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Veröffentlicht am 02.11.2019

Bratapfel am Meer

Bratapfel am Meer (Neuauflage)
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„... Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben." (Seite 149)

Die zweiunddreißigjährige Caro arbeitet als Intensivschwester in einer Klinik und übt ihren Beruf mit ...

„... Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben." (Seite 149)

Die zweiunddreißigjährige Caro arbeitet als Intensivschwester in einer Klinik und übt ihren Beruf mit Verantwortung und Engagement aus. Sie verschließt sich den menschlichen Dingen nicht und lässt diese oft zu nah an sich heran. So geht ihr der Tod ihrer Patientin Elfriede Fischermann besonders nahe, hatte ihr diese doch kurz zuvor eine Perlenkette vermacht und sie gebeten, ebenjene zu ihrer großen Liebe nach Juist zu bringen.

Da sie privat noch mit den sich widerstreitenden Gefühlen nach der Trennung von Ehemann Jörn kämpft und es eine Weile dauern wird, bis sie endgültig darüber hinweg ist, von ihm betrogen worden zu sein, kommt ihr die Gelegenheit gerade recht, zum Jahreswechsel für ein paar Tage auf die kleine Nordseeinsel zu reisen, um Elfriedes Wunsch zu erfüllen. Vielleicht bietet sich so außerdem die Gelegenheit, klarer in die Zukunft zu sehen.

Begleitet von den guten Wünschen ihrer besten Freundin Jana fährt sie gemeinsam mit Bobtail Einstein in den Norden und sammelt unterwegs Max ein, der „Irgendwohin“ reisen will. Ihre wage Vermutung festigt sich schnell: Sie ist Max bereits begegnet. Jahre zuvor hatte er Gitarre spielend und singend am Bett seiner sterbende Frau gesessen…


Bereits nach wenigen Seiten schafft es Anne Barns, mit „Bratapfel am Meer“ zu einem Herzensbuch zu werden. Zwar schlägt sie durchaus einige ernste Töne an, würzt diese aber mit einer Prise Humor und verwendet insgesamt einen gelösten Stil, um ihre Geschichte zu erzählen. Ihre warmherzige Schilderung, in der Emotionen nicht zu kurz kommen, gleichwohl niemals Überhand nehmen, nimmt einen nicht nur für das Geschehen und die Helden ein, sondern ebenso für die Insel Juist, die eine kleine, jedoch nicht unwesentliche Nebenrolle erhalten hat. So gelingt es, obwohl Juist lediglich vor dem inneren Auge erscheint, diese mit wunderbaren Beschreibungen in das Geschehen mühelos einzubinden, das Flair der Nordsee, der rauen Brandung und dem eisigen Wind in Zusammenspiel mit seinen Inselbewohnern spürbar werden zu lassen. Hier kennt im Grunde jeder jeden und Nachrichten verbreiten sich innerhalb kürzester Zeit.

Anne Barns Figuren haben einen hohen Identifikationsfaktor und sind aus dem Leben gegriffen. Sie agieren und kommunizieren miteinander, dass es eine Freude ist, sie zu beobachten und an ihrem Leben teilzuhaben. Familie, Liebe und Freundschaft spielen ebenso eine Rolle wie Trennung, Verlust und Trauer.

Nicht nur die Gefühle sind glaubhaft geschildert, die Autorin greift auch die mit der beruflichen Situation von Caro verbundenen Missstände, die die junge Frau sehr belasten, auf, ohne dabei mit der Holzhammermethode vorzugehen.

Neben den zwischenmenschlichen Begegnungen ist die Leidenschaft für das Backen fester Bestandteil des Romans. Und der Leser kann daraus unmittelbaren Nutzen ziehen: Die im Anhang befindlichen Rezepte sind in einem separaten Rezeptbüchlein veröffentlicht worden. (Ich lade euch übrigens herzlich ein, mich beim Ausprobieren eines Backwerkes heute Nachmittag zu begleiten.)

„Bratapfel am Meer“ ist ein Buch der Wohlfühlmomente, das einen in eine kuschelige Wolldecke hüllt und am besten bei Kaminfeuer, Kerzenschein und einer Tasse Tee genossen wird.

