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Veröffentlicht am 08.02.2020

Eine Leerstelle, die neu gefüllt werden muss

Nach Mattias
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„Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es ein Buch über Trauer ist. Jemand ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich finde, es ist viel ...

„Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es ein Buch über Trauer ist. Jemand ist gestorben, und die Hinterbliebenen müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Aber ich finde, es ist viel mehr als das.“

Inhalt

So beschreibt der niederländische Autor Peter Zantingh seinen Text im Nachwort, der sich mit dem Leben der Bekannten, Freunde und Familie des jung verstorbenen Mattias beschäftigt, welche nach dessen Tod allein zurechtkommen müssen. Zunächst wäre da Amber, Mattias Freundin, die gerade an seinem Todestag im Streit mit ihm auseinandergegangen ist, oder Quentin sein Freund, mit dem er eigentlich in nächster Zeit eine Art Musikcafé eröffnen wollte. Und es folgen noch viele andere, die kurze, lange, intime oder oberflächliche Geschichten über den Verstorbenen erzählen, weil sie sein Leben in irgendeiner Weise berührt haben. Dadurch entsteht ein buntes Kaleidoskop an Einzelerzählungen, die sich ganz klar an der Zukunft orientieren, denn irgendwie muss das Leben nach Mattias weitergehen und das, was ihn ausmachte ist ohnehin tief im Herzen verankert, so dass sein Wirken zu Lebzeiten als Anlass genommen wird, die Zeit ohne ihn ein bisschen zu seiner Freude zu gestalten, vielleicht sogar nach seinem Willen.

Meinung

Am besten haben mir die Erinnerungen an Mattias gefallen, die alle Beteiligten aufleben lassen und die in ihrer Gesamtheit den Verstorbenen wieder lebendig machen, zumindest für den Leser. Es hat jeder ein etwas verschobenes Bild, oder besser gesagt, genau das, was Mattias demjenigen gegenüber preisgegeben hat. So trauert die Mutter um den Sohn, mit dem sie intensiv dessen Kindheit teilte, nicht jedoch sein Erwachsenenleben und die Freundin hadert mit seinen hochmotivierten Plänen und Luftgespinsten, die er nur selten verwirklichen konnte. Während der Freund merkt, dass ohne Mattias die Luft raus ist und der Motivator fehlt. Das alles ist empathisch, realistisch und lebensnah beschrieben.

Dennoch kann dieses Buch nicht ganz mein Herz erreichen, weil es mir für die Thematik zu leichtfüßig geschrieben ist und die Trauer der Hinterbliebenen nur einen ganz geringen Anteil ausmacht. Ich hätte mir gerne mehr Schwermut und auch einen intensiveren Blick in die Vergangenheit gewünscht. Dabei muss ich sagen, dass mir das Interview am Ende des Buches durchaus Verständnis gebracht hat, denn Peter Zantingh beschreibt sehr gut, worum es ihm bei seiner schriftstellerischen Arbeit ging. Er fragt sich z.B. welche Leerräume entstehen in Raum und Zeit, wenn man verstorben ist und wer oder was wird diese wieder füllen. Und genau dieses Bild hat er auch entworfen, es ist der Blick in die Zukunft mehrere Menschen, die wieder aufstehen, weitermachen und ihr Leben „nach Mattias“ gestalten.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen lebensbejahenden Roman nach dem Verlust eines geliebten Menschen. Ein Blick in die nahe und ferne Zukunft, in Folge eines persönlichen Schicksalsschlags, der ganz plötzlich das Leben in eine andere Bahn gelenkt hat. Es ist kein echter Text über Trauer und Verlust in seiner reinen Form, es ist kein schweres, belastendes Buch über einen geliebten Menschen und dem Abschied von ihm. Dadurch trifft es nicht ganz meine Erwartungshaltung, doch im Nachhinein ist es nur ein anderer Blickwinkel, der hier eingenommen wird und wenn man sich der Perspektive des Autors anschließt ist es ein wunderbares, hoffnungsfrohes Buch, welches zeigt, wie wichtig vielschichtige Beziehungsgeflechte zwischen Menschen sind und das die Lücke, die ein Einzelner hinterlässt zwar geschlossen werden kann, doch die Erinnerung an ihn bleibt lebendig.

