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Veröffentlicht am 23.01.2020

Spannend, flott geschrieben, mit ein paar Längen

Das Gerücht
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In „Das Gerücht“ ist man auf erfreuliche Weise gleich mitten in der Geschichte. Zusammen mit der Ich-Erzählerin Joanna erfahren wir schon auf den ersten Seiten von dem Gerücht – die ihre Strafe verbüßt ...

In „Das Gerücht“ ist man auf erfreuliche Weise gleich mitten in der Geschichte. Zusammen mit der Ich-Erzählerin Joanna erfahren wir schon auf den ersten Seiten von dem Gerücht – die ihre Strafe verbüßt habende Kindermörderin Sally McGowan soll mit neuer Identität in dem kleinen Küstenstädtchen leben. Das weckt sofort das Interesse an der Geschichte und dies hält sich auch, da der Schreibstil durch das ganze Buch hindurch flott und angenehm ist. Joanna ist eine erfreuliche Protagonistin, sie ist in diesem Küstenstädtchen Flinstead recht neu, paßt in die geruhsame Kleinstadtwelt nicht vollständig hinein und betrachtet deshalb einiges mit unterhaltsam ironischer Distanz. Gemeinsam mit ihr lernen wir ihr Umfeld kennen. Es tauchen ziemlich schnell gleich mehrere ältere Damen auf, die leichte Unklarheiten in ihrer Biographie haben und somit alle Sally McGowan sein könnten. Das war mir ein wenig zu gehäuft.

Joannas persönliche Situation wird recht ausführlich beschrieben, mit einigen Komponenten, die für die Geschichte nicht unbedingt relevant waren und mir etwas zu sehr ausgewalzt wurden. Auch Joannas gesellschaftlicher Umgang mit den Flinsteader Übermüttern, dem Buchclub, ihrem beruflichen Umfeld und anderen Leuten ist zwar teilweise durchaus unterhaltend und hat für die Geschichte einige relevante Aspekte, wurde aber für meinen Geschmack zu ausführlich und mit unnötigen Details geschildert. Gerade in der Mitte hat das Buch dadurch einige Längen.

Sonst aber ist das Erzähltempo gut, es gab mehrere Stellen, an denen ich trotz Müdigkeit immer weiter gebannt gelesen habe. Es gibt hier gleich mehrere interessante Facetten um die Sally-McGowan-Gerüchte, und die Autorin weiß sie zu nutzen, so daß es fast immer spannend bleibt. Die Geschichte entfaltet sich Stück für Stück und manche Dinge sind ganz anders als sie zuerst scheinen. Auch das wird ein wenig überbenutzt, aber es liest sich spannend und unterhaltsam. Zwischendurch erhalten wir kurze Einblicke in die Gedanken Sally McGowans und dadurch werden auch weitere wichtige Fragen eingeworfen: was ist Schuld und wann ist die gesühnt? Welche Freiheiten haben die Medien und wird manchmal der Täter mehr geschützt als das Opfer? Wie schnell lassen sich die Menschen durch Gerüchte hinreißen? Wie weit geht man, um dazuzugehören, oder das eigene Kind dazugehören zu lassen? Aufgrund der vielen Themen geht nichts davon wirklich tief, aber das ist auch nicht schlimm, denn es ist ein Krimi, keine philosophische Abhandlung. Mir hat es gut gefallen, dass es hier mehrere Aspekte gab, die in einer gutgeschriebenen Geschichte gelungen zusammengeführt werden.

Der Showdown war mir ein wenig zu lang und es gefiel mir nicht so gut, daß die Prämisse des Buches auf einigen ziemlich großen Zufällen beruht, aber insgesamt ist „Das Gerücht“ eine flott geschriebene, spannende Geschichte, die sich erfreulich liest und recht gut konzipiert ist. Auch das Titelbild paßt hervorragend und gefällt mir gut. Von dieser Autorin würde ich gerne noch mehr lesen.

