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Venatrix

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.09.2019

Täter oder Mitläufer?

Aspergers Kinder
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Die amerikanische Autorin und Historikerin Edith Scheffer, die selbst einen autistischen Sohn hat, begibt sich auf Spurensuche nach Dr. Hans Asperger, dessen Name für einen Teil des Autismus steht.

War ...

Die amerikanische Autorin und Historikerin Edith Scheffer, die selbst einen autistischen Sohn hat, begibt sich auf Spurensuche nach Dr. Hans Asperger, dessen Name für einen Teil des Autismus steht.

War Asperger wirklich eine Art „Oskar Schindler“, der Kinder vor der Tötung des Euthanasie-Programmes der Nazis rettete? Oder war er vielmehr eines der zahlreichen Räder, die diese Tötungsmaschine aufrecht erhalten hat?

Asperger war streng gläubiger Katholik und nie Mitglied des NSDAP. Doch genügt das, um ihn von den Verbrechen der Nazis frei zu sprechen? War er nicht Nutznießer des Systems? Heute scheint es fast sicher, dass er zahlreiche Kinder durch eine positive Beurteilung vor dem Tod bewahrt hat, aber einige auch bewusst in den Tod geschickt hat. Dass er, Arzt an der Universitätskinderklinik nicht gewusst haben will, was in Heilanstalt (was für ein Widerspruch) „Am Spiegelgrund“ vor sich gegangen ist, nimmt ihm keiner ab.

Deutlich wird auch durch dieses Buch, dass er sich (wie viele tausende Menschen dieser Zeit auch) einfach durchlaviert hat. Seine zwiespältige Rolle ist mit dem Wissen von heute anders zu bewerten, als damals. Ohne die Nazis hätte er niemals eine solche Karriere erreichen können. Er profitiert also davon, dass die jüdischen Ärzte aus Wien vertrieben bzw. getötet werden und eine Stelle für ihn frei wurde.

Neben Asperger kommen einige Ärzte, wie Dr. Heinrich Gross, in diesem Buch vor, bei denen es wirklich bewiesen ist, dass sie eigenhändig Kinder getötet haben.

Viele Kapitel widmen sich der Euthanasie und dem Vorgehen von Familien und Jugendämtern. Dass Mütter ihre Kinder (und vor allem Stiefkinder), mit denen sie nicht zurecht kamen, der Tötungsmaschinerie übergaben, ist kaum zu ertragen. Andererseits gab es Eltern, die ihr Kind, das ihnen von der Fürsorge abgenommen worden ist, unbedingt wieder haben wollten.

Interessant finde ich, dass zwischen ähnlichem Verhalten von Jungen und Mädchen Unterschiede gemacht wurden. Was bei einem Jungen toleriert und als „erziehbar“ gegolten hat, war für Mädchen ein Todesurteil.

Aspergers Einteilung in „lernfähige“ oder eben „nicht lernfähige“ Kinder, ist heute umstritten. Damals hat man versucht alles in Schematismen einzuordnen. Wer nicht einem Schema entsprach, wurde entweder passend gemacht oder aussortiert (und umgebracht).

Die Autorin erzählt an Hand von Akten die Leidensgeschichte mehrerer Kinder, wie z.B. das Schicksal der fünfjährigen Elisabeth Sch., die nach einer Gehirnhautentzündung nicht mehr sprechen konnte, also in der Diktion der Nazis „nicht entwicklungsfähig zu einem vollwertigen Mitglied der Volksgemeinschaft sein würde“.

Meine Meinung:

Ein interessantes wie wichtiges Buch, das sich mit den Gräueln der Nazis beschäftigt. Einen Stern muss ich leider abziehen, denn ich orte eine vorgefasste Meinung in der Betrachtung von Hans Asperger. Aber, vielleicht liegt das an der Übersetzung.

Als betroffene Mutter hat die Autorin bestimmt meterweise Literatur über Autismus gelesen und mit Kapazitäten gesprochen. Obwohl die Beschreibung des frühkindlichen Autismus beinahe gleichzeitig von Leo Kanner in den USA beschrieben worden ist, trägt diese Spielart des Autismus seit 1981 den Namen des vergleichsweise unbekannten Aspergers. Das muss man wohl als Treppenwitz der Geschichte ansehen. Ob die britische Psychiaterin Lorna Wing, die Aspergers Arbeit fortgesetzt, bewusst war, nach wem sie diese Abweichung des Autismus benannt hat?