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Veröffentlicht am 18.01.2020

Zurückgeworfen auf die pure Existenz

Die Wand
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„Ich bin noch lange nicht in Sicherheit. Sie können jeden Tag zurückkommen und mich holen. Es werden Fremde sein, die eine Fremde finden werden. Wir werden einander nichts mehr zu sagen haben. Es wäre ...

„Ich bin noch lange nicht in Sicherheit. Sie können jeden Tag zurückkommen und mich holen. Es werden Fremde sein, die eine Fremde finden werden. Wir werden einander nichts mehr zu sagen haben. Es wäre besser für mich, sie kämen nie.“

Inhalt

Die namenlose Ich-Erzählerin wollte ursprünglich mit ihrer Kusine und deren Mann einen Ausflug in die Berge machen, wo ihre Bekannten eine gemütliche Jagdhütte haben. Doch nach einem Abstecher ins nahe gelegene Dorf, kehren die beiden nicht zurück. Am nächsten Tag beschließt die Frau sich auf die Suche nach ihnen zu machen, stößt aber auf eine durchsichtige Wand, die keine Öffnung und anscheinend auch kein Ende besitzt. Fortan sitzt sie in der Jagdhütte fest, mutterseelenallein und vollkommen auf sich gestellt. Und während sie zunächst noch auf Rettung hofft, lesen wir hier ihren Tatsachenbericht, den sie in den vergangenen zwei Jahren verfasst hat, solange, wie sie noch Papier zur Verfügung hatte …

Meinung

Aufmerksam bin ich auf dieses Buch geworden, nachdem ich zahlreiche positive Lesermeinungen darüber zur Kenntnis genommen habe und da es sich nicht ausschließlich um eine düstere Dystopie zu handeln schien (die lese ich eher ungern), wollte ich diesen Bericht gerne selbst entdecken.

Nach der Lektüre bin ich immer noch etwas zwiegespalten, denn Marlen Haushofer schafft einerseits einen dynamischen, beängstigenden Ausnahmeroman, den man unbedingt gelesen haben sollte, präsentiert andererseits aber eine minimalistische Handlung mit zahlreichen Wiederholungen und für mich schwer nachvollziehbaren Entwicklungen. Leider muss ich sagen, dass ich die meisten Probleme mit der Hauptprotagonistin und ihren Denkweisen hatte, die ich wirklich nur mit viel Geduld ertragen konnte. Denn anders als ursprünglich von mir erwartet, arrangiert sie sich ausgesprochen gut mit ihrem auferlegten Schicksal und findet an ihrem auf die Grundbedürfnisse reduzierten Leben nach gewisser Zeit sogar Gefallen. Mit Bedacht und Ruhe richtet sie sich in ihrem neuen „Zuhause“ ein und stellt ihren Alltag fortan auf die Bedürfnisse der ihr anvertrauten Tiere ein. Ein Hund, eine trächtige Kuh und eine zugelaufene Katze sind ihre einzigen Begleiter in der ansonsten still gewordenen Bergwelt und letztlich auch eine wichtige Nahrungsgrundlage, die es zu pflegen gilt.

