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Veröffentlicht am 12.06.2019

Einfach nur schön

Revolution im Herzen
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Helena Demuth lebt mit ihrer Familie in bitterer Armut, sie haben gerade genug, um nicht zu verhungern. Die Industrialisierung hat Einzug gehalten, womit es immer schwieriger wird, die notdürftige Versorgung ...

Helena Demuth lebt mit ihrer Familie in bitterer Armut, sie haben gerade genug, um nicht zu verhungern. Die Industrialisierung hat Einzug gehalten, womit es immer schwieriger wird, die notdürftige Versorgung der Familie sicher zu stellen. Als dann Helenas Vater stirbt, sieht sie sich gezwungen, die Familie zu verlassen, um sich als Dienstmädchen zu verdingen. Sie findet schließlich eine Stelle in Trier bei den von Westphalens. Die Tochter des Hauses wird später Karl Marx heiraten.

Während es in der ersten Hälfte des Buches um das ärmliche Leben der Demuths, Helenas Flucht aus der Armut und ihre erste ungeschickte Zeit bei den von Westphalens geht, beschäftigt sich die zweite Hälfte mit der entstehenden Liebe zwischen Helena und Karl Marx, sowie mit den Schicksalsschlägen, die sie gemeinsam mit der Familie Marx verkraften muss. Im direkten Vergleich hat mir die zweite, intensivere Hälfte besser gefallen. Helenas Fußmarsch nach Trier und auch die Art und Weise wie sie zu ihrer Anstellung kommt, hatte für mich einen recht konstruierten Charakter. Wenn man wie Helena ohne jegliche Schulbildung, sprich ohne Lesen zu können und ohne die umliegende Geographie zu kennen, es schafft, sich bis nach Trier durchzufragen, ist schon sehr viel Glück dabei. Direkt nach ihrer Ankunft erhält sie die Anstellung als Dienstmädchen. Das lief für meinen Geschmack insgesamt zu glatt. Versöhnlich stimmt mich, dass das Nachwort genau auf diesen Sachverhalt erklärend eingeht.

Von der zweiten Buchhälfte war ich dann ziemlich begeistert. Sie schildert sehr detailliert die Lebensumstände der Bevölkerung, insbesondere in London, beschreibt die Zustände in den verschiedenen Vierteln, in denen die Familie Marx im Verlauf gewohnt hat. Neben Helena, die sich aufopferungsvoll um die Marxens kümmert, mag ich auch Karl. Ähnlich wie Albert Einstein (vgl. „Frau Einstein“ von Marie Benedict) weist Karl Marx Schwächen auf, die man so nicht erwartet hätte. Allgemein bekannt ist, dass auch die Familie Marx in relativer Armut leben musste. Dass allerdings gerade Karl Marx im Privaten überhaupt nicht mit Geld umgehen konnte, hätte ich so nicht erwartet.

Auf mich wirkt der Roman gut recherchiert und auch technisch gut umgesetzt. Neben einem Personenregister am Anfang gibt es am Ende ein erklärendes Nachwort. Die Aufteilung in sechs Teile markiert wichtige Lebensabschnitte der Protagonisten. Der Schreibstil ist einem historischen Roman angemessen, gut lesbar, aber nicht trivial. Der ganze Roman ist aus Helenas Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben, was dafür sorgt, dass der Leser sich gerade mit ihr verbunden fühlt. Mir hat das gut gefallen. Ich empfehle den Roman gern weiter.

Veröffentlicht am 15.05.2019

Vom Schicksal vorbestimmtes Leben?

Das wilde Leben der Cheri Matzner
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Hundert Prozent „Happy Family“, so der Titel der englischen Originalausgabe, ist vermutlich nicht zu erreichen. Manchmal spielt einem das Schicksal übel mit, dann wieder bekommt man ein besseres Lebenslos ...

Hundert Prozent „Happy Family“, so der Titel der englischen Originalausgabe, ist vermutlich nicht zu erreichen. Manchmal spielt einem das Schicksal übel mit, dann wieder bekommt man ein besseres Lebenslos zugeteilt. Das turbulente, aber nicht unbedingt wilde Leben der Cheri Matzner spiegelt genau diese Grundthematik wider.

Der vierteilige Roman beginnt mit den Umständen, wie Cheri auf ihre Adoptiveltern Cici und Solomon Matzner trifft, wie die beiden sich kennengelernt hatten. Wir lesen über die ablehnende Haltung ihrer Familien bezüglich ihrer Beziehung und begleiten Cici im Krankenhaus bei der Fehlgeburt ihres Kindes. Als sie danach in ein emotionales Loch fällt, weiß sich Solomon nicht anders zu helfen, als schnellstmöglich ein „neues“ Kind - Cheri - zu adoptieren.