Das beeindruckende Titelfoto zeigt die 772 Stelen, die an die, in der Heilanstalt „Am Spiegelgrund“ ermordeten Kinder, erinnert.

Veröffentlicht am 18.09.2019

100 Jahre Bauhaus - ein Blick hinter die Kulissen

Diese goldenen Jahre
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Autorin Naomi Woods entführt uns in das Jahr 1922 nach Weimar. Fünf junge Studentinnen und Studenten beginnen mit Enthusiasmus ihr Studium am Bauhaus von Walter Gropius und seinen Meistern. Sie bekommen ...

Autorin Naomi Woods entführt uns in das Jahr 1922 nach Weimar. Fünf junge Studentinnen und Studenten beginnen mit Enthusiasmus ihr Studium am Bauhaus von Walter Gropius und seinen Meistern. Sie bekommen es mit arrivierten Malern wie Paul Klee und Wassily Kandinsky oder strengen wie Johannes Itten zu tun. Itten, der bereits in Wien und der Schweiz unterrichtet hat, verlangt seinen Schülern im Vorkurs einiges ab: Fasten bis zur Selbstaufgabe. Dazwischen wird gefeiert, die Modedroge Kokain konsumiert und dem freien Leben gefrönt. Besonders für die jungen Frauen bedeutet sich diese Zeit als eine völlige Umstellung: Weg mit dem Korsett, den Zöpfen, dem Busen - androgyne Figuren sind gefragt, die sogenannte „Garçonne“. Frauen in Herrenanzügen, Bubikopf, streng asketisch.

Das ist das Umfeld, in dem sich Paul Beckermann, eine der fünf Hauptpersonen, der auch gleichzeitig Erzähler ist, bewegt. Während einige seiner Freunde finanzielle Unterstützung durch die Familie erhalten, muss Paul arbeiten. Er malt für Ernst Steiner, einen etwas zwielichtigen Kunsthändler, üppige, aber kitschige Landschaftsbilder.

Natürlich darf auch die Liebe nicht fehlen. Paul ist unsterblich in Charlotte verliebt, die jedoch mit Jenö zusammenlebt, der seinerseits von Walter geliebt wird. Eine Art Reigen von ungestillten Leidenschaften.

Doch bald schlägt das Schicksal in Form der Nazis zu. Das Bauhaus übersiedelt vom konservativen Weimar nach Dessau. 1933 wird das Bauhaus endgültig verboten und geschlossen.
Schon zuvor wird Gropius vorgeworfen, „zuviele Juden und zuviele Frauen“ in die Schule aufzunehmen.
Auf Grund einer Liste, die die Namen von Ausländern und Juden enthält, wird auch Charlotte, die gebürtige Pragerin zur persona non grata. Für eine Flucht ist es allerdings zu spät. Charlotte stirbt in einem Konzentrationslager. Erst Jahre später kommt heraus, wer diese Liste an die Nazis weitergeben hat.

Meine Meinung:

Dieser Roman zeigt einiges über die Bauhaus-Zeit, die doch recht turbulent war. Die sektiererische Haltung von Itten, der seine Schüler hier (meiner Ansicht nach) missbraucht, war mir schon länger bekannt. Gut gelungen ist die Darstellung der Studenten, die sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben.

Die Liebeswirren von Paul sind mir ein wenig zu detailliert. Ich hätte mir ein wenig mehr „Bauhaus“, Kunst, Design etc. gewünscht. Aber dafür gibt es ja noch ein paar Sachbücher.

Fazit:

EIn zur 100-Jahr-Feier der Gründung des Bauhauses passender Roman, der die Zeit gut darstellt. Gerne gebe ich 4 Sterne.

Veröffentlicht am 16.09.2019

Netter Urlaubskrimi mit Provence-Feeling

Lavendel-Gift
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Das ist der zweite Krimi von Carine Bernard, in dem sich (fast) alles um den Lavendel dreht.

Lilou Braque ist Polizei-Schülerin und steht kurz vor ihrer Ausmusterung als Commissaire. Dazu absolviert ...

Das ist der zweite Krimi von Carine Bernard, in dem sich (fast) alles um den Lavendel dreht.

Lilou Braque ist Polizei-Schülerin und steht kurz vor ihrer Ausmusterung als Commissaire. Dazu absolviert sie ihr letztes Praktikum. Zu ihrem Leidwesen nicht im schicken Paris oder mondänen St. Tropez, sondern leider in der Provence, also Provinz.
In der Polizeistation ist sie nicht unbedingt gerne gesehen und wird häufig von den Kollegen für ungeliebte Arbeiten wie Berichte schreiben eingesetzt.

