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Veröffentlicht am 16.02.2020

Auf der Suche nach der perfekten Welt

Eine fast perfekte Welt
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In “Eine fast perfekte Welt“, ihrem neuen Roman, stellt Milena Agus vier Generationen einer sardischen Familie vor. Esters Mutter, eine verbitterte Witwe, die ihren Sohn Felice so lange demütigt, bis er ...

In “Eine fast perfekte Welt“, ihrem neuen Roman, stellt Milena Agus vier Generationen einer sardischen Familie vor. Esters Mutter, eine verbitterte Witwe, die ihren Sohn Felice so lange demütigt, bis er Selbstmord begeht, Tochter Ester, die fünf Jahre auf ihren Verlobten Raffaele wartet, der nach Krieg und Gefangenschaftaus völlig verändert zurückkehrt und sich im Hafen von Genua Arbeit sucht. Irgendwann viel später heiraten Raffaele und Ester und gehen nach Genua, danach nach Mailand. Die Ortsveränderungen bringen Ester nicht das erhoffte Glück, und die Eheleute kehren mit Tochter Felicita in das sardische Dorf zurück, als Ester vor Heimweh krank wird. Felicita verliebt sich in den reichen jungen Adligen Sisternes. Mit ihm hat sie jahrelang eine Beziehung, heiratet ihn aber nicht, weil er sie nicht liebt. Felicita bekommt von ihm den Sohn Gregorio, den sie in Cagliari aufzieht, ohne Sisternes über seine Vaterschaft zu informieren. In Cagliari freundet sie sich mit ihrer Vermieterin Marianna an, einer magersüchtigen Frau mit schmerzlichen Kindheitserfahrungen und einer extrem pessimistischen Lebenseinstellung. Am Strand lernt sie mit Gabriele einen unglücklichen Mann kennen, der sich selbst als Wrack betrachtet. In kurzen Momentaufnahmen beleuchtet die Autorin das Leben all dieser Figuren, die nicht glücklich sind, immer auf der Suche nach der perfekten Welt, dem gelobten Land, bis einige von ihnen erkennen, dass das gelobte Land nichts Äußerliches ist, kein Ort, den man einfach nur aufsuchen muss, um glücklich zu sein. Jeder trägt die Möglichkeit, das Glück zu finden, in sich.
Über dem in drei große Abschnitte – Das Festland – Sardinien – Amerika – und 50 kurze Kapitel unterteilte Roman liegt eine melancholische Stimmung, aber er vermittelt letztlich nicht Hoffnungslosigkeit, sondern in der exzentrischen, aber sehr sympathischen Figur der Felicita eine optimistische Lebenseinstellung. Mir haben schon die früheren Bücher der Autorin gut gefallen. Der neue Roman macht da keine Ausnahme.

Veröffentlicht am 29.12.2019

Die Wunden der Vergangenheit sind nicht vernarbt

Das Ritual des Wassers
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Mit “Das Ritual des Wassers“ liegt der zweite Band von Eva García Sáenz´ erfolgreicher, in ihrer baskischen Heimat spielenden Trilogie um Inspektor Ayala, genannt Kraken, seine Kollegin Estíbaliz genannt ...

Mit “Das Ritual des Wassers“ liegt der zweite Band von Eva García Sáenz´ erfolgreicher, in ihrer baskischen Heimat spielenden Trilogie um Inspektor Ayala, genannt Kraken, seine Kollegin Estíbaliz genannt Esti und seine Vorgesetzte Alba, mit der er seit einiger Zeit eine Beziehung hat. Wenn man den ersten Band -“ Die Stille des Todes“ - gelesen hat, ist die Thrillerhandlung vor dem Hintergrund eines baskischen Ambientes und keltiberischer Rituale und Opferstätten nicht mehr neu und überraschend. Der Thriller liest sich dennoch sehr gut, auch wenn sich manches wiederholt. Da sind Mythen und Legenden aus einer längst vergangenen Zeit, hier vor allem Fruchtbarkeits- und Bestrafungsrituale, die werdende Eltern betreffen. Wenn diese es nicht wert sind, Eltern zu werden, werden sie getötet. Dann muss das ungeborene Kind der Göttin geopfert werden. Wie schon im ersten Band liegen die Gründe für eine Serie von Morden und Mordversuchen in der Vergangenheit, und Ayala und die schwangere Alba geraten erneut ins Visier eines Täters oder einer Täterin. Bei der Darstellung der komplizierten Zusammenhänge kommt die Autorin oft vom Hundertsten ins Tausendste, worunter die Spannung streckenweise etwas leidet. Die raffiniert konstruierte Handlung ist auch deshalb weitgehend undurchschaubar, weil falsche Identitäten den Leser in die Irre führen. Die Auflösung zeigt, dass die Vergangenheit nicht tot ist und Schuld, die jemand auf sich geladen hat, in der Gegenwart bezahlt werden muss. Insgesamt ist der Thriller so packend und überzeugend, dass ich den dritten Band auf jeden Fall auch noch lesen werde.