Während der Roman im ersten Teil recht chronologisch erzählt wird, sind die Teile zwei und drei eher von spontanen Sprüngen an verschiedene Punkte in Cheris Leben gekennzeichnet. In meiner Wahrnehmung steht dabei weniger eine vollständige Geschichte im Vordergrund, sondern vielmehr eine Begründung oder Herleitung von Cheris Gefühlsleben, ihrer Zweifel und Gedanken nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Die Ereignisse untereinander stehen kaum im Zusammenhang, hatten jedoch starken Einfluss auf ihre Entwicklung. Meine liebste Szenerie im Roman erlebt Cheri gemeinsam mit ihrem grummeligen „Großvater“, weil bei mir diese Stelle tatsächlich einen wilden Eindruck hinterlassen hat. Ansonsten war Cheris Leben turbulent, manchmal gefährlich, zeitweise frustrierend und nervig, Leben halt. Der vierte Teil lässt schließlich dieses Tohuwabohu im Roman rund erscheinen, bildet gemeinsam mit Teil eins einen gelungenen Rahmen.

Auch wenn der Roman insgesamt gut erzählt ist, war es mir teilweise zu viel, zu viele Ereignisse und zu viele Personen. Bis auf Cici und Cheri, die wir näher kennenlernen durften, blieben die Personen blass, nur angerissen, charakterisiert oft nur durch eine einzige Handlung. Die meisten tauchen kurz in der Geschichte auf und verschwinden wieder. Das fand ich schade. Ich hätte lieber weniger Charaktere kennengelernt, dafür aber intensiver.

Fazit: Wer für ein Lesevergnügen Chronologie benötigt, sollte hier lieber verzichten. Allen, die beim Lesen gern Puzzleteile sammeln, diese zum Ende hin zusammensetzen und fehlende Teile mit eigenen Gedanken füllen, kann ich die vielseitige Cheri Matzner nur empfehlen.

Veröffentlicht am 28.04.2019

Thrillerartige Dystopie

Die Geschichte der schweigenden Frauen
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Eigentlich müsste in Green City das weibliche Geschlecht aus einer erhöhten Machtposition heraus agieren können, nachdem durch einen für Frauen tödlichen Virus ihre Anzahl erheblich dezimiert wurde. Sie ...

Eigentlich müsste in Green City das weibliche Geschlecht aus einer erhöhten Machtposition heraus agieren können, nachdem durch einen für Frauen tödlichen Virus ihre Anzahl erheblich dezimiert wurde. Sie sind die einzige und letzte Chance für Green City zu überleben. Nur die besten Männer wären von den wenigen Frauen auserwählt, eine Familie gründen, der gesamte Arbeitsaufwand und die Versorgung der Familien würde von Männer erledigt werden. Das Kinderhaben wäre durch die Unterstützung so attraktiv, dass der Fortbestand von Green City gesichert wäre...

Die Realität von Green City sieht jedoch ganz anders aus. Die eigentlich wertvollen Frauen werden in einen goldenen Käfig gesperrt und vollgepumpt mit fruchtbarkeitssteigernden Medikamenten zu Gebärmaschinen degradiert. Obwohl ihnen materiell vermutlich nichts fehlt, ist ihr Leben wenig lebenswert. Wie Vieh werden sie mit verschiedenen Männern zusammen gebracht, ihre Körper als Brutschränke ausgezehrt, bis sie zusammenbrechen. Der Begriff der Zwangsverheiratung erscheint dabei fast noch beschönigend. Da das Zusammensein von Mann und Frau einzig dem Zweck der Fortpflanzung dient, gibt es Liebe und Zuneigung nur zwischen Müttern und ihren Kindern, ansonsten ist das Leben kalt und einsam.

Vor diesem Hintergrund gefällt mir das etwas düstere Cover mit der hübschen, aber stark geschwächt wirkenden jungen Frau. Obwohl sie eine wunderschöne Aussicht genießen könnte, wirkt sie abgewandt vom Leben, mutet depressiv an. Gelungen finde ich zudem die Wiederholung einzelner Bildausschnitte auf dem Buchrücken und auf der Rückseite. Die zweisprachige Betitelung der Kapitel hatte etwas Schönes.

Einige wenige Frauen schaffen es, sich dieser Realität zu entziehen. Sie leben im Untergrund, in der sogenannten Panah, und verdienen ihren Unterhalt mit Etwas, das in Green City verboten ist, unter drakonische Strafe gestellt ist, Zuneigung ohne Sex. Zu ihnen gehören auch Sabine, Lin und Rupa. Da die wohlhabenden Männer, die diese Dienste in Anspruch nehmen, irgendwann mehr wollen, gerät das ganze Konstrukt aus den Fugen.