Nachdenken möchte sie eigentlich ungern und lässt sich nur hin und wieder, manchmal mitten in der Nacht oder in der spärlichen Zeit mit Müßiggang dazu hinreißen, über ihre Vergangenheit zu grübeln bzw. sich ihre Zukunft auszumalen. Und genau in diesen wenigen Momenten gelingt es der Autorin ganz existenzielle Fragen über den Sinn des Lebens, die Beschränkungen des normalen Alltags und die menschlichen Verfehlungen zu stellen – und immer dann, fand ich die Gedankengänge einfach nur grandios und habe viel über den Text und das Gelesene nachgedacht. Ich glaube, wer sich mit dem Gedankengang, irgendwo ganz allein gestrandet zu sein auseinandersetzt, bleibt fasziniert an den Aufzeichnungen hängen, schon allein weil sich in jeder kleinen Szene das unausweichliche Schicksal des Menschen und seines Daseins offenbart – zurückgeworfen auf die pure Existenz, verliert fast alles, was im normalen Alltag wichtig erscheint an Bedeutung.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen äußerst einprägsamen, stillen wie intensiven Roman über ein Leben jenseits der Zivilisation. Definitiv eine Lektüre, die Spuren hinterlässt und sich bestens für Gedankenspiele und Diskussionsrunden eignet. Zum Lieblingsbuch reicht es bei mir leider nicht, dafür fehlte es mir an greifbaren Entwicklungen und einer Parallele zwischen dem Text und dem Leben selbst. Auch die Hintergründe, warum diese Mauer existiert, welchen Zweck sie erfüllt und wieso alles so gekommen ist, lässt die Autorin im Dunkeln – man kann sich diverse Möglichkeiten überlegen, aber geklärt wird keine davon. Außerdem haben mich die depressive Gesamtsituation und die düsteren Prognosen nicht so ganz erreicht, gerade weil es mir nicht gelungen ist, der Frau in der Wildnis emotional näher zu kommen. Trotzdem hat mich dieses kleine Büchlein mit all seinen Denkmustern bewegt, wie es manch 500 Seiten Roman nicht schafft, deshalb kann ich eine klare Leseempfehlung aussprechen.

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Veröffentlicht am 14.01.2020

Viel ist geschehen, noch Schlimmeres wird kommen

1794
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„So ist das Leben. Alles, was hilft, hat gleichzeitig einen Haken, und jeder Weg, der einfach erscheint, ist voller Tücken. Das Leben ist der reinste Irrgarten.“

Inhalt

Jean Michael Cardell ...

„So ist das Leben. Alles, was hilft, hat gleichzeitig einen Haken, und jeder Weg, der einfach erscheint, ist voller Tücken. Das Leben ist der reinste Irrgarten.“

Inhalt

Jean Michael Cardell wird erneut in einen Fall hineingezogen, der wenig Aussicht auf Erfolg verheißt. Eine junge Frau wurde in der Hochzeitsnacht brutal ermordet, die offizielle Verlautbarung geht jedoch von einem Angriff einer Wolfsherde aus, die allerdings jahrzehntelang nicht mehr in den schwedischen Wäldern gesichtet wurden. Der junge Bräutigam, ist mittlerweile ins Irrenhaus eingeliefert, weil er sich selbst die Schuld am Tod seiner Geliebten gibt, obwohl er sich an nichts mehr erinnern kann. Cardell, der Häscher mit dem Holzarm begibt sich in seinem zweiten Fall gemeinsam mit Emil Winge, dem jüngeren Bruder seines verstorbenen Kumpans auf Spurensuche in die dunklen, verruchten Gassen der Stadt. Bald hat das Duo eine mögliche Verbindung zwischen dem mutmaßlichen Täter und seinem gesetzlichen Vormund aufgedeckt, die den Fall in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt, doch ihnen sind die Hände gebunden. Denn wenn die Bösen Unterstützung von ganz oben haben und sich bei ihnen das Geld häuft, was anderen zum Leben fehlt, werden die Rufe nach Vergeltung und Gerechtigkeit immer stiller und verstummen bald ganz …

Meinung

Der schwedische Bestsellerautor Niklas Natt och Dag hat bereits für seinen Debütroman „1793“ den Schwedischen Krimpreis erhalten und setzt seine Reihe um das Ermittlerduo Cardell-Winge nun fort. Da ich den ersten Band nicht gelesen habe, fehlen mir einige Zusammenhänge, was sich jedoch im Verlauf der Geschichte nicht dramatisch äußert, denn selbst ohne Vorkenntnisse kann man viele Dinge erschließen, zumal es sich bei der Familie Winge um Geschwister handelt und Band 1 mit dem älteren Bruder besetzt ist, während Band 2 den Jüngeren mit ins Boot holt.


