen, mit Läusen und mit Lehrern, die keine Rücksicht nehmen und bei Disziplinlosigkeit für ungerechtfertigten Urlaubsentzug sorgen. Der Leser erhält so einen genauen Blick auf den Alltag des 15-Jährigen bei der Flak und erlebt mit, wie aus dem Flakhelfer in den letzten Kriegsmonaten schließlich noch ein Soldat wird.

Es sind oft die Kleinigkeiten, die Nebensächlichkeiten, die für uns heutige Leser am interessantesten sind: der kurze Bericht eines Kameraden, der ausrastet, weil er den Lagerkoller kriegt, der durchgeboxte Wunsch nach Religionsunterricht (wo sonst alle Lehrer beim Teufel bleiben sollten!), der Versuch sein Schicksal durch freiwilliges Melden für eine Ausbildung selbst in die Hand zu nehmen.

Mit „Paul und der Krieg“ ist ein hervorragend aufgearbeitetes Zeitdokument entstanden, das durch die Perspektive eines eher unpolitischen Jugendlichen und die genaue Beschreibung des Lebensalltags einen guten Einblick in die Herausforderungen, vor denen Jugendliche damals standen, gibt. Ohne dass es eigens gesagt werden muss, wird auf jeder Seite des Buches der Schrecken des Krieges deutlich.

Veröffentlicht am 17.04.2019

Ein Bilderbuch für Erwachsene, in dem man sich verlieren kann

Der blaue Stein
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Jimmy Liao gehört inzwischen zu den großen taiwanesischen Bilderbuchkünstlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, Bilderbücher für Erwachsene zu schaffen. Ich genieße die Bilderbücher von Liao seit ich sie ...

Jimmy Liao gehört inzwischen zu den großen taiwanesischen Bilderbuchkünstlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, Bilderbücher für Erwachsene zu schaffen. Ich genieße die Bilderbücher von Liao seit ich sie für mich entdeckt habe.

Ein klein wenig erinnert hat mich Liaos neues Buch „Der blaue Stein“ an die „Kleine Raupe Nimmersatt“, die sich durch immer mehr Obst und Gemüse isst und dadurch immer größer wird.

Beim blauen Stein ist es direkt umgekehrt. Durch Menschenhand wird der er in zwei Teile getrennt. Ein Teil bleibt im Wald, das andere wird als Rohstoff bearbeitet. Dabei empfindet der Stein großes Heimweh nach dem Wald, aus dem er abtransportiert wurde. Und immer, wenn das Heimweh übermächtig wird, zerspringt seine Form und irgendwann wird etwas Neues aus ihm geschaffen. So wird der Stein immer kleiner und kleiner. Schönes und Trauriges erlebt er; er begegnet Tod, Liebe Freundschaft. Er wird zum Kunstwerk und will es doch nicht sein. Denn was er leibt ist der Gesang der Vögel, den Duft der Blumen und das Licht, das durch das Laub fällt.

Man kann den blauen Stein auf viele Weisen deuten. Für mich steht der blaue Stein vor allem für das Hören auf seine innere Stimme. Wir versuchen uns im Leben an vielem, was uns nicht gelingt, weil wir nicht dafür gemacht sind, weil uns das Talent dafür fehlt. Nur in dem, was uns wirklich liegt, gehen wir auch auf. Wir müssen unsere Natur entdecken.

Obwohl man ja sehr bald weiß, dass der Stein immer kleiner und kleiner wird, wird es trotzdem beim Lesen nicht langweilig, weil der Stein sich so sehr verändert und immer wieder in anderer Form und in anderer Farbe auftaucht – als großer Elefant, als Katze, als Mauerstein eines Gefängnisses, als kleines Herz.

Das Schöne an den Büchern von Jimmy Liao ist, dass man sich beim Lesen in ihnen verlieren kann.

Veröffentlicht am 31.12.2018

Rumänien aus Vicas Sicht...

Verlorener Morgen
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Gabriela Adameşteanu hat mit „Verlorener Morgen“ ein Werk geschaffen, das man ohne Hemmungen als große Literatur bezeichnen kann. 1983 wurde der Roman in Rumänien veröffentlicht, in diesem Jahr ist er ...

Gabriela Adameşteanu hat mit „Verlorener Morgen“ ein Werk geschaffen, das man ohne Hemmungen als große Literatur bezeichnen kann. 1983 wurde der Roman in Rumänien veröffentlicht, in diesem Jahr ist er nun auf Deutsch erschienen.

Vica Delcă ist die knorrige Hauptfigur dieses Romans. Während ihr Mann kaum noch das Bett verlässt, fällt der circa 70-jährigen Ehefrau daheim die Decke auf den Kopf. Also fährt sie spontan mit der Straßenbahn – natürlich zweiter Klasse, alles andere wäre Geldverschwendung – nach Bukarest hinein. Von diesem einen Tag handelt der ganze Roman.

Während Vica Delcă nun durch Bukarest fährt und ihre Schwägerin wie auch ihre frühere Arbeitgeberin zunächst gar nicht antrifft, breitet sie in einem inneren Monolog die Geschichte der beiden Frauen und nebenbei auch ihre eigene aus. Großbürgertum trifft hier auf Kleinbürgertum, Neid und Bewunderung auf Gesellschaftskritik. Vica Delcă spiegelt so die Sozialgeschichte einer Generation in Rumänien. Veränderungen, die der Kommunismus gebracht oder auch nicht gebracht hat, das Absetzen ins Ausland und die damit verbundene Enteignung, und dazwischen ist Vica Delcă, die in ihrem kleinen Laden immer irgendetwas zum Handeln hatte.

Ihr Mund sitzt nicht am falschen Fleck, so viel hat sie zu erzählen, dass Wiederholungen nicht ausbleiben. Das gehört auch zum Knorrigen der Hauptfigur. Auf manches kommt sie immer wieder zurück, meist mit anderen Gedankenpirouetten. Hinzu kommt eine Vielzahl an Rückblenden, das Ausmalen der Begegnung bereits auf der Fahrt oder beim Warten. Hinzu kommen jede Menge Urteile über die Mitmenschen, die allzu oft nicht allzu nett sind.

Mit ihrer schnoddrigen Sprache muss man Vica Delcă einfach liebgewinnen. Sie will niemandem etwas Böses, auch wenn sie in ihrem Urteil sehr direkt sein kann. Sie will von niemandem abhängig sein, auch wenn sie kleine Geschenke gern annimmt. Sie ist stolz auf das, was sie in ihrem Leben erreicht hat, auch wenn das heißt, stolz darauf zu sein, mit wenig Geld über die Runden zu kommen.

Geschickt springt die Handlung mit dem Betrachten eines alten Fotos in die Zeit von 1914/16, man springt in die Kindheit der Lehrerin Ivana. So nimmt der Roman auch die nicht ganz so junge Geschichte Rumäniens mit dem ersten Weltkrieg in den Blick.