Die Welt von Green City ist recht rudimentär beschrieben, gerade so umfangreich, wie es für das Verständnis der Geschichte erforderlich ist. Vermutlich dadurch erscheinen bestimmte Fakten, die keine weitere Verwendung finden, wie der Ultimative Krieg, etwas aufgesetzt. Die Unterdrückung der breiten Masse innerhalb des Überwachungsstaates und das Hinwegsetzen der staatlichen Elite über die eigenen strengen Regeln empfand ich dagegen äußerst glaubwürdig. Die Entwicklung der Protagonistin Sabine ist nachvollziehbar. Bei ihr hätte ich mir allerdings eine umfangreichere Ausprägung ihrer Emotionen gewünscht, sowie einen deutlicheren Austausch mit Lin und Rupa. Die Drei wirken deshalb nicht richtig wie eine eingeschworene Gemeinschaft, die gegen den Rest der Welt antritt und zusammen rebelliert.

Ich mochte die indisch-asiatische, vielleicht auch etwas arabische Atmosphäre des Romans. Aus dem Rahmen fällt dabei nur der recht deutsche Name Sabine. Die indische Version Sabina hätte mir persönlich besser gefallen. Durch das Kippen der eingefahrenen Struktur kommt Geschwindigkeit in „Die Geschichte der schweigenden Frauen“, die in der zweiten Hälfte auch mächtig an Spannung zulegt. Das Gedankenspiel der Verknappung von Frauen war sehr interessant. Insgesamt ist diese Dystopie vielleicht nicht perfekt, hat dennoch einen guten Unterhaltungswert.

Veröffentlicht am 23.04.2019

Formen der Sklaverei

Die Frauen von Salaga
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Die Frauen von Salaga, das sind Aminah und Wurche, die wir beim Erwachsenwerden und dem Entwachsen einer von Männern dominierten Welt im 19. Jahrhundert Westafrikas begleiten. Dabei meint Entwachsen eine ...

Die Frauen von Salaga, das sind Aminah und Wurche, die wir beim Erwachsenwerden und dem Entwachsen einer von Männern dominierten Welt im 19. Jahrhundert Westafrikas begleiten. Dabei meint Entwachsen eine frühe Form der Emanzipation und ist mit unseren heutigen Maßstäben nicht messbar. Aminah und Wurche stammen aus sozialen Schichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Trotzdem hat man als Leser, weil der Klappentext ihre Beziehung zueinander bereits preisgibt, von Beginn an das Gefühl, dass beide gut zueinander passen werden.

Eingebettet ist die Geschichte der beiden Frauen in ein Szenario, in dem der Wettstreit der Kolonialmächte um die besten Landstriche Afrikas bereits in vollem Gange ist. Es werden Kriege gegen die afrikanischen Völker geführt. Deren Chiefs werden von den Weißen hintergangen, finden sich in ihrem Leben nicht mehr wirklich zurecht. Die Hintergrundhandlung wird dabei nicht in epischer Breite erzählt, sondern findet eher in Form von Andeutungen statt.

Mir gefallen beide Charaktere, Aminah und Wurche, weil sie sich nicht einfach in ihre Rolle als Frau fügen, sondern darüber hinaus nach Selbstbestimmung streben. Während dies bei Aminah eher im Stillen, in ihren Gedanken stattfindet, ist das Widerstreben bei Wurche auch nach außen sichtbar. Trotzdem blieb ich ihnen gegenüber auf Distanz und wurde nicht richtig warm mit ihnen. Was mich sonst eher stört, war mir hier jedoch willkommen. Wären mir beide zu sehr ans Herz gewachsen, hätte ich ihr Schicksal, ganz besonders das von Aminah, nicht ertragen können.

Die Lesegeschwindigkeit ist hoch, wenn man nicht aufpasst, liest man den Roman an einem Tag und lässt das Gelesene gar nicht auf sich wirken. Zudem gefällt mir die Erzählweise der Geschichte aus wechselnden Blickwinkeln auf Aminah und Wurche. Etwas gewöhnungsbedürftig waren die recht großen Zeitsprünge und die daraus entstehenden Lücken. Die Landkarte ganz am Anfang habe ich gern zur Orientierung, welche „Stämme“ und Orte gerade beschrieben werden, genutzt. Insgesamt waren die Frauen von Salaga vielleicht nicht unbedingt ein neues Lieblingsbuch für mich, aber empfehlenswert ist es schon aufgrund der historischen und auch kulturellen Einblicke, die es gewährt.

