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Veröffentlicht am 31.07.2019

Verlust der Unschuld

Tage in Cape May
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In Chip Cheeks Debütroman “Tage in Cape May“ fährt ein junges Paar in seinen Flitterwochen nach Cape May an der Ostküste zum Haus des Onkels der Braut, die die Ferien ihrer Kindheit dort verbracht hat. ...

In Chip Cheeks Debütroman “Tage in Cape May“ fährt ein junges Paar in seinen Flitterwochen nach Cape May an der Ostküste zum Haus des Onkels der Braut, die die Ferien ihrer Kindheit dort verbracht hat. Effie, 18 und Henry, 20 haben direkt nach dem Highschool-Abschluss geheiratet und ihre Heimat, das ländliche Georgia, noch nie verlassen. Sie sind naiv und unschuldig. Mit ihrer konservativen prüden Erziehung müssen sie erst lernen, als Mann und Frau zusammenzuleben. Das klappt erstaunlich gut. Jedoch langweilen sie sich nach einer Woche, weil der Ort im September, also außerhalb der Saison, völlig menschenleer ist. Als sie schon überlegen, ob sie vorzeitig abreisen sollen, begegnen sie Clara, einer Freundin von Effies älterer Kusine. Effie hasst sie wegen unangenehmer Erlebnisse in der Kindheit. Clara, ihr Liebhaber Max, ein Schriftsteller und seine Halbschwester Alma nehmen das junge Paar jedoch in ihren Kreis auf. Auf diese Weise lernen Effie und Henry New Yorker Geschäftsleute und Künstler kennen. Der Alkohol fließt in Strömen, und die beiden nehmen an allerlei Unternehmungen teil. Sie machen Ausflüge mit dem Segelboot oder brechen nachts in die leer stehenden Häuser ein, wo sie sich in fremden Wohn- und Schlafzimmern breit machen. Die Atmosphäre ist sexuell aufgeladen. Effie und Henry lassen ihr altes Leben hinter sich. Ein neues fängt an. Effie und Henry verlieren in jeder Hinsicht ihre Unschuld und sehen sich ganz neuen Verführungen ausgesetzt. Für den Leser ist schon bald klar, dass das alles in einer Katastrophe enden wird. Danach wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Der in den 50er Jahren angesiedelte Roman beschreibt eine Zeit im Aufbruch. Diese von Prüderie und Frömmigkeit geprägte Welt wird es nicht mehr lange geben. Eine liberalere, freizügigere Zeit bricht an. Ein interessanter, streckenweise etwas handlungsarmer Roman mit teilweise absehbarer Entwicklung, den ich dennoch gern gelesen habe.

Veröffentlicht am 28.07.2019

Variationen über Liebe und Begehren

Fünf Lieben lang
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In seinem Roman “Fünf Lieben lang“ beschreibt André Aciman das Liebesleben seines Protagonisten Paul. Alles beginnt, als der 12jährige Paul sich während eines Familienurlaubs auf einer italienischen Insel ...

In seinem Roman “Fünf Lieben lang“ beschreibt André Aciman das Liebesleben seines Protagonisten Paul. Alles beginnt, als der 12jährige Paul sich während eines Familienurlaubs auf einer italienischen Insel in Giovanni genannt Nanni, den Tischler verliebt, der für seine Eltern Möbel restauriert, ohne dass der Junge begreift, was da eigentlich mit ihm passiert. Zehn Jahre später kehrt er zurück, als die Villa der Familie längst niedergebrannt und geplündert worden ist und sucht nach Giovanni, aber der ist spurlos verschwunden. Später ist er mit Maud zusammen und verliebt sich in den attraktiven jungen Tennisspieler Manfred. Umso erstaunlicher ist es, dass er mit Wut und Eifersucht reagiert, als er seine Freundin in vertrautem Gespräch mit einem Mann in einem Restaurant sieht. Er wird sie verlassen, wie er auch andere verrät und verlässt, wenn er seinem Begehren nachgibt. Chloe kennt er seit der Collegezeit. Alle vier Jahre werden sie für ein Wochenende ein Paar, ohne dass sich daraus eine richtige Beziehung entwickelt. Irgendwann werden sie einander gestehen, dass der jeweils andere für sie die Liebe ihres Lebens ist, die bis ans Ende ihrer Tage nicht aufhören wird. In mittleren Jahren verliebt er sich in die junge Journalistin Heidi. Wie so oft verhält er sich zögerlich, schüchtern, geplagt von Selbstzweifeln und weiß doch genau, dass er durch passives Abwarten schon viele Chancen in seinem Leben verpasst hat. Er stellt sich oft mögliche Parallelleben vor. Jedoch kann niemand in die Vergangenheit zurückgehen und ganz andere Entscheidungen treffen. Wir haben alle nur das eine Leben.
Der Autor erzählt diese Geschichte nicht linear mit einer konventionellen Handlungsstruktur. Es sind fünf lose verknüpfte Episoden um einen etwas rätselhaften Protagonisten mit unklarer sexueller Orientierung, der zu sehr tiefen Gefühlen und intensivem Begehren fähig ist. Diese Episoden variieren das Thema von Liebe und Begehren wie ein Musikstück. Von daher ist der Originaltitel “Enigma Variations“ - bezogen auf ein Orchesterwerk des britischen Komponisten Edward Elgar aus dem Jahr 1898 - auch wesentlich treffender als der deutsche Titel, zumal es zahlreiche musikalische Anspielungen im Text gibt.
Der Roman liest sich gut und lässt mich doch ein bisschen ratlos zurück. Paul ist ein Protagonist, der mir etwas fremd geblieben ist.