Doch dann schlägt ihre große Stunde: Ein Mord und sie darf bei den Ermittlungen mitarbeiten. Der Schock ist groß als sich herausstellt, dass das Mordopfer ihr Vermieter ist. Frédéric Benoit ist ein alter, auf den Rollstuhl angewiesener Mann, dem Lilou täglich vorgelesen und mehrmals Abendessen gekocht hat. Wer sollte dem alten Mann Böses tun? Hängt sein gewaltsamer Tod mit dem alten, handgeschriebenen Kochbuch zusammen, das er Lilou zur Aufbewahrung gegeben hat?

Lilous Verdacht stößt bei ihrem Vorgesetzten auf wenig Gegenliebe. Deshalb zieht Lilou eigene Erkundigungen ein. Dabei trifft sie auf Simon, den charmanten Großneffen von Frédéric, der recht plötzlich aufgetaucht ist.

Meine Meinung:

Ein netter Provence-Kimi, der prompt Urlaubsstimmung aufkommen lässt.
Anders als in „Lavendel-Tod“ haben wir es hier mit einer Polizei-Schülerin zu tun, die sich in der Männerwelt erst behaupten muss.
Deutlich sind Lilous Zweifel an ihrer Berufswahl zu spüren. DOch sie lässt sich nicht beirren und löst den Fall mit Intuition, auch wenn das dem Polizeichef nicht gar so behagt.

Fazit:

Ein netter Provence-Kimi, der prompt Urlaubsstimmung aufkommen lässt. Gerne gebe ich hier 4 Sterne.

Veröffentlicht am 14.09.2019

Dynastie Habsburg - wahrlich kaiserlich

Kaiserlicher Glanz
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Was haben Rudolf von Habsburg (1219-1291) und Karl von Habsburg-Lothringen (1887-1922) außer den klingenden Namen noch gemeinsam?

Keiner mochte sie. Im ersten Fall die deutschen Fürstentümer die einen ...

Was haben Rudolf von Habsburg (1219-1291) und Karl von Habsburg-Lothringen (1887-1922) außer den klingenden Namen noch gemeinsam?

Keiner mochte sie. Im ersten Fall die deutschen Fürstentümer die einen leicht lenkbaren und harmlosen Kaiser suchten, im anderen Fall die Bewohner des Vielvölkerstaates, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg genug von der Monarchie hatten.

Rudolf I. steht am Beginn einer langen Reihe von Habsburgern, die Gebiete eroberten und auch wieder verloren. Karl I. ist der letzte regierende Habsburger.

Dazwischen finden wir eine lange Reihe von fähigen, unfähigen, langlebigen, kurz regierende Erzherzöge bzw. Kaiser. Franz Stephan von Lothringen tanzt hier aus der Reihe. Er ist „nur“ angeheiratet. Seine Gemahlin ist niemand Geringerer als Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich, Königin von Böhmen, Ungarn usw..

Fast ununterbrochen sind die Habsburger gleichzeitig auch Kaiser „des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ bis sich 1804 ein französischer Parnvenü aufschwingt, Kaiser der Franzosen zu sein. Da wirft Kaiser Franz II./I. die Deutsche Kaiserkrone 1806 hin. Immerhin ist er zwei Jahre lang Doppel-Kaiser.

Sigrid-Maria Größing ist eine gute Kennerin von Habsburgs Geschichte und „G‘schichtln“. Wer sich in der langen Reihe von regierenden Habsburger auskennt, wird wenig Neues erfahren. Für alle jene, die sich in der Dynastie (noch) nicht gut auskennen, ist dieses Buch ein gelungener Einstieg.

Ich hätte mir zu jedem Herrscher noch ein Porträt gewünscht, denn die Autorin beschreibt die Physiognomie der Personen recht anschaulich. Selbst auf die Gefahr hin, dass die Bildnisse geschönt sind.

Fazit:

Amüsant geschrieben. Ein gutes Geschenk für alle, die große Dynastien mögen.

Veröffentlicht am 14.09.2019

Ich bin kein Jude, ich bin ein Mensch

Vergesst unsere Namen nicht
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Als Simon Strangers kleiner Sohn buchstäblich über den Stolperstein für Hirsch Komissar stolpert, und nachfrägt, was diese in den Straßen eingelassenen Messingplatten bedeuten, beginnt Stranger sich mit ...