Veröffentlicht am 23.04.2019

Facettenreiche Evolution

Spiel des Lebens
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Wenn wir spontan über den Begriff des „Zähmens“ nachdenken, erinnern wir uns wahrscheinlich an Western-artige Filmsequenzen, wo der Wille eines Pferdes, frei zu sein, durch Zureiten derart verändert wird, ...

Wenn wir spontan über den Begriff des „Zähmens“ nachdenken, erinnern wir uns wahrscheinlich an Western-artige Filmsequenzen, wo der Wille eines Pferdes, frei zu sein, durch Zureiten derart verändert wird, das es akzeptieren kann, beim Menschen zu leben und ihn auf seinem Rücken zu tragen. Vielleicht fallen uns auch noch Hunde als vertraute Gefährten und Nachfahren des Wolfes ein, die wir gern streicheln. Dabei gehört zur Domestikation von Flora und Fauna viel mehr als diese „Halbwahrheiten“. Zudem haben die letzten zehn Jahre durch Genanalysen zu einem erhöhten Erkenntnisgewinn beigetragen, so dass es sich in jedem Fall lohnt, das bruchstückhaft hängengebliebene Schulwissen über die Menschheitsgeschichte, das inzwischen teilweise überholt ist, mit Alice Roberts‘ „Spiel des Lebens“ aufzufrischen.

In einer Auswahl von neun Beispielen, im Einzelnen sind das Hunde, Weizen, Rinder, Mais, Kartoffeln, Hühner, Reis, Pferde und Äpfel, erklärt Alice Roberts deren Entwicklungsstadien im Zusammenwirken mit der Menschheitsgeschichte. Dabei sind die ersten Kapitel stark von der Frage, wer hier wen zähmt, geprägt. Später bekommen Genforschung und eine wohlwollende Diskussion zu genveränderten Erzeugnissen mehr Aufmerksamkeit. Der Leser merkt regelrecht, wie sehr Alice Roberts ihr Fachgebiet liebt. „Spiel des Lebens“ rekapituliert für jede Spezies mehrere Diskussionsstände der Wissenschaft. Alice Roberts fasst die jeweils vorhandenen Indizien aus Archäologie und Geschichte zusammen und entwickelt für den Leser ein Bild im Zeitraffer, wie es sich auch für die Evolutionsforscher aufgetan haben muss. Die grundsätzlich unvollständige Beweislage erzeugt mit jedem entdeckten, neuen Puzzleteil den stufenweise Erkenntnisgewinn, der hier gekonnt nachvollzogen wird. Schließlich wird noch ein Blick auf die Entwicklung des modernen Menschen selbst geworfen.

Die recht anspruchsvolle Thematik ist, ein grundsätzliches Interesse vorausgesetzt, auch für den Laien gut zu verstehen. Jeder Spezies ist ein eigenes in sich abgeschlossenes Kapitel gewidmet. Es beginnt immer mit einer kurzen Geschichte zur Einstimmung, gefolgt von einer wissenschaftlichen Herleitung der potentiellen Entstehungsgeschichte. Damit die zeitliche Einordnung gelingt, werden sämtliche präsentierten Zeiträume von historischen Ereignissen, die zum Teil auch in Wechselwirkung mit der Evolution treten, flankiert.

Hervorzuheben ist Alice Roberts‘ Vorliebe zu berichten. In machen Kapiteln schweift sie regelrecht etwas ab, nimmt den Leser mit auf eine Exkursion. Mir hat gefallen, dass der Leser immer mal wieder ganz persönlich angesprochen wird. So entsteht ein bisschen das Gefühl, als würde man Alice Roberts tatsächlich begleiten.

Am besten fand ich die Kapitel über Pferde und Äpfel, Pferde, weil ich durch medialen Konsum auf Irrwege geraten war, und mit Äpfeln hatte ich mich wohl vorher überhaupt noch nicht beschäftigt. Offensichtlich hatte ich sie als gegeben hingenommen.

Insgesamt habe ich mich hier gern mit einer für mich ungewohnten Materie beschäftigt. Nachdem ich ein paar Längen zum Ende des ersten Drittels überwunden hatte, war es ein Genuss die verschiedenen Spezies in ihrer Entstehung zu begleiten. Ein paar eingestreute Grafiken im Stil der Abbildungen zu Kapitelbeginn mit einer Darstellung der Domestikationszentren und den geographischen Strömungen der Arten wären aus meiner Sicht noch hilfreich gewesen. „Spiel des Lebens“ war für mich ein Türöffner zu einer interessanten Wissenschaft, der ich zukünftig mehr Aufmerksamkeit schenken möchte.