"Am Ende ist es immer nur die Liebe, die zählt.“ (Seite 44)

Veröffentlicht am 16.10.2019

Lillian, das Leben und die Männer

Lillian, das Leben und die Männer
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Lillian ist 57, ledig und kinderlos. Eine reife Frau. Eine, die ihr Leben gelebt und für die es noch immer nicht an Reiz verloren hat. Keinesfalls ein trauriges Dasein, sondern vielmehr ein sehr bemerkenswertes. ...

Lillian ist 57, ledig und kinderlos. Eine reife Frau. Eine, die ihr Leben gelebt und für die es noch immer nicht an Reiz verloren hat. Keinesfalls ein trauriges Dasein, sondern vielmehr ein sehr bemerkenswertes. Wir treffen sie in New York, in den Armen ihres verheirateten Liebhabers. Gerade blickt sie zurück auf ihre kühne Vergangenheit voller Abenteuer. Es wird eine Bestandsaufnahme ihres bisherigen Lebens mit all seinen faszinierenden und exotischen Momenten. Vor all denen in den aufregenden Nachkriegsjahren in München, Paris und London...

Als sie Anfang der Dreißiger Jahre geboren wird, scheint es nur eine vorgezeichnete Richtung zu geben. Es ist eindeutig, was Eltern und Gesellschaft von ihr erwarten, und auch Lillian stellt sich zunächst vor, dass sie heiraten und Kinder bekommen wird. Sie vergöttert ihren Vater, hat allerdings eine gespanntere Beziehung zu ihrer Mutter, die immer versucht, ihre Tochter zu verändern, damit sie besser „ins Bild“ passt. Doch die junge Frau hat früh das Gefühl, dass sie alle enttäuschen wird, weil sie sich selbst treu bleiben will. Sie ist nämlich intelligent und unabhängig, heißblütig und sexuell ohne Hemmungen. Im Grunde ihrer Zeit weit voraus.

Der junge Lillian verlässt bald Columbia, ihre kleine Geburtsstadt in Missouri. Die Chance, für einen Schriftsteller zu arbeiten, treibt sie nach Deutschland. Weitere Jobs führen sie durch ganz Europa - und nebenbei in die Arme von unterschiedlichen und interessanten Männern. Einige von Lillians Beziehungen sind nur von kurzer Dauer; andere dauern Jahre an. Michael, Dave, Laszlo, John, Alec, Nigel, Alfred, Willis, Pyam und andere tauchen in der Geschichte auf, und jeder stiehlt ihr Herz für eine Weile. Ganz besonders Ted hält es sehr lange und sehr fest in seinen Händen.


Der Debütroman von Alison Jean Lester „Lillian, das Leben und die Männer“ ist vor allem eines: überraschend originell. Denn die Autorin erzählt hier keine stringente Handlung. Vielmehr setzt sich Lillians Geschichte aus einer Reihe kurzer Essays über bestimmte Themen, ihre unbeirrbaren Beobachtungen und prägnanten Erfahrungen mit Menschen zusammen, die in Verbindung mit ihrem Leben stehen. Es sind ernstzunehmende und ergreifende Reflexionen. Hierbei wird deutlich, dass die Protagonistin Lillian keinesfalls beeindrucken will, sondern eher extrem ehrlich zu sich selbst, vielleicht in Einzelfällen etwas zu großzügig gegenüber anderen ist. Das eine oder andere Mal geht sie den Weg des geringsten Widerstands und vermeidet Konflikte. Möglicherweise hätte sie anderes gehandelt, hätte sie gewusst, wie sich einige Dinge entwickeln. Weshalb es auch Momente gibt, die Lillian traurig stimmen, aber sie hält nicht daran fest und verfällt in Bedauern.

Obwohl Lillian zu Beginn weniger greifbar ist, entwickelt sich im Verlauf der Begegnungen ein Bild von ihr, das zwar nicht frei von Widersprüchen ist, aber eine liebenswerte und beeindruckende Persönlichkeit mit Klarsicht und Einfühlsamkeit offenbart. Ein freier Geist, der sich von Natur aus großzügig zeigt und nicht um moralische Konventionen kümmert. Eine Freundin, auf die Verlass ist.

