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Veröffentlicht am 23.12.2019

Sprachlos

Wolgakinder
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Im kleinen Dorf Gnadental an der Wolga siedeln seit dem 18. Jahrhundert deutsche Einwanderer. Unter ihnen führt Jakob Iwanowitsch Bach ein bescheidenes Leben als etwas schrulliger, aber doch respektierter ...

Im kleinen Dorf Gnadental an der Wolga siedeln seit dem 18. Jahrhundert deutsche Einwanderer. Unter ihnen führt Jakob Iwanowitsch Bach ein bescheidenes Leben als etwas schrulliger, aber doch respektierter Schulmeister. Sobald er die junge Bauerntochter Klara vom anderen Wolgaufer unterrichten soll, verändert sich sein Leben schlagartig, Liebe und Politik prägen fortan sein Leben, auch wenn er sich beidem zu entziehen versucht.

Gusel Jachina zeichnet in ihrem Buch „Wolgakinder“ das ungewöhnliche Leben von Dorflehrer Bach in beeindruckender Weise. Mystisch und bezaubernd werden die Natur und ihre Gewalten dargestellt (z.B. Pos. 65: Um die Dächer fegte der Wind – stürmisch, mit Schnee und Graupel vermischt im Winter, böig, mit Feuchtigkeit und himmlischer Spannung geladen im Frühling, träge und trocken, von Staub und den leichten Flugsamen des Steppengrases durchsetzt im Sommer.); bildhaft sämtliche Alltagsgeschehen dem Leser vor Augen geführt. (z.B. Pos. 70: Die Welt atmete, ratterte, pfiff, muhte, trappelte mit den Hufen, tönte und sang mit vielen Stimmen.).

So begleitet der Leser den ein wenig sonderlichen Bach durch fünf große Lebensabschnitte und bemerkt, dass er so sonderlich gar nicht ist, eher sehr naturverbunden und von Schicksalsschlägen geprägt, besorgt um die wenigen Lieben, die er im Laufe der Zeit um sich hat. Während er sich immer mehr zurückzieht und in die Einsamkeit flüchtet, verändert sich um ihn die Welt. Politische Ereignisse nimmt er nur aus der Distanz wahr; dennoch hat alles Einfluss auf ihn, selbst in seinem abgeschiedenen Gehöft bleibt er von der Revolution und der Gründung der Deutschen Republik an der Wolga nicht unbehelligt.

Virtuos und faszinierend erlebt man als Leser nicht nur die Sprache, mit der Jachina die kleine Welt an der Wolga lebendig werden lässt, auch Bach selbst beherrscht mit seiner Freude an allem Literarischen die Kunst des Erzählens und Fabulierens und wird so in passender Weise zum „stummen Philosophen vom anderen Wolgaufer“, zu einem, der „Sätze häkeln kann, die wie Spitze wirken“ (Pos. 2878). Rasch wird mir der Lehrer in seinem „Anderssein“ vorstellbar und sein Tun verständlich, sein Versuch, vor der Realität zu fliehen und sich eine eigene Welt zu erschaffen, eine Welt, in der die Natur einen das Leben lehrt. Sehr persönlich und ohne Distanz folge ich ihm in sein eigenes Universum, in dem er Schutz und Zuflucht sucht, begleite ihn durch Wahrheit und Traum, durch Angst und Sorglosigkeit.

Wer hier Informationen über das Leben der Deutschen im Wolgagebiet sucht, wird vielleicht enttäuscht sein, wer sich hingegen einlässt auf eine wunderbare Reise mit Jakob Bach und sein Vergnügen findet in einer melodisch anmutenden Sprache, detailverliebten Darstellungen von Natur und hartem Alltag und ganz nebenbei noch ein paar geschichtliche und politische Fakten mitnehmen möchte, der ist bei „Wolgakinder“ richtig.