Für mich ist „1794“ in erster Linie ein abwechslungsreicher Unterhaltungsroman, der sich sowohl an die historischen Hintergründe hält als auch kriminalistische Aspekte aufgreift. Für einen „echten“ Krimi fehlte es mir jedoch an Spannungselementen, insbesondere, was das Verbrechen anbelangt und für einen reinen Historienschmöker fehlt dann doch der Realitätsbezug – deshalb macht dieser Genremix zwar durchaus Spaß, spielt aber nicht in meiner persönlichen Höchstliga mit. Herausragend sind die Eindrücke und Szenarien, die der Autor bis ins kleinste Detail entwirft – gerade die Umgebung mit all dem Leid, Dreck und Verruchtsein der damaligen Zeit, entfaltet sich wie ein bunter Teppich vor dem Leser und drängt ihm viele unschöne aber eindringliche Bilder auf. Während des Lesens ist mir klar geworden, dass mich hier eine Verfilmung sicherlich noch mehr ansprechen würde als die literarische Vorlage, allein weil dort die Eindrücke viel kompakter und noch erschreckender wirken könnten.


Inhaltlich agiert der Autor auf verschiedenen Zeitebenen und wechselt auch die Erzählperspektiven – beides jedoch sehr gekonnt, so dass man immer genau weiß, was zu welchem Zeitpunkt geschah. Der Leser kann wunderbar eintauchen in die damalige Zeit, in die Gewalttaten, die ärmlichen Lebensumstände, die vergebliche Liebesmüh einen korrupten Staat zu Fall zu bringen und die bittere Realität der einfachen Bevölkerung. Aus den genannten Gründen erschließt sich für mich auch das unterhaltsame Leseerlebnis, während der Kern der Geschichte letztlich sehr bedeutungslos erscheint und auch nicht lange in Erinnerung bleiben wird.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen Fortsetzungsroman, der ein interessanter Genremix aus Historienspektakel und Kriminalfall ist und mich auf seinen gut 500 Seiten in eine andere Zeit entführt hat. Generell kann ich noch nicht sagen, ob ich diese Reihe fortsetzen werde (sofern es einen dritten Band geben sollte), weil mich die Erzählung in ihrer Gesamtheit eher weniger anspricht. Wie so oft bei „dicken“ Büchern habe ich das Gefühl, man hätte den Text auch gezielter zum Ausdruck bringen können und alles Wichtige identisch und komprimiert auf weniger Papier ausdrücken können – für einen Unterhaltungsroman, bei dem man einfach mal die Zuschauerperspektive einnehmen möchte, ist diese Geschichte allerdings bestens geeignet und sehr ansprechend verfasst.

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Veröffentlicht am 09.12.2019

Die Wahrheit ist die Lüge, an die du glaubst

Das Erbe
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„Es fiel mir leichter, davon zu träumen, dass ein Leben als Familie wieder vorstellbar wäre, als das Risiko einzugehen, diesen Traum aufgeben zu müssen.“

Inhalt

Für Wolf ist der Begriff Familie etwas ...

„Es fiel mir leichter, davon zu träumen, dass ein Leben als Familie wieder vorstellbar wäre, als das Risiko einzugehen, diesen Traum aufgeben zu müssen.“

Inhalt

Für Wolf ist der Begriff Familie etwas sehr Unbestimmtes, denn seine Mutter hat ihm nicht nur eine Krankheit angedichtet, sie hat sich, nachdem sein Stiefvater die Lüge aufgedeckt hat, sogar das Leben genommen. Nun wächst Wolf bei seinem Großvater auf, während sein Halbbruder gemeinsam mit dem Stiefvater das Land verlässt. Diese frühzeitige Prägung begleitet den Heranwachsenden wie ein dunkler Schatten und er merkt, dass er zu normalen sozialen Bindungen nur begrenzt fähig ist, denn Menschen machen ihm Angst. Nur bei seiner Freundin Lina findet er Unterstützung und etwas später auch die große Liebe. Vollkommen unerwartet tritt wenig später der verschollene jüngere Bruder Freddy in sein Leben und erzählt von seiner ebenso schwierigen und gewaltbehafteten Kindheit in der Fremde. Für Wolf ist klar, diesmal will er es besser machen und für seinen Blutsverwanden da sein. Aber Freddy bleibt undurchschaubar, er verschwindet und taucht wieder auf, gerade so wie es ihm beliebt. Er lebt an der Grenze zur Kriminalität und lässt sich nicht in die Karten schauen. Letztlich freut sich Wolf, dass Freddy wieder seiner Wege geht. Doch als er nach Jahren erneut auftaucht und ominöse Todesanzeigen verschickt, fühlt sich Wolf mit seiner Familie bedroht und auch die Ehe scheint dem bedrohlichen Außenstehenden nicht gewachsen zu sein …