Die Erzählung evoziert neben den Beschreibungen der Ereignisse eine Emotionstiefe und ein Gefühl der Schärfe. Als sie sich an die Männer erinnert, die mehr oder minder Bedeutung für sie hatten, und wie sie von ihnen behandelt wurde, erkennt Lillian, dass es manchmal einfacher gewesen ist, ihre Bevormundung zu akzeptieren und dann weiterzugehen:

„Etwas zu haben ist besser als nicht zu haben. Manchmal reicht es trotzdem nicht. Meisten sogar. Die Menschen verweigern sich, sie schlafen zu lange. Oder das Leben selbst verweigert sich, das Schicksal. In dem Punkt bin ich mit den Griechen einer Meinung: Die Schicksalsgöttinnen spinnen den Lebensfaden, schlagen nur zum Spaß Knoten hinein und kappen ihn, sobald er ihnen lang genug erscheint. Wann immer jemand sagt, er wollte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, muss ich lachen. Über das Schicksal lässt sich höchstens sagen, dass es einem zustößt. Wer sein Schicksal 'in die eigenen Hände' nimmt, dem war vorherbestimmt, es in die eigenen Hände zu nehmen. Das eine schließt das andere aus.“ (Seite 201)

Veröffentlicht am 15.10.2019

Attacke, Schimmelbacke!

Lenni und Luis 1: Attacke, Schimmelbacke!
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Lenni und Luis sind Zwillinge und sich einig, wenn es darum geht, verwegene Pläne zu schmieden, Streiche auszuhecken, Quatsch zu machen und Chaos zu verbreiten. Ihre große Schwester Paula mögen sie, auch ...

Lenni und Luis sind Zwillinge und sich einig, wenn es darum geht, verwegene Pläne zu schmieden, Streiche auszuhecken, Quatsch zu machen und Chaos zu verbreiten. Ihre große Schwester Paula mögen sie, auch wenn sie in letzter Zeit anstrengend ist. Von wegen Pubertät und so. Aber den Jungen ist klar: Als Max, den Paula verliebt anschmachtet, die Kanzlei ihres Vaters, der hauptsächlich als Strafverteidiger arbeitet, verlässt, muss er ein Schwerverbrecher sein. Und vor dem gilt es Paula zu schützen. Lenni und Luis geben Vollgas...


Autorin Wiebke Rhodius und Illustratorin Sabine Sauter haben mit „Lenni & Luis“ in „Attacke, Schimmelbacke!“ ein Zwillingspaar erschaffen, das nur so vor verrückter Ideen sprüht. Allerdings schießen sie oft über das Ziel hinaus, und dann misslingt das, was sie vorhatten, gründlich. Irgendwie bekommen sie jedoch immer die Kurve.

Das Buch eignet sich wunderbar für die jungen Leser ab acht, denn der Aufbau und die Erzählweise sind altersgerecht und ansprechend gestaltet. Der Schreibstil zeigt sich frisch und pfiffig, kurzweilig und humorvoll, wodurch keine Langeweile entsteht. Geschildert wird die Geschichte von Luis, der im Gegensatz zu seinem eineiigen Bruder Lenni keine Brille trägt. So erlebt der Leser aus erster Hand, was die blitzgescheiten Helden mit ihrer blühenden Fantasie planen und unternehmen, um ihrer Schwester zu helfen. Und obwohl die beiden selbsternannten Retter trotz ihres detektivischen Gespürs auf ihrer Mission so manches Mal scheitern, geben sie nicht auf und halten fest zusammen.

Bis auf den farbigen Einband mit einem Blick durchs Schlüsselloch sind die Illustrationen in schwarz-weiß gehalten und in das Textgeschehen eingebunden. Das unterstreichen dessen Wirkung, ohne im Vordergrund zu stehen. Als Schmankerl gibt es noch ein Glühbirnen-Daumenkino in der unteren Buchecke.