Dies ist das erste Buch, das ich von Gusel Jachina gelesen habe. Vielleicht ist das der Grund, warum ich völlig frei von jeglicher Erwartung an diesen Roman herangegangen bin und sofort gefesselt war von Sprache und Inhalt. Aus dieser Sicht spreche ich gerne eine Leseempfehlung aus für jene, die das Unerwartete schätzen.

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Veröffentlicht am 15.12.2019

Verwirrspiel

Blumentod
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»Sie dachte an das, was Bozanski ihr für so einen Fall mit auf den Weg gegeben hatte: Schweigen, sie musste eisern schweigen, um die Gemeinschaft zu schützen. ›Zuerst möchte ich dich fragen, ob du mir ...

»Sie dachte an das, was Bozanski ihr für so einen Fall mit auf den Weg gegeben hatte: Schweigen, sie musste eisern schweigen, um die Gemeinschaft zu schützen. ›Zuerst möchte ich dich fragen, ob du mir deinen Namen verraten willst‹, fragte der Polizist. ›Amaryllis‹, hauchte sie. ›Haben die anderen Frauen auf dem Hof auch so schöne Blumennamen?‹ Sie schwieg. Und dann sagte der Kommissar, dass sie auf dem Hof acht tote Frauen gefunden hätten.«

Eine blasse junge Frau in der Ankunftshalle des militärischen Flughafens Köln-Wahn, ein unbeholfener einfacher Friedhofsarbeiter, ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung und eine zurückgezogene Sektengemeinschaft am Hof Weiße Sonne in der Eifel einige Jahre früher. Als ob man drei Bücher parallel lesen würde, kommt es einem zu Beginn vor, welchen Zusammenhang kann es zwischen diesen Handlungssträngen geben, die einen allesamt in ihren Bann ziehen, neugierig machen, die Seiten nur so dahinfliegen lassen?

Sehr raffiniert zeichnet Autorin Maria Langner in knappen Kapiteln ganz unterschiedliche Szenarien, die erst im Laufe der ca. 400 Seiten wie kleine Puzzlestücke zusammengefügt ein komplettes Bild ergeben. Die Spannung wird mit Sehnsucht nach Liebe, Angst und Macht gefüllt, ein Sog reißt den Leser mit bis zum Schluss.

Die einzelnen Figuren, derer es reichlich gibt, sind so unterschiedlich wie interessant. Jede hat ihre eigene Geschichte, ihre Schicksale sind dennoch unausweichlich miteinander verwoben. Durch die sehr unterschiedlichen Erzählweisen im Jetzt und in der Rückblende, in der Ich-Form und aus der neutralen Erzählperspektive, in unterschiedlichen Zeitformen (Präsens, Präteritum, Perfekt) ist jede Szene lebendig und ganz unmittelbar dargestellt. Die Gefühle der vielfältigen Personen werden spürbar vermittelt, auch wenn man nicht immer gleich weiß, woher diese stammen, welche Erlebnisse dafür prägend waren. Umso mehr wird die Leselust angefacht, um all dem auf den Grund zu gehen, den Spuren aus vergangenen Tagen zu folgen.

Bis zum letzten Kapitel gibt es immer wieder Überraschungen, neue Enthüllungen und unerwartete Details. „Beklemmender Psychospannungsroman“ ist daher eine durchaus passende Bezeichnung für dieses Werk von Maria Langner, Pseudonym für Barbara Wendelken.

Von mir gibt es für „Blumentod“ verdiente fünf Sterne und eine klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 06.12.2019

Monster im Rausch

Tod und kein Erbarmen
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Kriminalkommissar Erik Donner möchte sein privates Unglück im Alkohol ertränken und zieht sich dafür in eine Schänke in Pöhla zurück. Dort holt ihn allerdings ein zehn Jahre zurückliegender Vermisstenfall ...


Kriminalkommissar Erik Donner möchte sein privates Unglück im Alkohol ertränken und zieht sich dafür in eine Schänke in Pöhla zurück. Dort holt ihn allerdings ein zehn Jahre zurückliegender Vermisstenfall ein und schon am nächsten Tag wird Donner verdächtigt, die Cousine des damals verschwundenen Mädchens ermordet zu haben.