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Veröffentlicht am 21.01.2020

Spannend, aber stilistisch für mich nicht ganz überzeugend

Schwert und Krone - Herz aus Stein
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Nachdem mir der letzte Band der „Schwert und Krone“ zu überfrachtet war, las ich diesen Band nun wieder fast durchweg mit Vergnügen. Über zehn Jahre, von 1157 – 1167, begleiten wir Kaiser Friedrich „Barbarossa“ ...

Nachdem mir der letzte Band der „Schwert und Krone“ zu überfrachtet war, las ich diesen Band nun wieder fast durchweg mit Vergnügen. Über zehn Jahre, von 1157 – 1167, begleiten wir Kaiser Friedrich „Barbarossa“ und seine Zeitgenossen und es gibt zahlreiche spannende Ereignisse und Entwicklungen, die lebhaft geschildert werden.

Ich fand die Auswahl der Themen ausgezeichnet: das Schicksal der ehemaligen dänischen Königin Adele sorgt gleich für einen aufregenden Anfang und ein zwar fiktives, aber wirklich schönes Ende, umrahmt das Buch gewissermaßen. Friedrichs Schwierigkeiten in Italien, die Machtgier Heinrichs des Löwen und das tragische Schicksal der Wenden beherrschen diesen Band, sind allesamt interessant geschildert und ließen mich an den Seiten kleben. Ein kleiner Wermutstropfen waren für mich weiterhin die Wettiner – die Markteinkäufe, Plaudereien und Kinderstubenerlebnisse von Hedwig und ihren Schwägerinnen waren nur selten interessant. Die Unterhaltungen zwischen Hedwig und ihrer Schwägerin Mathilde werden ein wenig ungeschickt dazu genutzt, uns Informationen mitzuteilen und wirken nicht natürlich. Auch der Handlungsstrang um den jungen Christian interessierte mich weiterhin nicht wirklich und ein weiterer Handlungsstrang um einen fiktiven Übersetzer war für mich ebenfalls eher entbehrlich. Insofern gab es mehrere Abschnitte, die ich nicht so interessiert gelesen habe, aber weit mehr, die mich gebannt haben.

Wirklich störend finde ich aber leider weiterhin die ständigen Wiederholungen. Es kommt hier so oft vor, daß uns Dinge innerhalb einer Seite mehrfach mitgeteilt werden, daß ich mich frage, ob das kein Lektor je bemängelt hat. Es hat mir das Lesevergnügen doch getrübt. Es gibt zahlreiche Beispiele im Buch, die ich nicht alle aufzählen möchte, aber es käme eine ziemlich lange Liste zusammen. Manche Dinge werden so oft direkt hintereinander erwähnt, daß man das Gefühl hat, immer wieder das Gleiche zu lesen und sich ein wenig im Kreis zu drehen.
Auch über Friedrichs und diverse andere Bettgeschichten werden wir weiterhin informiert, schon im letzten Band war ich etwas amüsiert darüber, daß er seine Beatrix nicht ansehen kann, ohne sie umgehend ins Bett zerren zu wollen. Das ist inhaltlich nicht schwierig zu verstehen, wird uns aber auch in Wiederholungen mitgeteilt, so beim Wiedersehen der beiden auf Seite 221: „Deutlich spürte sie durch mehrere Lagen Stoff, dass er sie am liebsten sofort ins Bett getragen hätte“, und sicherheitshalber in fast wortgleicher Formulierung auf Seite 222: „…sah sie ein breites Bett und der Blick ihres Gemahls ließ keinen Zweifel daran, dass er sie am liebsten sofort dorthin geführt hätte.“
Wenn Mathilde von Groitzsch auf Seite 258 zugibt: „Seit Wochen zerbreche ich mir den Kopf, wie ich Groitzsch durch die kommende Zeit bringe und die Zügel in der Hand behalte“, überrascht das den Leser nicht sehr, weil sie auf Seite 256 schon gestand: „Seit ich weiß, wie dieser Hoftag ausgehen wird, grüble ich darüber nach, wie ich Groitzsch und Rochlitz durch diese Zeiten bringe.“ Auch wieder fast wortgleich formuliert.
Beatrix grübelt auf Seite 383 über ihren Mann: „Seine Gefühle für sie würden erkalten.“ Weniger als eine halbe Seite darunter: „Irgendwann würde Friedrichs Liebe, vielleicht sogar sein Interesse an ihr erlöschen.“
Wie gesagt, nur einige Beispiele von vielen. Auch Schlussfolgerungen werden dem Leser so gut wie nie selbst überlassen, alles wird sicherheitshalber noch erklärt.