Veröffentlicht am 28.07.2019

Ein Fall mit vielen Facetten

Schneewittchensarg
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“Schneewittchen-Sarg“ ist der 7. Band einer Serie um die so verschiedenen Ermittlerinnen Ingrid Nyström und Tina Forss, geschrieben von dem deutsch-schwedischen Autoren-Duo Roman Voosen und Kerstin Signe ...

“Schneewittchen-Sarg“ ist der 7. Band einer Serie um die so verschiedenen Ermittlerinnen Ingrid Nyström und Tina Forss, geschrieben von dem deutsch-schwedischen Autoren-Duo Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson.
Bei der Eröffnung einer Kunstausstellung anlässlich des Firmenjubiläums des Glashüttenbesitzers Gunnar Gustavsson im Glasreich genannten Smaland. kommt es zu einem Eklat. In einem gläsernen Sarg befindet sich kein Kunstobjekt sondern die skelettierte Leiche einer Frau in ihrem Hochzeitskleid. 47 Jahre zuvor war Berit Thurstan, die Braut des jungen Gunnar, spurlos verschwunden. Ihre Entführung war Teil einer Inszenierung, ihr endgültiges Verschwinden mit ihrem Freund Herbert war es nicht. Der Zusammenschluss der Glashütten der beiden Familien wurde zugunsten eines dritten Fabrikanten, der Geschwister Lundberg wieder aufgelöst.
Die Ermittlerinnen und ihr Team tappen lange im Dunkeln, finden immer neue Indizien und müssen ihre Theorien zum Ablauf der Ereignisse wieder verwerfen. Sie vernehmen überlebende Zeugen von damals, Freunde und Bekannte der Vermissten, arbeiten Tausende von Seiten Akten und Protokolle durch und können nicht einmal mehr anhand der DNA die Identität der Toten feststellen. Es gibt mehrere Verdächtige, allen voran der Bräutigam, aber auch etliche andere aus dem Umfeld, die damals etwas getan oder unterlassen haben, die Dinge wussten, aber für sich behielten.
Erzählt wird mit ständig wechselnder Perspektive auf zwei Zeitebenen, 1971 und der Gegenwart. Dabei spielen auch Verbrechen eine Rolle, die sich nur wenige Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt ereignet haben. Das Privatleben der Mitglieder des Teams wird ebenfalls ausführlich dargestellt, vor allem die Probleme, mit denen sich Nyström und Forss herumschlagen. Bei Nyström ist es die Ermordung der englischen Schwiegertochter Healey, bei Forss das schwer gestörte Verhältnis zu ihrem gewalttätigen, inzwischen verstorbenen Vater. Die Vergangenheit - inklusive der nie aufgeklärte Mord an Ministerpräsident Olof Palme - reicht mit ihren Folgen bis in die Gegenwart und bringt die Lebenden in große Gefahr. Der Fall hat so viele Facetten, dass der Leser angesichts der Zeitsprünge und des umfangreichen Personals einige Mühe hat, der Handlung zu folgen. Bei fast 500 Seiten hätte die Geschichte etwas Straffung vertragen können. Dennoch habe ich das Buch gern gelesen.

Veröffentlicht am 23.06.2019

Vier Kommissare ermitteln

All die unbewohnten Zimmer
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In Friedrich Anis neuem Roman “‘All die unbewohnten Zimmer“ geht es eigentlich um zwei Fälle. Eine Frau wird getötet und ein Polizist wird schwer verletzt. Dann wird am Rande einer rechten Demo ein junger ...

