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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.09.2020

Böse, düster, schlau

Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
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Dieses Buch war eine köstliche böse Leckerei. Auf den ersten Blick geht es um eine junge, hübsche und finanziell unabhängige Frau, die sich entschließt, einen selbst herbeigeführten "Winterschlaf" zu halten ...

Dieses Buch war eine köstliche böse Leckerei. Auf den ersten Blick geht es um eine junge, hübsche und finanziell unabhängige Frau, die sich entschließt, einen selbst herbeigeführten "Winterschlaf" zu halten in der Hoffnung, besser, kraftvoller und ernuert aufzuwachen. Mit Hilfe einer Psychiaterin (einer der schlimmsten literarischen Beispiele eines medizinisch tätigen Charakters, die ich je gelesen habe) testet sie sich durch Medikamente und Pillen, immer auf der Suche nach der Art von Tiefschlaf, nach der sie sucht. Klingt öde? Ist es aber ganz und gar nicht!

Unsere unbenannte Protagonistin scheint, aus den oben bereits genannten Gründen, ein sorgenfreies Leben zu führen. Doch wie es oft der Fall ist, erweisen sich diese Annahmen als Trugschluss, sobald die Hintergrundgeschichte der Erzählerin nach und nach ans Licht kommt - langsam und gemütlich, so wie der drogeninduzierte Schlaf, der sie immer wieder befällt. Dies ist also nicht nur eine böse Geschichte über von ärztlicher Seite unterstütztem Medikamentenmissbrauch, sondern auch über verschiedene dysfunktionale Beziehungen. Als da wären:

- Die Erzählerin und ihre beste Freundin Reva (die hilfsbedüftigt ist, klammert und ziemlich nervig rüberkommt, die aber von der Erzählerin aber auch emotional ausgenutzt wird und mir nach einer Weile sogar leid getan hat)

- Die Erzählerin und ihr on/off "Boyfriend" Trevor (der diesen Titel in der Anführung eigentlich nicht verdient, da er sie nur benutzt, wenn ihm dannach ist, und nicht klar wird, warum die Erzählerin das überhaupt mit sich machen lässt)

- Die Erzählerin und ihre Elter, vor allem ihre Mutter (merkwürdig, wenn nicht gruselig) im krassen Kontrast zu Reva und ihrer Mutter.

Ein weitere interessantes Detail bilden Ort und Zeit der Erzählung: Es spielt New York in den frühen 00er Jahren, also vor 9/11 - die "Unschuld", fast Naivität der Charaktere, die nicht wissen, was vor ihnen liegt, fügt der komplexen, düsteren Geschichte eine weitere, geradezu traumähnliche Nuance hinzu.

Dies ist also mehr als ein "verschlafenes Buch". Es hat mich aber doch eingelullt, und zwar so, dass ich es nicht erwarten konnte, wieder darin zu versinken, in seinem beständigen Rhythmus, seiner Suche nach Schlaf und seiner einzigartigen Protagonistin. Sie ist nicht besonders sympathisch, aber wenn ich so einen super interessanten, ziemlich "anderen", konsequenten weiblichen Charakter habe, der sich nicht rechtfertigt, ist mir das ziemlich egal.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Satirische Millennials-Abrechnung

Allegro Pastell
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Das hört sich jetzt aufgrund meiner Bewertung zunächst etwas komisch an: Dieses Buch kreist rund 250 Seiten lang um first world problems zweier Menschen, denen es eigentlich ganz gut geht. Die eigentlich ...

Das hört sich jetzt aufgrund meiner Bewertung zunächst etwas komisch an: Dieses Buch kreist rund 250 Seiten lang um first world problems zweier Menschen, denen es eigentlich ganz gut geht. Die eigentlich keine schwerwiegenden Probleme haben - außer den Umgang mit sich selbst. Sowas kann störend wirken, ja, das tut es auch. Sowas kann lästig und unangenehm sein, und ja, auch das ist es. Trotzdem hat mich dieses Buch fasziniert, was zum größten Teil an der Wortakrobatik und Sprachgewandheit des Autors liegt. Will sagen: Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen - dann aber auch wieder nicht. Ich sage ja: faszinierend.

Tanja und Jerome, das fernbezogene Millenials-Paar, steht hier im Mittelpunkt. Beide wuchsen relativ wohlbehütet ohne Entbehrungen auf. Nun gut, vielleicht stand oder steht die Beziehung der Eltern auf der Kippe und die Schwester leidet an depressiven Verstimmungen aber hey, wer sind wir denn, über andere zu urteilen? Betrachten wir uns doch lieber mal selbst, so ohne Scheu und/oder Scham, ok?