Historisch ist wurde wieder gut recherchiert und lebhaft geschildert, es macht Spaß, in diese Welt einzutauchen. Die „Schwert und Krone“ Serie ist absolut geeignet, Geschichte auferstehen zu lassen, uns Menschen und Geschehnisse unterhaltsam nahezubringen, auch wenn sie mich vom Schreibstil nicht wirklich überzeugt. Die gelungene Ausstattung des Buches mit Stammbäumen, Landkarten und weiterführender Literatur erfreut weiterhin.

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Veröffentlicht am 18.01.2020

Geruhsamer Wohlfühlroman mit Krimielementen

Tod in Baden
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Das Titelbild dieses Buches, das ich von einer lieben Freundin geschenkt bekam, sprach mich gleich an. Schlicht und doch prägnant gestaltet weist das Design schon gelungen auf die 1920er Jahre hin, in ...

Das Titelbild dieses Buches, das ich von einer lieben Freundin geschenkt bekam, sprach mich gleich an. Schlicht und doch prägnant gestaltet weist das Design schon gelungen auf die 1920er Jahre hin, in denen die Geschichte stattfindet.

"Tod in Baden" machte von der erste Seite an einen guten Eindruck auf mich, da hier bereits mehrere historische Details - der Prolog spielt im Jahr 1914 - gut in die Geschichte eingeflochten waren und der Prolog Spannung und gutes Erzähltempo mit sich brachte.

Spannung und Erzähltempo sind in der eigentlichen Geschichte wesentlich reduzierter, was aber wohl auch beabsichtigt ist und sich angenehm liest. Es handelt sich um den vierten Band einer Reihe von Kriminalfällen, die durch Anton und Ernestine aufgeklärt werden, zwei älteren Leuten, die einander freundschaftlich verbunden sind, wobei sich wohl allmählich ein wenig mehr anbahnt (was zum Glück die Handlung nicht überlagerte). Ich kannte die ersten drei Bände nicht, was aber überhaupt nicht stört. Die Charaktere werden gut eingeführt, die Geschichten sind in sich abgeschlossen.

Anton und Ernestine fahren also im Jahr 1924 zur Kur nach Baden, einem gemütlichen Städtchen in der Nähe Wiens. Man merkt sehr gut, daß wir in Österreich sind, immer wieder wird ein wenig Dialekt in die Dialoge eingestreut, was mir gefiel. Das mir mit diesem Buch zusammen geschenkte "Wiener Wörterbuch" erwies mir gute Dienste, denn es werden auch immer wieder Worte verwendet, die in Deutschland nicht bekannt sind. Ich mag gut und in Maßen eingebrachtes sprachliches Lokalkolorit und fand das hier sehr gelungen.

Das Buch firmiert als "historischer Kriminalroman". Allerdings dauert es fast bis Seite 90, bevor der Mord geschieht, um den es geht. Das kenne ich aus anderen sog. Cosy Crimes auch, wenn es hier doch ein wenig sehr geruhsam zugeht. Das störte mich allerdings nicht, denn wir erhalten eine liebevolle Schilderung des Kurhotelalltags, einiger mehr oder weniger skurriler Gäste und Antons eingeschränkter Begeisterung über Schwefelwasser und Diätkost. Das liest sich unterhaltsam, manchmal habe ich laut gelacht, ab und an rutschte es ins Alberne ab, was mir nicht so gut gefiel. Der Schreibstil ist eingängig, läßt sich entspannt lesen.

