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Veröffentlicht am 28.12.2020

Leseschatz 2020

Was der Fluss erzählt
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Ein kleines Mädchen kommt im Wirtshaus „Swan“ wieder zu sich, nachdem sie leblos aus der Themse gerettet worden ist. Doch wo gehört sie hin? Das Ehepaar Vaughan vermisst ein Kind in dem Alter, ebenso der ...

Ein kleines Mädchen kommt im Wirtshaus „Swan“ wieder zu sich, nachdem sie leblos aus der Themse gerettet worden ist. Doch wo gehört sie hin? Das Ehepaar Vaughan vermisst ein Kind in dem Alter, ebenso der Bauer Armstrong und die Haushälterin Lily.

Mit dem Auftauchen des Mädchens brechen alte Wunden auf, es kommt aber auch Bewegung in festgefahrene Beziehungen und manches Leben nimmt eine komplett neue Richtung.

„Was der Fluss erzählt“ ist ein historischer, mystischer Kriminalroman, der von Nachsicht und Toleranz inmitten einer oft unwirtlichen Umgebung geprägt ist. Exquisit erzählt, gehört das Buch auf jeden Fall zu den Leseschätzen 2020.

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Veröffentlicht am 02.09.2020

Ganz famos!

Der falsche Preuße
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Mit dem Hauptmann Wilhelm Freiherr von Gryszinski schickt Uta Seeburg einen rundum freundlichen Zeitgenossen auf Verbrecherjagd. Gryszinski kommt aus Berlin, ist Reserveoffizier der preußischen Armee und ...

Mit dem Hauptmann Wilhelm Freiherr von Gryszinski schickt Uta Seeburg einen rundum freundlichen Zeitgenossen auf Verbrecherjagd. Gryszinski kommt aus Berlin, ist Reserveoffizier der preußischen Armee und das Schöne: Er ist einfach nur glücklich in München, wo er bei der Königlich Bayerischen Polizeidirektion arbeitet.

Ein Genießer ist er, verliebt in seine Frau und ein bisschen auch in München, das er sich bei seinen Ermittlungen gerne mal zu Fuß erwandert. Überhaupt entspricht dieser Ort so sehr seiner Wesensart, dass man sich fragt, wie er es jemals als Preuße ins Erwachsenenalter geschafft hat.

Auf den Punkt kommt diese Entwicklung bei einer privaten Abendgesellschaft mit seinen Jugendfreunden aus Berlin: Während die Kollegen in ihre Uniformen gewandet zur Soirée erscheinen, begnügt sich Gryszinski mit dem Anzug, vor allem, weil er sich aus der Dragonerkluft schon lange lustvoll herausgefuttert hat.

Als Leser sind wir staunender Begleiter Gryszinskis, der sich mit allen Sinnen durch die herbstliche Pracht seiner Wahlheimat bewegt. Wir schreiben das Jahr 1894, die Trambahn wird noch von Pferden gezogen, wenngleich man ab und an schon eins dieser neuartigen Automobile sichtet, für das es in München bereits einige wenige Fahrerlaubnisse gibt.

Und auch Gryszinski ist beruflich seiner Zeit voraus, denn er bedient sich neuester kriminalistischer Methoden. Der Spurensuche am Tatort etwa und ihrer akribischen Dokumentation sowie der Daktyloskopie, also der Feststellung von Fingerabdrücken, mit deren Hilfe Personen neuerdings tatsächlich identifiziert werden können.

Ach ja, und einen Mord gibt es auch. Das Opfer wird am Ufer der Isar gefunden, mittels einer Ladung Schrot erschossen und in einen Mantel aus Vogelfedern gewandet. Bei seinen Ermittlungen lernt Gryszinski Zeitgenossen unterschiedlichster Couleur kennen, unter anderem die dekadente Nervensäge Eduard Lemke, einen Emporkömmling und Angeber, der uns in seiner überkandidelten Prachtvilla mindestens so unerträglich wird wie unserem wackeren Ermittler. Durch Lemke handelt sich Gryszinski zu allem Überfluss auch noch eine missliebige Spionagetätigkeit für die preußische Regierung ein, bei der es um ein zurückliegendes Verbrechen in der Kolonie Deutsch-Ostafrika geht.

Alles in allem: Gryszinskis Kriminalgeschichte ist ein kompletter Genuss, und dazu als Serie angelegt. Das ist besonders erfreulich.

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Veröffentlicht am 11.08.2019

Von Einfalt, Sorgfalt und Vielfalt

Die geheime Mission des Kardinals
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Wie ermittelt man in einem Mordfall, wenn man in einer Diktatur lebt und arbeitet? Wenn man damit rechnen muss, dass überall der Geheimdienst mithört, Beweise verschwinden und die Beschuldigten am Ende ...

Wie ermittelt man in einem Mordfall, wenn man in einer Diktatur lebt und arbeitet? Wenn man damit rechnen muss, dass überall der Geheimdienst mithört, Beweise verschwinden und die Beschuldigten am Ende sowieso freikommen, weil sie um fünf Ecken mit dem Herrscherhaus verwandt sind?

Zakaria Barudi, Kommissar in Damaskus, in froher Erwartung seiner bevorstehenden Pensionierung, hat damit Erfahrung. Die braucht er auch, als er Ende 2010 seinen neuesten und aller Voraussicht nach letzten Fall übernimmt: Ein vom Vatikan ausgesendeter Kardinal wird ermordet und danach, symbolträchtig präpariert, in einem Fass bei der italienischen Botschaft angeliefert.