Mitten im Winter ist dieser Thriller angesiedelt, dichter Schneefall und eisige Fahrbahnen erschweren die Ermittlungen, die verworrener kaum sein könnten. Jäger werden zu Gejagten, Kommissare zu Mordverdächtigen. In lebhafter Sprache vermittelt Elias Haller fantastische Bilder von Winterlandschaften und skurrilen Personen und fesselt von der ersten bis zur letzten Seite mit ungeahnten Wendungen und unerwarteten Handlungssträngen. Immer wieder eingestreut ins aktuelle Geschehen gibt es Rückblenden in die Ereignisse zehn Jahre zuvor, wobei sich langsam einzelne Puzzlestücke zu einem Ganzen zusammenfügen und schlussendlich ein überraschendes Ende auf den Leser wartet.

Wer den schlagfertigen Kommissar Donner und seine teils sonderbaren Kollegen noch nicht kennt, wird begeistert sein vom fesselnden Schreibstil und der konsequent durchdachten Thematik. Ich jedenfalls bin neugierig geworden auf die bisherigen Fälle rund um Erik Donner.

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Veröffentlicht am 27.10.2019

Zwischen Gott und Teufel

Der Lehrmeister (Faustus-Serie 2)
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Nach dem teuflisch guten ersten Teil der Reihe „Faustus“, Der Spielmann, musste ich natürlich sofort zu Band 2, Der Lehrmeister, greifen – und wurde wahrlich nicht enttäuscht:

Sechs Jahre sind vergangen ...

Nach dem teuflisch guten ersten Teil der Reihe „Faustus“, Der Spielmann, musste ich natürlich sofort zu Band 2, Der Lehrmeister, greifen – und wurde wahrlich nicht enttäuscht:

Sechs Jahre sind vergangen seit Johanns abenteuerlicher Flucht aus Nürnberg. Mit seinen beiden Weggefährten Karl und Greta zieht er als Zauberer und Astrologe durch deutsche Lande, einfache Bürger erfreuen sich an ihren Tricksereien, Herzöge und Bischöfe erwarten Rat und Horoskope. Warum aber ruft Papst Leo X. nach Faust? Worauf hat sich Johann nur in seinen jungen Jahren eingelassen und wann holt ihn seine Vergangenheit ein?

In bereits gewohnter Weise fließen historische Gegebenheiten und fiktive Romanelemente übergangslos ineinander und präsentieren dem Leser ein eindrucksvolles Bild des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation im beginnenden 16. Jahrhundert. Während im „Spielmann“ eher Johann als Person im Mittelpunkt steht, reist er diesmal nach Frankreich und Rom, wo politische Gegebenheiten zum Stolperstein werden und Geld und Macht eine wesentliche Rolle spielen. Sehr beeindruckend ist hier auch Fausts Begegnung mit dem großen Künstler und Wissenschaftler Leonardo da Vinci.

Ähnlich wie in Teil 1 sind die 800 Seiten durchwegs spannend und mitreißend, sowohl vom Schreibstil als auch von der Handlung her. Manch unerwartete Wendung überrascht den Leser und lässt ihn gebannt von Kapitel zu Kapitel, von Akt zu Akt, mitfiebern mit den einzelnen Figuren. Wer ist gut, wer ist böse – oder steckt beides in jedem Menschen?

Oliver Pötzsch gelingt es einmal mehr, mit einem fesselnden Werk längst vergangene Zeiten rund um die wissenschaftlich belegte Figur des Johann Georg Faust wieder zum Leben zu erwecken. Obwohl „Der Lehrmeister“ selbstverständlich auch für sich allein gelesen werden kann (der Autor verpackt etliche Querverweise und kurze Erklärungen zu früheren Ereignissen in die Geschichte), so lohnt sich doch die Lektüre von Band 1 davor, um das ganze Lesevergnügen voll auszukosten.