Auch nach dem Mord geht es recht gemächlich weiter. Ganz zum ruhigen Kurort passend wird eher ein wenig nebenbei ermittelt. Der Fall ist recht gut ausgedacht, wenn auch weniger ausgefeilt, als ich es in anderen cosy crimes gelesen habe, so richtig spannend wurde es für mich nie, aber ich habe gemütlich mit gerätselt und mich ansonsten an der Atmosphäre gefreut. Weiterhin finden sich immer wieder interessante historische Informationen und man merkt auch, wie nah der Erste Weltkrieg noch im Bewußtsein der Charaktere ist, welche Traumata er teilweise hinterlassen hat. Es gibt hier inmitten des ansonsten eher heiteren Dahinplätscherns einige Momente, die nachdenklich machen.

Auch die Fallauflösung kommt ein wenig beiläufig daher, und ich persönlich würde das Buch nicht als Kriminalroman einstufen, sondern als heiteren Roman mit historischem Hintergrund und einigen Krimielementen. Mit dieser Mischung war ich aber sehr zufrieden. Ich habe das Kurhotel vor mir gesehen, habe auch die Bescheibungen des Praterlokals in Wien genossen, bin mit Anton auf der Suche nach Mehlspeisen durch das geruhsame Baden spaziert. Ein Wohlfühlbuch, dessen Lektüre ich absolut empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 13.12.2019

Originell, sorgfältig konzipiert, gut geschrieben

13zehn
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13 zehn ist ein herrlich ungewöhnliches Buch, das ein originelles Konzept mit Hingabe umsetzt. In vier Geschichten tauchen wir in vier ganz unterschiedliche Welten ein, lernen jedes Mal neue Charaktere ...

13 zehn ist ein herrlich ungewöhnliches Buch, das ein originelles Konzept mit Hingabe umsetzt. In vier Geschichten tauchen wir in vier ganz unterschiedliche Welten ein, lernen jedes Mal neue Charaktere kennen und können ausgiebig rätseln, wie diese Menschen und Schicksale zusammenhängen. Zum Ende werden einige - aber leider lange nicht alle - Fragen beantwortet. Zahlreiche Liedzitate und -texte zeugen, ebenso wie die Lebenswege einiger Charaktere, von großer Hingabe zur Musik, sind für jemandem mit mehr Interesse an der Materie sicher interessant.

Die erste Geschichte stößt uns sofort mitten ins Geschehen und auch gleich in die Frage, was nun real ist und was nicht. Diese Frage begleitet den Leser durch das gesamte Buch, die beiden Autoren spielen geschickt mit der Verwirrung, mit dem Wechsel zwischen - meist bitterer - Realität und übersinnlichen Elementen. Bei der Lektüre rätselt man so fast durchgehend mit, sucht nach Erklärungen und verbindenden Elementen. Das Buch ist ausgesprochen komplex, wechselt nicht nur zwischen Realem und Irrealem, sondern auch zwischen Zeiten, Perspektiven und Personen. Man kann nur annähernd ermessen, wie viel Arbeit und Planung - und auch hier wieder: Hingabe - in dem Buch stecken müssen. Manchmal wurde es mir ein wenig zu komplex, da sich mit jeder Geschichte so viele neue Fragen und Handlungen ergeben und ich manchmal schlichtweg zu verwirrt war, um das Leseerlebnis zu genießen.

Die vier Hauptcharaktere der Geschichten erleben Unfassbares und in jeder Geschichte gibt es eine gänzlich neue Welt, in die man sich beim Lesen erst einmal hineinfinden muß. Das macht Spaß, ich war stets neugierig, was mich nun erwartet, was sich hier entfaltet. Die behandelten Themen sind ungewöhnlich, so lerne ich hier eine mir unbekannte psychische Krankheit kennen, wir erleben die medial kaum erwähnten dunklen Auswirkungen der Zustände in Osteuropa auf die Unschuldigsten, tauchen ein in religiösen Fanatismus und den drastischen Auswirkungen von Schulmobbing. Auch ein erschreckender tatsächlicher Kriminalfall ist subtil ins Buch eingebunden. So viele ungewöhnliche Themen, so viele gelungene Anspielungen auf tatsächliche Geschehnisse habe ich noch nie in einem Buch gelesen.