Meinung

Allein die Kurzbeschreibung des Verlages, und die Andeutung der Handlung erschienen mir äußerst reizvoll, gerade wenn es einmal nicht um das finanzielle Erbe einer Familie geht, sondern das mentale, so bin ich direkt dabei. Da es sich bei dem Autor oder der Autorin R.R. Sul um ein Pseudonym handelt, kann man nur spekulieren, warum er oder sie unentdeckt bleiben möchte - mir ist es eigentlich einerlei, Hauptsache der Inhalt stimmt. Und ganz so sah es aus, nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte.

Wolf, der Hauptprotagonist verfügt über eine ausgesprochen eingängige Erzählstimme, die ihn sofort irgendwie sympathisch macht, obwohl sich bald herausstellt, dass seine Psyche mehrfach angeknackst ist. Alles was er rückwirkend beleuchtet, und wie im Vorwort angedeutet, seinem Enkelsohn hinterlassen möchte, ist ein authentischer Abriss über sein Leben, mit vielen dunklen Flecken auf der Familiengeschichte und zahlreichen persönlichen Verfehlungen. Absolut treffsicher ist das Verhältnis zwischen familiärer Verantwortung und Distanz beschrieben. Die ständige Stimme im Hinterkopf, die ihn müßigt, nochmals Kontakt zu suchen, sich nicht einfach abwimmeln zu lassen und letztlich doch eine Entscheidung gegen einen Menschen und für eine Sache zu treffen – all das lässt sich wunderbar nachvollziehen und intensiv erörtern.

Dennoch entwickelt sich der Text für mich zu einer Art Gedankenexperiment, dem es im Verlauf immer mehr an Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe fehlt. Spätestens als die Schuldfrage in Verbindung mit unterschwelliger Manipulation immer mehr in den Vordergrund rückt, habe ich mich innerlich von dem Text abgewandt, obwohl er immer noch eine äußerst mitreißende Erzählung darstellt. Das größte Manko dieses Buches ist das Fehlen einer konkreten Aussage, und sein es auch nur ein greifbarer Höhepunkt. Weder die Personenkonstellation noch der Lauf der Zeit bringen ein Ergebnis hervor, alle Schilderungen sind lediglich Episoden auf einem langen Weg, dessen Ende weder der Tod noch das Leben sind. Mit viel Phantasie kann man sich auch den langsamen Verfall eines Mannes vorstellen, den das Leben gebeutelt hat und der immer nur nach Schuldigen sucht, selbst aber nicht in der Lage ist, klare Grenzen zu ziehen. Ein Mann, der zum Spielball anderer wird, sich dessen durchaus bewusst ist und trotzdem nicht aus seiner Haut kann. Leider bleiben auch diese Gedanken stecken, weil es mir nicht möglich war, folgerichtige Schlüsse zu ziehen.

Fazit

Für diesen unterhaltsamen, sehr spannenden Roman über Abhängigkeiten und Randexistenzen, Familienbande und das schwere Erbe einer belasteten Kindheit vergebe ich gute 4 Lesesterne. Wenn es dem Leser gelingt, über die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt hinwegzusehen, dann kann er auch mit dem offenen Ende umgehen, wenn nicht, dann folgt spätestens dort die Enttäuschung. Schreibtechnisch und inhaltlich ist die Thematik unverbraucht und bringt nicht nur Unterhaltung, sondern setzt auch das Gedankenkarussell in Bewegung. Gerade die existenziellen Fragen, die immer wieder auftauchen, animieren zum Grübeln. Sehr oft habe ich mich gefragt, wie ich in der entsprechenden Situation reagiert hätte und was genau den Protagonisten eigentlich so zusetzt – wirklich schlau geworden bin ich aber bis zum Ende nicht.

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Veröffentlicht am 26.11.2019

Gelernt, im Verborgenen zu leben

Winterbienen
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„Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden.“

Inhalt

Egidius Arimond war einst Lateinlehrer, ...

„Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden.“

Inhalt

Egidius Arimond war einst Lateinlehrer, doch zu Beginn des Jahres 1944 kommt auch der Krieg in seinen kleinen Heimatort in der Eifel und schon lange ist das öffentliche Leben lahmgelegt und jeder bemüht sich, ein klein wenig Alltag aus der Vorkriegszeit zu bewahren. Egidius ist immer noch passionierter Bienenzüchter, wie einst seine Vorfahren. Doch anders als diese verdingt er sich auch als Schleuser, indem er Flüchtlinge in präparierten Bienenstöcken über die Grenze transportiert, um damit seine teuren Medikamente zu finanzieren. Als Epileptiker ist er auf regelmäßige Medikamentenzufuhr angewiesen und der ortsansässige Apotheker beäugt ihn ohnehin misstrauisch, denn jeder, der nicht an der Front fürs Vaterland kämpft, sondern daheimgeblieben ist, gilt fast als Vaterlandsverräter und wer immer wieder Anfälle hat und trotzdem mit den hübschen Frauen verkehrt, macht sich umso verdächtiger. Und während Egidius verzweifelt hofft, dass seine Notration bis Kriegsende reicht, fliegen die feindlichen Bomber immer tiefer über den Köpfen der Menschen …

Meinung

Dieser Roman aus der Feder des deutschen Autors Norbert Scheuer, hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 geschafft und beschäftigt sich mit den letzten Kriegsjahren aus Sicht eines Außenseiters, der nichts weiter möchte, als in Frieden zu leben und sein bescheidenes Dasein zu führen.

Doch die Zeit, in der er lebt, lässt keinen unbehelligt, sie fordert Opfer an allen Fronten, nicht nur in den ersten Reihen, sondern auch weit im Hinterland, wo man hoffen konnte, nicht ins Visier zu geraten, sich den Kriegswirren zu entziehen und vielleicht ein klein wenig Freude an der Unbeirrbarkeit der Natur zu finden. Und so spitzt sich die Überlebenschance für den Bienenzüchter immer weiter zu, denn seine Krankheit lähmt ihn, sie geißelt sein Bewusstsein und macht ihn abhängig von der Reaktion anderer.

Diese Ausweglosigkeit nicht nur aus dem Kriegsgeschehen heraus, sondern vielmehr wegen der persönlichen Gesundheit wird hier erschreckend deutlich. Allein die differenzierten Tagebucheinträge des Protagonisten, der anfangs noch Zeit findet, sich um die Familienchronik zu kümmern, später verzweifelt nach den Notizen seiner Auftraggeber Ausschau hält, um zuletzt den Apotheker um Gnade anzuflehen, bringen den Zustand und Verfall der bürgerlichen Welt in vollem Umfang zum Ausdruck.

Dieser Roman lebt von den Worten zwischen den Zeilen, er schlägt stille Töne an, baut auch eine gewisse Distanz auf und hält sämtliche Emotionen flach – all das passt durchaus zusammen, auch wenn ich mir persönlich gerne mehr Nähe zu Egidius und seinem Leben erhofft hätte. Doch seine Maxime lautet: nur weil ich gelernt habe, im Verborgenen zu leben, ist es mir überhaupt möglich so lange überlebt zu haben.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen facettenreichen, interessanten Roman, der sich sowohl der Bienenzucht als auch den Schrecken des 2. Weltkrieges widmet und nicht zuletzt die Bedrohungen einer chronischen Erkrankung in Notzeiten heraufbeschwört. Ein buntes Potpourri an Beschränkungen umgibt hier die Erzählung, führt sachlich und strikt durch die Begrenzungen einer verheerenden Epoche und widmet sich intensiv dem Überlebenswillen aller, angesichts der Kriegszerstörungen in unmittelbarer Nähe.

Wäre die Handlung etwas spannender und komprimierter in Erscheinung getreten, dann hätte mir dieser Roman sicherlich noch besser gefallen. Manchmal waren mir die Episoden aus der Vergangenheit zu langatmig und die Wirkung aller Bienen im Bienenstock mit ihren zahlreichen Aufgaben zu mühsam, während die Flüchtlinge im Bienenkorb eher unscheinbar blieben. Insgesamt jedoch ein Lesevergnügen für alle, die eine ungewöhnliche Perspektive auf das Kriegsgeschehen kennenlernen möchten.