Es macht Spaß, Lenni und Luis auf ihrem Abenteuer zu begleiten, weil sie für ein unterhaltsames Amüsement für Jung und Alt sorgen. Das Gute daran: Der nächste Coup startet bereits im nächsten Jahr auf Klassenfahrt...

Veröffentlicht am 13.10.2019

Melmoth

Melmoth
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„Melmoth“ von Sarah Perry ist von dem erfolgreichen Schauerroman „Melmoth der Wanderer" von Charles Maturin inspiriert. Dieser erschien im Jahr 1820 und stellt einen Mann in den Mittelpunkt, der für 150 ...

„Melmoth“ von Sarah Perry ist von dem erfolgreichen Schauerroman „Melmoth der Wanderer" von Charles Maturin inspiriert. Dieser erschien im Jahr 1820 und stellt einen Mann in den Mittelpunkt, der für 150 Jahre seine Seele dem Teufel verkauft und dann auf der Suche nach jemanden ist, der seinen Platz einnimmt. Bei Sarah Perry ist Melmoth eine Frau, ein mystisches Wesen, das einer unglaublich düsteren und quälenden Dunkelheit verhaftet ist. Denn Melmoth ist Zeugin einiger historischer, wahrlich teuflischer Gräueltaten der Menschheit.

Im Mittelpunkt des Geschehens im Winter des Jahres 2016/2017 steht die in Prag asketisch lebende und als Übersetzerin arbeitende Engländerin Helen Franklin: „Klein, unscheinbar, umweht von einer Traurigkeit, deren Ursache niemand errät; still erfüllt sie ihre Selbstbestrafung, pflichtbewusst, ohne Umschweife und voller Selbsthass.“ Unter ihrem Bett liegt ein grauer Pappkarton, in dem Helens ganzes Dasein auf dreißig mal zwanzig Zentimetern verstaut ist, so tief vergraben wie unter englischer Erde, begonnen vor zweiundvierzig Jahren in Essex in einem Haus mit Rauputzfassade und zweiundzwanzig Jahre später durch einen reinen Willensakt beendet. Er stammt aus einer Zeit, in der Helen wirklich lebendig war. Alles davor ist nur Prolog, alles danach eine Randnotiz gewesen.

Trotzdem sie sich Vergnügen und Kameradschaft widersetzt, findet sie einen Freund: Dr. Karel Pražan. Durch ihn macht sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Mythos der Melmoth, Melmotte oder Melmotka, wie sie in Prag genannt wird, einer Frau, die dazu verdammt ist, auf nackten, blutigen Füßen die Welt zu durchstreifen, um Zeugnis abzulegen von der Gewalt und Grausamkeit der Menschheit und auf der Suche nach denjenigen, die in die Abgründe des Elends geraten sind.

„Sie ist einsam. Ihre Einsamkeit ist uferlos und wird erst enden, wenn die Welt untergeht und Melmoth Vergebung erfährt. Sie erscheint den Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens, und nur die Erwählten spüren ihren Blick. Sie heben den Kopf, und plötzlich steht die Zeugin vor ihnen. Angeblich streckt sie dann die Arme aus und sagt: Nimm meine Hand! Ich war so einsam!“

Melmoth scheint Menschen zu mögen, die etwas zu verbergen haben. Wie Helen.

Nach dem Verschwinden von Karel hinterlässt er ihr nicht nur seine Besessenheit von Melmoth, sondern auch ein Manuskript, das eine Sammlung primärer historischer Quellen enthält, die auf besondere Art Melmoth darstellen. Jene vielfältige Texte bieten ein klares und sorgfältiges, gleichwohl erschreckend erschütterndes Zeugnis: Da ist der tschechoslowakische Junge, der aus Unverständnis und Langeweile versagt und Schuld auf sich lädt, als er seine Nachbarn, eine jüdische Familie, denunziert. Wir erfahren von einem Bettler, dessen Arbeit als türkischer Beamter den Völkermord an den Armeniern 1915 begünstigt und einem Engländer, der sich im 17. Jahrhundert an der Verfolgung der Katholiken beteiligt. Und wir lernen eine junge Frau kennen, deren Körper durch eine Säureattentat ihres eifersüchtigen Freundes verbrannt wurde und sich nichts sehnlicher wünscht, als von ihrem qualvollen Leiden erlöst zu werden.