Auch die übersinnlichen Komponenten sind originell und gehören fast wie selbstverständlich zum Geschehen dazu. Das erweckt in der ersten Geschichte eine Art wohligen Grusel, in der zweiten führt es zu herzzereißenden Entwicklungen. Diese beiden Geschichten fand ich am eindringlichsten. Die dritte Geschichte hatte ein paar für mich langatmige Passagen, die vierte Geschichte war mir stellenweise zu wirr. Der Schreibstil ist aber im gesamten Buch absolut erfreulich. Es gibt zahlreiche beeindruckende und schön formulierte Sätze, der Umgang mit Sprache ist durchweg gekonnt. Das macht Lesefreude.

Zum Ende hin fügen sich die vier Schicksale zusammen, dies in einem etwas zu großen Zufall, der aber letztlich zum Gesamtkonzept paßt. Schade ist es, daß so viele aufgeworfene Fragen gar nicht beantwortet werden, auf deren Aufklärung ich beim Lesen schon gespannt wartete.

Insgesamt ist hier aber ein Mysterygeschichte auf ganz hohem Niveau gelungen, in trollem Schreibstil, mit beeindruckender Originalität. Ein Buch, das absolut heraussticht.

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Veröffentlicht am 27.10.2019

Intrigenreiches Wien, opulent erzählt

Im Schatten des Turms
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"Im Schatten des Turms" führt uns in die opulent erzählte Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Schon der Prolog nimmt uns gleich mitten ins Geschehen, lebhaft und auf positive Weise detailreich finden ...

"Im Schatten des Turms" führt uns in die opulent erzählte Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Schon der Prolog nimmt uns gleich mitten ins Geschehen, lebhaft und auf positive Weise detailreich finden wir uns im Wiener Narrenturm, erleben Angst, Ungewissheit und Bedrohung ganz unmittelbar. Der Narrenturm existiert wirklich, wurde einst als psychiatrisches Krankenhaus erbaut und ist heute ein Museum. Ihn als Fokus eines Romans zu sehen, hat mich sofort fasziniert. Der Klappentext, mit der Überschrift "Hinter den Mauern des Narrenturms, der ersten psychiatrischen Heilanstalt der Welt" und einem ausführlichen Absatz über den Narrenturm und die damaligen Entwicklungen der Psychiatrie erweckten bei mir den Eindruck, daß dies der Hauptfokus des Romans sein würde. Im ersten Drittel ist dies auch der Fall. Wir lernen Alfred kennen, einen jungen Medizinstudenten. Ganz ausgezeichnet wird hier geschildert, wie das Medizinerstudium damals verlief, man sieht es geradezu bildlich vor sich, gerade, wenn man die Schauplätze aus eigener Anschauung kennt. Die Charaktere sind lebendig, das Geschehen ausgesprochen interessant. Wir begleiten Alfred und seine Mitstudenten in den Narrenturm, erleben, wie die "Irrsinnigen" zu Anschauungsobjekten herabgewürdigt, ihnen das Menschsein abgesprochen wird. Die im Klappentext erwähnte Begegnung mit der "jungen Frau mit seltsamen Malen auf den Armen", die sinistre Vorgänge im Narrenturm vermuten läßt, wird eindringlich geschildert. Auch die anderen Fälle, mit denen Alfred medizinisch zu tun bekommt, sind geradezu spannend, denn der Autor vermittelt uns hier kenntnisreich und anschaulich den damaligen Stand der Medizin. Das ist ein Thema, das in historischen Romanen in dieser Ausführlichkeit selten vorkommt und das machte das erste Drittel des Buches für mich ausgesprochen erfreulich. Davon hätte ich gerne noch viel, viel mehr gelesen.