Dieser Kriminalfall bietet weder wilde Schießereien noch spektakuläre Verfolgungsjagden. Auch ist kein Mitspieler aus dem privaten Umfeld des Kommissars in das Verbrechen involviert. Ebensowenig bestimmen absichtlich gelegte Fährten geisteskranker Massenmörder den Fortgang der Handlung. Dafür gibt es vielfältige Einblicke in die syrische Gesellschaft und in die Abgründe religiösen Irrsinns – vom christlichen Wunderheiler bis zur islamistischen Terroreinheit.

Barudi geht mit viel Gelassenheit, Toleranz, Witz, Erfahrung und kriminalistischer Sorgfalt vor. Er spricht mit jedem, macht sich aber mit niemandem gemein. Eine moralische Stütze und geniale kriminalistische Ergänzung findet er in seinem italienischen Kollegen Marco Mancini, den man ihm für die Ermittlungen zur Seite stellt.

„Die geheime Mission des Kardinals“ ist ein erstklassiger Roman. Das atmet man auf jeder Seite ein, merkt es aber vor allem, wenn man das Buch zur Seite legt: Es fehlt, wie ein guter Freund, und schnell nimmt man es wieder zur Hand und liest einfach weiter.

Veröffentlicht am 13.05.2023

Wieder mal ganz außergewöhnlich

Die Insel der Unschuldigen
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Dies ist die Geschichte des Segelschiffs Batavia, das 1629 vor der Westküste Australiens gesunken ist. Es ist ebenso die Geschichte der neunjährigen Mayken, die auf der Batavia nach Java zu ihrem Vater ...

Dies ist die Geschichte des Segelschiffs Batavia, das 1629 vor der Westküste Australiens gesunken ist. Es ist ebenso die Geschichte der neunjährigen Mayken, die auf der Batavia nach Java zu ihrem Vater reist. Und es ist die Geschichte des gleichaltrigen Gil, der 1989 nach Beacon Island zu seinem Großvater gebracht wird - auf eben jenen Landflecken, den die Schiffbrüchigen der Batavia einst für eine rettende Insel gehalten haben.

Vor der Lektüre sei angeraten, die historische Rahmenhandlung zu recherchieren, denn der Roman gibt die Wahrnehmungen der Kinder wieder und lässt das aus, was sie nicht erleben oder was die Erwachsenen ihnen zu wissen ersparen. Andernfalls bleibt der sogenannte „Suspense“ aus, also die Spannung, die das Vorhersehbare beim Lesen erzeugt.

Dies wäre kein Jess Kidd-Roman, wenn übernatürliche Wesen und geisterhafte Verbindungen ausgespart und die Brücke zum Jenseits ausgelassen würde. Das Buch ist wieder mal außergewöhnlich und überhaupt ganz großes Kino.

Der Übersetzerwechsel tut dem Werk (Original: The Night Ship) allerdings nicht gut. Die Sätze rattern über weite Strecken eintönig voran, es fehlt die Finesse, der Wortreichtum und insgesamt der Schmelz, mit dem das Übersetzerpaar Wasel und Timmermann die drei vorhergehenden Romane der britischen Autorin überzogen haben.

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Veröffentlicht am 26.08.2021

Meisterhaft erzählt

Harlem Shuffle
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„Harlem Shuffle“ ist ein Großstadtroman, mit dem nicht jeder warmwerden muss, denn das Milieu, in dem er spielt, ist nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich ganz weit weg von uns. Wir begleiten Raymond ...

„Harlem Shuffle“ ist ein Großstadtroman, mit dem nicht jeder warmwerden muss, denn das Milieu, in dem er spielt, ist nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich ganz weit weg von uns. Wir begleiten Raymond Carney, einen selbständigen Gebrauchtmöbelhändler, der in den sechziger Jahren versucht, in seinem Viertel emporzukommen. Der New Yorker Stadtteil Harlem ist sein ganzer Kosmos. Wie es woanders zugeht, weiß er nur aus zweiter oder dritter Hand, von den Zugezogenen aus den Südstaaten oder von seiner Frau, die beruflich Reisen organisiert - für andere.

Für den Leser bleibt es beim Nachnamen. Carney ist für uns Carney und nicht Ray. Damit wird er zur Hülle und steht für alle anderen, denen es so geht wie ihm. Wie Carney es schafft, seine Familie zu hintergehen, die ihn für einen redlichen Geschäftsmann, Vater und Ehemann hält, so täuscht er auch uns. Mit seiner Menschenfreundlichkeit und seinem Fleiß wickelt er uns ein. Ach, wie sehr fühlen wir mit ihm, wenn er, der es selbst schwerhat, seine Miete zu verdienen, sich fest vornimmt, nichts mehr auf Raten zu verkaufen, und dann doch wieder weich wird, wenn der nächste Kunde ihn darum bittet.

Mißt man ihn jedoch an seinen Taten, dann sieht sie Sache schon anders aus. Carney, der aus schlimmen Verhältnissen kommt und dann über seinem Stand geheiratet hat, kennt Mörder, Erpresser, Schläger, Räuber, Drogenopfer und Prostituierte, und er benutzt sie, um seine Probleme zu lösen. Geschäftsmäßig vermittelt er Diebesgut an Hehler, zahlt Schutz- und Schmiergelder, und wenn er es nicht vermeiden kann, läßt er auch schonmal eine Leiche verschwinden. Trotzdem schafft er es, daß wir ihm das nicht krumm nehmen, denn meist sind es die Umstände, die ihn zum Handeln zwingen. Oder sein nichtsnutziger Cousin Freddie, den er immer wieder aus einem selbstverschuldeten Schlamassel retten muss.

Die Kunst Whiteheads besteht darin, daß Carney in seiner Zerrissenheit zwischen Anstand und Verbrechen dem Leser etwas bedeutet und damit für die Stadt steht, in der er lebt. Ein meisterhaft erzähltes Buch, das an keiner Stelle langweilig wird.

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