Sarah Perrys Prosa ist üppig, malerisch und anspruchsvoll. Mit Scharfsinn und durchaus unheimlich anmutenden Bildern wie schwarzen Dohlen gelingt ihr die Verdichtung der detaillierten Ereignisse und die atmosphärische Einbindung des Lesers, der zudem immer wieder direkt angesprochen wird.

Die Autorin formuliert ethische und philosophische Fragen, beispielsweise nach dem Unterschied zwischen dem, was gut, richtig oder gesetzmäßig ist. Lassen wir uns nicht zu sehr von Äußerlichkeiten ablenken, weil wir das Innere nicht kennen? Was sind unsere Pflichten in der Gemeinschaft? Reicht es aus, zu wissen und Zeugnis abzulegen, oder sind wir miteinander verbunden und involviert, so dass dies aktive Reaktionen hervorrufen muss? Sollten wir dem Wunsch nach Verdrängung, auch in Momenten der Schuld nachgeben oder Verantwortung übernehmen und uns das Gefühl von Anstand und Hoffnung auch im tiefsten Dunkel erhalten? Sarah Perry hat eine Antwort hierfür:

"Wir sind ganz allein, deswegen müssen wir tun, was Melmoth tun würde: Wir müssen hinsehen und bezeugen, was nicht in Vergessenheit geraten darf."

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Veröffentlicht am 12.09.2019

Dunkelsommer

Dunkelsommer
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„Es war das Licht, die Art, wie es stach und brannte und an ihm zerrte. Es legte sich über die Wälder und Seen wie eine Aufforderung weiterzuatmen, wie ein Versprechen auf ein neues Leben. Das Licht füllte ...

„Es war das Licht, die Art, wie es stach und brannte und an ihm zerrte. Es legte sich über die Wälder und Seen wie eine Aufforderung weiterzuatmen, wie ein Versprechen auf ein neues Leben. Das Licht füllte seine Adern mit Unruhe und raubte ihm den Schlaf.“ (Seite 9)

In einem abgelegenen Teil Nordschwedens verschwand vor drei Jahren Lina, die Tochter des Lehrers Lelle. Mit diesem Verlust kann sich Lelle im Gegensatz zu seiner Frau Anette nicht abfinden. Inzwischen ist seine Ehe zerbrochen. Lelle hadert mit Schuldgefühle, zieht sich von den Menschen zurück und fährt, statt soziale Kontakte zu pflegen, einsam jeden Sommer im Licht der nicht untergehenden Mitternachtssonne jene Straße - Silvervägen - entlang, wo er Lina an einer Haltestelle der einzigen Buslinie absetzte und sie zuletzt sah.

Meja, siebzehn und damit so alt wie Lina damals, ist ebenfalls allein. Nach langen Jahren des Umherziehens kommt sie mit ihrer Mutter Silje, die sich bei ihrer Internetbekanntschaft Torbjörn ein sorgenfreies Heim erhofft, nach Glimmersträsk in Norrland. Das junge Mädchen wünscht sich einen Neuanfang, endlich ein eigenes Zimmer und einen Ort, an dem sie Zuhause sein kann, ohne sich um ihre Mutter kümmern und vor anderen verstecken zu müssen.

Doch die Träume erfüllen sich nicht vollständig, die Sicherheit erweist sich als trügerisch. Silje kann nicht aus ihrer Haut. Erst die Begegnung mit Carl-Johan und seiner autark lebenden Familie auf einem Hof mitten im Wald gibt Meja Mut, mit Optimismus vorauszuschauen, all die Sorgen hinter sich zu lassen.

Als ein weiteres Mädchen verschwindet, reißen alte Wunden auf, und diese bringen neue Unruhe in das Leben von Lelle und Meja, die sich im Herbst bei Schulbeginn als Lehrer und Schülerin begegnen.