Die phantastische Geschichte wird wiederum ergänzt durch ein sehr interessantes Nachwort und eine weitere informative Reise auf den Spuren Fausts
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Genauso wie beim „Spielmann“ spreche ich hier eine Leseempfehlung aus für alle Freunde von historischen Romanen.

Veröffentlicht am 27.10.2019

Faustus - Der Glückliche?

Der Spielmann (Faustus-Serie 1)
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Um 1480 kommt Johann Georg in Knittlingen zur Welt, einem kleinen Dorf im deutschen Kraichgau. Bereits als kleiner Bub ist er anders als seine Altersgenossen, neugierig und wissbegierig. Seine Mutter nennt ...

Um 1480 kommt Johann Georg in Knittlingen zur Welt, einem kleinen Dorf im deutschen Kraichgau. Bereits als kleiner Bub ist er anders als seine Altersgenossen, neugierig und wissbegierig. Seine Mutter nennt ihn Faustus – der Glückliche.

Als der Spielmann und Magier Tonio del Moravia mit seinen stechend schwarzen Augen durch die Gegend zieht, zeichnet sich immer mehr Johanns Faszination für Wissenschaft und Kunst ab. Bald reist auch der junge Knittlinger durchs Land und saugt förmlich alle verfügbaren Schriften und Weisheiten berühmter Gelehrter auf. Doch wer ist Tonio, der Johann so verzaubert hat und welche Mächte ziehen ihn stetig in ihren Bann?

Das wahre Leben des Johann Georg Faust, Wunderheiler, Magier, Alchemist und Astrologe, ist nicht nur Johann Wolfgang von Goethes Vorlage für seine bekannten Werke Faust I und II, sondern auch für dieses hervorragende Buch von Oliver Pötzsch. Sachlich fundiert mit viel Hintergrundinformation wird Fausts Leben in Romanform geschildert. Auch etliche Zitate von Goethe finden sich im Text.

Die Sprache des Autors ist bildhaft, fesselnd und mitreißend, die knapp 800 Seiten vermitteln ein kurzweiliges Bild von Johann, wie er - getrieben von unsichtbaren Kräften – durch die deutschen Lande bis nach Italien reist, immer auf der Suche nach Austausch mit anderen Forschern und Naturwissenschaftlern. Vor allem von der Kirche verbotene Bücher üben einen besonderen Reiz auf ihn aus.

Neben eindrucksvollen Landschaftsschilderungen erfährt der Leser viel über schwer arbeitende Bauern und Handwerker, Diebe und Wegelagerer, Spielleute und Gaukler. Dazwischen trifft Faust auf wichtige historische Persönlichkeiten wie Conrad Celtis, Agrippa oder den Bamberger Fürstbischof Georg III. Schenk von Limpurg. Interessante geschichtliche Fakten werden geschickt mit spannenden Romanelementen zu einem großen Ganzen verwoben, sodass man dieses Buch gar nicht mehr aus der Hand legen möchte. Die Figuren rund um Faust sind ebenso wie er selbst höchst anschaulich geschildert, der Leser muss förmlich mitfiebern bei all den aufregenden Abenteuern, die wohl nur der Teufel allein Faust gestellt haben kann. Wer ist Faust, wonach sucht er und warum sind Glück und Unglück, Gut und Böse, immer so nah beieinander? Etliche Fragen wirft Oliver Pötzsch auf, die nicht nur in seiner Geschichte selbst, sondern auch in einem sehr ausführlichen Nachwort und einer „Reise auf Fausts Spuren“ eingehend beantwortet werden.

Von Anfang bis zum Ende voller Lebendigkeit und Dramatik präsentiert sich dieser erste Teil der Reihe „Faustus“ von Oliver Pötzsch, den ich somit sehr gerne weiterempfehle für alle Liebhaber historischer Romane.