Als Simon Strangers kleiner Sohn buchstäblich über den Stolperstein für Hirsch Komissar stolpert, und nachfrägt, was diese in den Straßen eingelassenen Messingplatten bedeuten, beginnt Stranger sich mit der jüdischen Geschichte seiner Frau Rikke zu beschäftigen.

"Warum wurde er ermordet, Papa?
"Weil er Jude war. "
"Ja, aber warum?"

Rikke, ist eine Nachfahrin von Hirsch Komissar, der von den Nazis ermordet worden ist. Über 80 Jahre und vier Generationen erstreckt sich der Roman, der ein beredtes Zeugnis einer dunklen Zeit beleuchtet.

Die Geschichte der Familie Komissar ist eng mit der Vita von Henry Oliver Rinnan verknüpft. Rinnan, aus einfachen Verhältnissen, kleinwüchsig, unscheinbar und fies, ist Spitzel der Nazis, schleimt sich bei seinen norwegischen Landsleuten ein und liefert
Widerständler und Juden den Deutschen aus.


Meine Meinung:


„Ich bin kein Jude, ich bin ein Mensch“ - das Menschsein haben die Nazis den Juden mehrfach abgesprochen.

Über die Nazis und ihre Gräueltaten sind schon viele Bücher geschrieben worden. Die meisten beschäftigen sich mit den Schicksalen deutscher Juden. Diesmal liegt der Fokus auf Norwegen, das von 1940 bis 1945 von der deutschen Wehrmacht besetzt war. Um an Mitglieder des norwegischen Widerstands zu kommen, bedient sich die Wehrmacht, wie in allen besetzten Gebieten, einiger Einheimischer wie Rinnan. Ob aus Überzeugung oder „nur“ wegen einer kriminellen Ader, lässt sich nicht ganz herausfinden. Rinnan fühlt sich das erste Mal in seinem Leben bedeutend. Er wird Kopf einer Verbrecherbande, die vor Folter und Mord auch in den eigenen Reihen nicht zurückschreckt.

Autor Simon Stranger verknüpft geschickt Fakten mit Fiktion. Ein interessantes Detail sind die Kapitelüberschriften, die lediglich aus einem Buchstaben des Alphabets bestehen. So steht das A für Antisemitismus, das H für Hirsch oder Hoffnung.

Zuerst wollte der Simon Stranger nur den Namen Hirsch Komissar vor dem Vergessen bewahren, denn die jüdische Tradition glaubt, dass ein Mensch erst dann richtig tot ist, wenn sich keiner mehr an ihn erinnert. Doch dann entdeckt er, dass seine Schwiegermutter Grete Komissar, im „Bandenkloster“ genannten aufgewachsen ist. Es ist das Haus von Henry Oliver Rinnan, der Hirsch und zahlreiche andere Juden denunziert hat. Die Geschichte des Hauses liest sich ebenso spannend wie die Geschichte der Personen.

Während Hirsch 1942 ermordet wird, gelingt seinen Söhnen Gerson und Jacob die Flucht nach Schweden. Gerson wird später Ellen heiraten und in das „Bandenkloster“ einziehen. Während Gerson den Einzug in das Haus eher pragmatisch sieht, da es billig zu haben ist, leidet Ellen unter der gewalttätigen Aura des Gebäudes.

Obwohl es interessant ist, wie aus einem unscheinbaren, nicht beachteten Jungen ein brutaler Verbrecher wird, nimmt die Lebensgeschichte von Rinnan weit mehr Raum in diesem Roman ein, als ihm meiner Ansicht nach zusteht. An manchen Stellen tritt die Familiengeschichte Komissar in den Hintergrund und jene von Rinnan plustert sich ungebührlich auf. Das eine oder andere Mal hat sich bei der Gedanke aufgedrängt, dass aus dem gehänselten, missachteteten Rinnan, also einem Opfer, nichts anderes werden konnte als ein Täter. Denn mit der Unterstützung der Nazis ist sein Name endlich in aller Munde, wenn schon nicht geachtet, so denn gefürchtet.

Der Schreibstil ist dem Thema angemessen: Sachlich, bisweilen, ob der Monströsität der Verbrechen, distanziert wirkend, begeben wir uns mit dem Autor in die wohl dunkelste Zeit der Historie.

Mehrfache Perspektivenwechsel lassen die Erzählstränge deutlich erkennen.

Fazit:

Eine interessante Familiengeschichte, der ich gerne 4 Sterne gebe.

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