Veröffentlicht am 08.09.2019

Danach ist nichts mehr wie vorher

Der Sprung
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In Simone Lapperts Roman “Der Sprung“ steht die junge Manu alias Manuela Kühne auf dem Dach eines Hauses im kleinen Thalbach an der Schweizer Grenze und will anscheinend in den Tod springen. Mehr als 20 ...

In Simone Lapperts Roman “Der Sprung“ steht die junge Manu alias Manuela Kühne auf dem Dach eines Hauses im kleinen Thalbach an der Schweizer Grenze und will anscheinend in den Tod springen. Mehr als 20 Stunden hält sie die Bewohner des Ortes, die Polizei und Feuerwehr in Atem. Vor der Absperrung sammelt sich eine Menschenmenge, die den Todessprung nicht verpassen und mit dem Handy festhalten will. Neben der Aufforderung, doch endlich zu springen oder Äußerungen zur Verschwendung von Steuergeldern gibt es auch mitfühlende Bemerkungen, Menschen, die den Mut der Frau bewundern oder Mitleid mit ihr haben.
Lange tappt der Leser im Dunkeln und erfährt nicht, wie es zu dieser Extremsituation kam. Kapitelweise kommt eine Vielzahl von Personen zu Wort, die der Frau auf dem Dach nahestehen oder sie flüchtig kennen. Manche lernt der Leser genauer kennen und erlebt mit, was diese Krisensituation mit ihnen macht, denn alle werden durch dieses Ereignis verändert und kommen an einen Wendepunkt ihres eigenen Lebens. Der Polizist Felix kann zum ersten Mal über ein Kindheitstrauma sprechen, das sein ganzes bisheriges Leben überschattet hat. Eine übergewichtige Schülerin, die in der Schule gnadenlos gemobbt wird, hat endlich die Kraft, sich gegen ihre Peiniger zu wehren und findet vielleicht zum ersten Mal eine Freundin. Ein altes Ehepaar mit seinem fast bankrotten Laden an der Ecke macht wegen des Menschenandrangs an dem entscheidenden Tag einen Riesenumsatz und kann das Glück längst vergangener Tage noch einmal beleben. Frauen befreien sich endlich aus unglücklichen Beziehungen usw. Der Autorin gelingen überzeugende Porträts der Menschen dieser Kleinstadt, allen voran Roswitha, die Wirtin des Cafés, die mehr Empathie aufbringt als alle anderen zusammen. Sehr überzeugend ist auch die Charakterisierung der Hauptfigur. Manu ist unkonventionell, um nicht zu sagen exzentrisch. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Pflanzen aus engen Gefäßen oder ungeeigneten Beeten zu befreien und in einem geheimen Garten im Wald einzupflanzen. Auch sie leidet offensichtlich unter Traumata, an die niemand rühren darf und war in der Vergangenheit wegen psychischer Probleme in der Klinik.
Trotz der Personenvielfalt ist “Der Sprung“ ein sehr schöner, gut lesbarer Roman. Sehr empfehlenswert.

Veröffentlicht am 02.08.2019

Überlebenskünstler

Auf Erden sind wir kurz grandios
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Ocean Vuong wurde in den USA durch die Veröffentlichung seiner Gedichte berühmt. “Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist sein Debütroman. Ein Little Dog genannter 28jähriger schreibt in einem an seine Mutter ...