Die zweite Hauptperson ist Helene, eine Grafentochter, die in einer gänzlich anderen Welt lebt als Alfred. Hier zeigt sich ebenfalls der hervorragende Schreibstil, ich sah ihr idyllisches Schloß mit den gepflegten Gärten, dem gütigen Vater und dem treu ergebenen Personal ebenfalls vor mir. René Amour versteht es, das historische Umfeld zum Leben zu erwecken und auch seine Charaktere auszuarbeiten. Wenn da eine Dame auf ihrer Chaiselongue nicht sitzt, sondern "residiert", sagt uns dieses eine Wort schon sehr viel - die gelungene Wortwahl beeindruckt immer wieder. Das ganze Buch hindurch sind bis zum kleinsten Nebencharakter alle facettenreich und echt. Es treten einige historische Persönlichkeiten auf, sogar Kaiser Joseph II begegnet uns und wird vom historischen Namen zum Menschen. Ein Namensverzeichnis zu Beginn des Buches listet die vielen Charaktere auf und vermerkt auch, welche historisch verbürgt sind. Ein informatives und persönliches Nachwort gibt zusätzliche Informationen zur Behandlung von historischen Persönlichkeiten und Orten, gibt auch nützliche Hintergrundinformationen. Die historische Genauigkeit ist, soweit ich das beurteilen kann, exzellent. Hier spürt man penible Recherche, die gut in die Geschichte eingearbeitet wird.

Der Narrenturm und die medizinische Komponente treten leider nach dem ersten Drittel völlig zurück und tauchen kaum noch auf, das Geheimnis um die junge Frau mit den Malen wird fast beiläufig aufgelöst. Ich fand es sehr schade, daß diese im Klappentext ausführlich angekündigte Thematik letztlich eine wesentlich kleinere Rolle spielte, als zu vermuten war. Der Hauptfokus der Geschichte liegt auf sehr ausgefeilten Intrigen mit allem Drum und Dran: chiffrierte Briefe, maskierte Schläger, Decknamen, Symbole, doppeldeutige Bemerkungen. Das ist sorgfältig konzipiert, ist nur leider ein Thema, das mich überhaupt nicht anspricht. Die mysteriösen Begegnungen und Bemerkungen waren mir irgendwann zu viel, und als unsere Protagonistin Helene irgendwann ihren Konversationspartner fragt, ob es nicht möglich wäre, sich ausnahmsweise einfach mal völlig normal zu unterhalten, ohne alberne Spielchen, war ich ganz auf ihrer Seite. Auch hat sich mir nie erschlossen, welchen Zweck diese Intrigen für die meisten Beteiligten hatten, ich konnte mit einigen der Manöver wenig anfangen. Zudem konnte ich an manchen Stellen nicht nachvollziehen, wie schnell sich eine unerfahrene Person das geschickte Intrigenspiel angeeignet hat und wie ungeschickt manch erfahrene Intrigantin manchmal agierte. Das ist natürlich ein rein subjektiver Eindruck, hat mir persönlich aber das Lesevergnügen eben doch stellenweise merklich gedämpft, weil es so einen großen Raum einnahm. Wem dieses Thema liegt, der wird es in diesem Buch ganz ausgezeichnet dargestellt und geschildert finden.

Ein weiteres Hauptthema des Buches war der Krieg, die Leiden der zwangsweise Rekrutierten, das unmenschliche Verheizen von Menschenleben. Auch hier wieder bemerkenswertes historisches Wissen, lebhaft geschilderte Szenen, die Kämpfe für meinen Geschmack manchmal etwas zu ausführlich. Störend fand ich, daß hier und auch am Ende des Buches etwas zu oft lebensrettende Zufälle eine Rolle spielen. Das kann man einmal, auch zweimal noch nachempfinden, aber vier-/fünfmal sind mir persönlich zu viel. Interessant waren hier dafür Gespräche, die verschiedene Ansichten zum Weltgeschehen und den gedanklichen Strömungen jener Zeit darstellten; dies so gut, daß man durchaus beiden gegensätzlichen Ansichten etwas abgewinnen konnte.

So ist "Im Schatten des Turms" ein Roman, der mir persönlich thematisch nicht ganz zusagte, dessen Abkehr vom medizinischen/psychiatrischen Thema ich bedauerlich finde, der dafür durch hervorragend recherchierte und erzählte historische Genauigkeit besticht, durch einen bemerkenswerten Schreibstil und Charaktere, die einen berühren und von den Buchseiten lebensecht aufsteigen.