Mit ihrem Debüt „Dunkelsommer“ ist Stina Jackson ein psychologischer Spannungsroman gelungen, der zwar Verbrechen beinhaltet, allerdings keine traditionelle Aufklärung, und der durch seine düstere bedrückende Atmosphäre besticht. Er zieht seine Kraft aus den friedvollen einprägsamen Naturbeschreibungen und lebt von einer ruhigen poetischen Bildsprache. Diese erzeugt eine schwermütige Stimmung, die glaubwürdig zur Thematik passt und zu keinem Zeitpunkt enttäuscht.

„Dunkelsommer“ präsentiert ein in seiner Dramatik unangenehmes und berührendes Geschehen, schaut in die Abgründe des Bösen, offenbart das Gute und ist ein Wechselbad der Gefühle, angefüllt mit Ängsten, Trauer, Hoffnung und gleichzeitig hypnotischer Dunkelheit im Lichte des Mittsommers, die besonders im letzten Teil an Bedrohlichkeit zunimmt und durchaus Gänsehautmomente verursacht.

Nicht nur äußerlich sind die Einwohner der wenigen Orte hier im nördlichen Lappland isoliert. Die Silvervägen erstreckt sich über viele Kilometer durch meist menschenleere Gebiete, vorbei an beeindruckenden Landschaften, Flüssen und Seen. Stina Jackson lässt verschiedene Lebensmodelle aufeinandertreffen, bei ihr existieren Menschen am Rand der Gesellschaft, auch jene, die nicht dazugehören (wollen). Die einen haben die Familie verloren, die anderen stellen die Familie bis zur Besessenheit in den Vordergrund, und dann gibt es noch diejenigen mit Familie, aber ohne haltende Bindung.

Daneben wird die innere Vereinsamung greifbar. So bewältigt die Autorin mühelos die Aufgabe, die Empfindungen ihrer Protagonisten mit Tiefe darzustellen und den Leser emotional durch kleine subtile Mittel und Gesten zu erreichen. Denn „Dunkelsommer“ profitiert hauptsächlich von seinen komplexen Charakteren, vor allem Lelle und Meja, aus deren wechselnder Perspektive die Geschichte erzählt wird. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und haben doch einiges gemeinsam.

Allein die Suche nach Lina ist das, was Lelle noch interessiert, getrieben von einer verzweifelten Hoffnung, wenigsten eine Spur von ihr zu finden, um abschließen zu können. Das Einzige, was er dabei entdeckt, ist seine Einsamkeit und die Erkenntnis, wie viel es davon überall gibt. Und Lelle ist wütend. Wütend über die Unbeholfenheit der Menschen, über ihre verängstigten und unsicheren Blicke. Wütend darüber, dass sie nichts wissen, dass sie ihm nicht helfen können und alle ihre Leben fortsetzen.

Auch Meja ist einsam und führt einen scheinbar aussichtslosen Kampf gegen ihre psychisch instabile Mutter, die Tabletten und Alkohol braucht, um den Tag zu überstehen, nur die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt ihres Daseins stellt und wenig Gedanken an die Tochter verschwendet, zugleich jedoch alles an Verantwortung auf Meja überträgt.

Als Meja Carl-Johan kennenlernt, sich verliebt und zu ihm zieht, nimmt seine Familie sie auf, so dass das junge Mädchen zum ersten Mal etwas wie Zugehörigkeit empfindet. Sie akzeptiert, dass sich die Familie von den Gesellschaft fernhält, ja diese und moderne Technik ablehnt, sich selbst versorgt und damit beschäftigt ist, sich auf eine mögliche Katastrophe vorzubereiten. Meja verzichtet auf ihr Mobiltelefon und verspürt endlich die Kraft, anders zu werden als ihre Mutter. Sie will sie selbst werden. Aber es ist fraglich, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hat, dies wirklich zu erreichen.

Zwei Menschen, die auf der Suche sind, die hoffen und bangen, die jeder ein Ziel haben. „Dunkelsommer“ sieht unter die Oberfläche und beeindruckt mit einem Blick in das Innere…