Ocean Vuong wurde in den USA durch die Veröffentlichung seiner Gedichte berühmt. “Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist sein Debütroman. Ein Little Dog genannter 28jähriger schreibt in einem an seine Mutter gerichteten Brief die Geschichte seiner Familie und seines eigenen bisherigen Lebens auf. Seine Mutter wird ihn nie lesen können, denn sie ist Analphabetin. Großmutter Lan und ihre Töchter Rose und Mai kamen aus Vietnam in die USA, als Little Dog noch ein Kleinkind war. Beide Frauen sind durch Gewalterfahrungen aller Art und den furchtbaren Krieg schwer gezeichnet und leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Großmutter wird zunehmend verrückter. Lan war aus einer arrangierten Ehe geflohen und hatte den amerikanischen Soldaten Paul geheiratet. Tochter Rose wird von ihrem Mann verprügelt, bis dieser sie so verletzt, dass er dafür ins Gefängnis geht. Aber auch das Kind hat es nicht leicht. Er wird schon früh mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert, erfährt Ablehnung und Ausgrenzung und muss sich als pédé beschimpfen lassen (franz. pédéraste=Homosexueller), ein Begriff, der noch aus der Zeit stammt, als Vietnam Indochina hieß und französische Kolonie war. Liebe erlebt er stets als untrennbar von Gewalt: durch die Misshandlungen der eigenen Mutter und in seiner Beziehung zu dem weißen amerikanischen Jungen Trevor, Sohn eines Alkoholikers, der mit seinem Vater in einem Wohnwagen lebt und White Trailer Trash zuzuordnen ist – auch er chancenlos, weil er schon mit 15 Jahren drogenabhängig wird. Trevor will seine Homosexualität nicht wahrhaben. Auch in dieser Liebe gibt es viel Gewalt und Schmerz. Für Little Dog, der anfangs sprachlos war, weil er das Englische nicht beherrschte, wird Sprache zu dem Mittel, in der fremden Welt zu überleben, schließlich als Schriftsteller seine Berufung zu finden.
Der in einer teilweise sehr poetischen Sprache verfasste Roman nimmt im letzten Drittel immer mehr die Züge eines Gedichts an, wodurch Längen und Wiederholungen nicht ganz vermieden werde können, und enthält dennoch auch eine Menge Fakten: die Auswirkungen des Vietnamkriegs auf die Zivilbevölkerung, allgegenwärtiger Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den USA, weitverbreitete Homophobie, die miserablen Arbeitsbedingungen in unterbezahlten Knochenjobs, wie es Mutter Rose in ihrem Nagelstudio und die beiden Halbwüchsigen auf der Tabakfarm erleben, Drogenabhängigkeit aufgrund des legalen Schmerzmittels Oxycontin, einem Opioid, sozusagen Heroin in Tablettenform. Der Roman ist nicht autobiographisch, enthält aber Elemente aus Vuongs eigenem Leben. Er zeigt, wie Menschen unter schwierigsten Bedingungen überleben und ist zugleich eine lange nachwirkende Meditation über Liebe und Verlust, eine coming-of-age Story, die aufgrund ihres fragmentarischen Charakters und der komplizierten Zeitstruktur nicht ganz einfach zu lesen ist, aber dennoch einen tiefen Eindruck hinterlässt.

Veröffentlicht am 31.07.2019

Verlust der Unschuld

Tage in Cape May
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In Chip Cheeks Debütroman “Tage in Cape May“ fährt ein junges Paar in seinen Flitterwochen nach Cape May an der Ostküste zum Haus des Onkels der Braut, die die Ferien ihrer Kindheit dort verbracht hat. ...

In Chip Cheeks Debütroman “Tage in Cape May“ fährt ein junges Paar in seinen Flitterwochen nach Cape May an der Ostküste zum Haus des Onkels der Braut, die die Ferien ihrer Kindheit dort verbracht hat. Effie, 18 und Henry, 20 haben direkt nach dem Highschool-Abschluss geheiratet und ihre Heimat, das ländliche Georgia, noch nie verlassen. Sie sind naiv und unschuldig. Mit ihrer konservativen prüden Erziehung müssen sie erst lernen, als Mann und Frau zusammenzuleben. Das klappt erstaunlich gut. Jedoch langweilen sie sich nach einer Woche, weil der Ort im September, also außerhalb der Saison, völlig menschenleer ist. Als sie schon überlegen, ob sie vorzeitig abreisen sollen, begegnen sie Clara, einer Freundin von Effies älterer Kusine. Effie hasst sie wegen unangenehmer Erlebnisse in der Kindheit. Clara, ihr Liebhaber Max, ein Schriftsteller und seine Halbschwester Alma nehmen das junge Paar jedoch in ihren Kreis auf. Auf diese Weise lernen Effie und Henry New Yorker Geschäftsleute und Künstler kennen. Der Alkohol fließt in Strömen, und die beiden nehmen an allerlei Unternehmungen teil. Sie machen Ausflüge mit dem Segelboot oder brechen nachts in die leer stehenden Häuser ein, wo sie sich in fremden Wohn- und Schlafzimmern breit machen. Die Atmosphäre ist sexuell aufgeladen. Effie und Henry lassen ihr altes Leben hinter sich. Ein neues fängt an. Effie und Henry verlieren in jeder Hinsicht ihre Unschuld und sehen sich ganz neuen Verführungen ausgesetzt. Für den Leser ist schon bald klar, dass das alles in einer Katastrophe enden wird. Danach wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Der in den 50er Jahren angesiedelte Roman beschreibt eine Zeit im Aufbruch. Diese von Prüderie und Frömmigkeit geprägte Welt wird es nicht mehr lange geben. Eine liberalere, freizügigere Zeit bricht an. Ein interessanter, streckenweise etwas handlungsarmer Roman mit teilweise absehbarer Entwicklung, den ich dennoch gern gelesen habe.