In Friedrich Anis neuem Roman “‘All die unbewohnten Zimmer“ geht es eigentlich um zwei Fälle. Eine Frau wird getötet und ein Polizist wird schwer verletzt. Dann wird am Rande einer rechten Demo ein junger Polizist mit einem Stein erschlagen, während sein Kollege im Auto zurückbleibt. Drei aus anderen Romanen bekannte Ermittler tauchen hier wieder auf: der ehemalige Mönch Polonius Fischer löst einen glücklosen Kollegen als Leiter der Kommission ab, die im Fall des erschlagenen Polizisten ermittelt. Der Pensionär Jakob Franck unterstützt noch immer die ehemaligen Kollegen, indem er den Angehörigen die Todesnachricht überbringt. In diesem Fall hat er eine denkwürdige Begegnung mit dem Vater des erschlagenen Polizisten und stellt eigene Nachforschungen an. Tabor Süden, Spezialist für „Vermissungen“, sucht im Auftrag der Lebensgefährtin eines Verschwundenen und kommt auf diese Weise mit dem Polizistenmord in Berührung. Fariza Nasri, eine Halbsyrerin, die auf Betreiben ihres damaligen Chefs zu Unrecht für acht Jahre in die Provinz verbannt worden war, arbeitet erstmalig im Dezernat K111 mit Polonius Fischer zusammen.
Erzählt wird eine komplizierte Geschichte aus wechselnden Perspektiven mit falschen Fährten, einem erfundenen Geständnis und Zeugen, die aus Angst lange schweigen. In Anis neuem Roman geht es jedoch nicht nur um die Aufklärung von Verbrechen, sondern auch um die aktuelle Situation in Deutschland. Da kommen Ausländerfeindlichkeit und rechtsextreme Hetze gegen Flüchtlinge, die als Sozialschmarotzer verunglimpft werden, genauso zur Sprache wie die Rolle der Medien und der sozialen Netzwerke, und dieser Aspekt des Romans ist keineswegs eine überflüssige Zutat, sondern führt zum Kern des Geschehens.
Ich habe das Buch gern und mit großem Interesse gelesen, obwohl es sprachlich sehr speziell ist, auch wegen der zahlreichen Dialektausdrücke. Für mich ist es allerdings nicht Anis bester Roman.

Veröffentlicht am 22.06.2019

Ist das Ende der Welt nah?

Der Wal und das Ende der Welt
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Ein nackter junger Mann wird eines Tages am Strand des kleinen Fischerdorfs St. Piran in Cornwall angespült. Die Dorfbewohner retten ihn, und er mobilisiert seinerseits eine Hundertschaft, um ...

Ein nackter junger Mann wird eines Tages am Strand des kleinen Fischerdorfs St. Piran in Cornwall angespült. Die Dorfbewohner retten ihn, und er mobilisiert seinerseits eine Hundertschaft, um den gestrandeten Wal zu retten, der ihn ans Ufer getragen hat. Bei dem jungen Mann handelt es sich um Joe Haak, einen jungen Mathematiker, der fluchtartig seinen Arbeitsplatz bei der Londoner Bank Lane Kaufmann verlassen hat, nachdem die von ihm entwickelte Software Cassie mittels ihrer Voraussagen einen Riesenschaden verursacht hat und wenig später das Ende der Welt, wie wir sie kennen, vorhersagt. Joe Haak glaubt, dass er seinen Arbeitsplatz verloren hat und in Kürze strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wird.
John Ironmonger erzählt in diesem Roman nicht nur das persönliche Schicksal eines jungen Mannes, der als Fremder in diesen Ort kommt und doch freundlich aufgenommen wird. Joe nutzt seinerseits sein Wissen über globale Zusammenhänge und verhängnisvolle Kettenreaktionen, wenn Versorgungswege zusammenbrechen und aufgrund von weltweiten Epidemien, Kriegen oder Naturkatastrophen die Versorgungswege unterbrochen werden. Cassie sagt den globalen Kollaps voraus, und tatsächlich bricht eine gefährliche Grippeepidemie aus, die an die Grippe von 1918 erinnert, die weltweit 500.000 oder sogar eine Million Opfer forderte. Das Programm Cassie kann zwar die Entwicklung der Aktienkurse in der nahen Zukunft vorausberechnen und von daher den Tradern der Bank bei ihren Kaufentscheidungen helfen, ist aber nicht in der Lage den menschlichen Faktor zu kalkulieren. Wie wird sich die Menschheit angesichts des drohenden Weltuntergangs verhalten? Werden die Menschen zum Äußersten entschlossen aufeinander losgehen, um das eigene Überleben zu sichern, oder werden sie zu mitmenschlichem Verhalten und Solidarität in der Lage sein? Große Philosophen wie Hobbes, auf den immer wieder Bezug genommen wird, haben diese Frage sehr pessimistisch beantwortet. John Ironmonger hat dagegen eine herzerwärmende Geschichte voller Hoffnung geschrieben – wie ein modernes Märchen und im letzten Teil in gewissem Umfang absehbar. Erzählt wird aus der Perspektive von Joe Haak, aber es wird auch weit in die Zukunft vorgegriffen, wenn sich die Generation der Enkel die Geschichte von Joe Haak und dem gestrandeten Wal erzählt. Ein schöner Roman, den ich gern gelesen habe.