Und so ist das Buch dann auch mehr Nabelschau der beiden Liebenden als alles andere. Selbstreflexion ist natürlich wichtig, gerade im Umgang mit und Bezug auf andere. Das gute alte Sender-Empfänger-Problem: Ist meine Botschaft angekommen? Hat mein Gegenüber verstanden, was ich meine? Und falls nicht: Was könnte er/sie stattdessen verstanden haben? Grübel, grübel...

Ich bin selbst ein Grübel-Mensch, oh ja. Aber das, was Tanja und Jerome hier anziehen, spielt in einer ganz anderen Liga. Die beiden analysieren und reflektieren, bis das eigentliche Ich bald auch nur noch ein Spiegel ist. Jeder Schritt, jede Handlung, wird mehrfach abgewägt, gegen soziale, politische, gesellschaftliche und ganz persönliche Leitlinien. Teilweise kam es mir so vor, als hätten Tanja und Jerome zu viele Bücher mit auktorialem Erzähler gelesen und würden nun fortwährend eine solche Stimme in ihrem Kopf hören, die jeden ihrer Schritte, Gedanken und Handlungen kommentiert. Es geht nicht mehr ums Ergebnis, nur noch um Aktion und Reaktion. Und, natürlich, um ganz viel Verständnis. Passt schon!

Das klingt jetzt ein bisschen nach plotarmer Selbstbeweihräucherung, aber im Buch passiert durchaus eine Menge. Die zunächst liebevoll anmutende Fernbeziehung, die den ersten Teil bestimmt (bzw. die im ersten Teil von beiden analysiert und weiter verplant wird), erlebt einige Höhen, aber auch deutliche Tiefen. Leif Randt geht hier konsequent und mutig seinen Weg, zeigt eine vielleicht nicht immer der Norm entsprechende, aber dennoch alles andere als seltene Art der Beziehung, die deutliche Unterschiede zwischen Liebe und Sex macht und Treue auf eine andere Ebene als das rein körperliche hebt. Das fand ich stimmig, erfrischend und vor allem konsequent: Tanja und Jerome wollen sich nicht eingrenzen, nicht gegenseitig und auch nicht als Paar. Nachteil an der Sache: Viel wird aus genau diesem Grund (zunächst) nicht direkt angesprochen, viel passiert im Zustand des Ungewissen, des Unausgesprochenen. Zu stören scheint das keinen der beiden, zumindest sollte es das eigentlich nicht, denn: So bleibt mehr Zeit zum gründlichen reflektieren ;)

Wir haben hier also ein Buch mit zwei sehr anstrengenden, Ich-bezogenen Hauptcharakteren, die das natürlich nie so empfinden, geschweige denn zugeben würden. Es gab einige Stellen im Mittelteil, da hätte ich das Buch am liebsten weg gelegt, so haben die beiden mich genervt. Da wollte ich sie regelrecht anbrüllen, dochmal was zu TUN, miteinander zu REDEN, Dinge mal in Gang zu setzen und Action bitte, na hopp!

Und trotzdem habe ich es sehr gern gelesen. Weil viel zu viel Wahres drinsteckt und es ein wirklich richtig gut geschriebenes Stück über eine bestimmte Sorte Großstädter 30+ ist, das vieles aufdeckt und anprangert, dabei aber nie ins Klamaukige oder völlig Überzeichnete verfällt.

Veröffentlicht am 26.02.2020

Toll erzählt, faszinierende Charaktere

Die Geheimnisse meiner Mutter
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Eine sehr gut erzählte Geschichte auf zwei verschiedenen Zeitschienen und mit wundervoll facettenreichen weiblichen Charakteren.

Ein Teil der Geschichte spielt in den frühen 80ern. Zusammen mit Elise, ...

Eine sehr gut erzählte Geschichte auf zwei verschiedenen Zeitschienen und mit wundervoll facettenreichen weiblichen Charakteren.

Ein Teil der Geschichte spielt in den frühen 80ern. Zusammen mit Elise, Anfang 20, treffen wir Connie, eine etwa 15 Jahre ältere Schriftstellerin. Die beiden Frauen verlieben sich und werden ein Paar. Zwei Jahre später: Elise und Connie reisen von London nach L.A., wo Connies Roman verfilmt werden soll. Connie fühlt sich in der Traumfabrik Hollywood gleich zuhause, Elise eher weniger: Sie hat Zweifel an allem und jedem. Sie beginnt, sich nur als hübsches Anhängsel ihrer Partnerin zu sehen, die wiederum Hollywoods Elite zu umgarnen weiß. Elises Ängst und Unsicherheiten wachsen rasant, bis sie handelt - was ernsthafte Konsequenzen zur Folge hat.

35 Jahre später zieht Rosie ein Zwischenfazit über ihr Leben: A Freund mit vielen Träumen aber wenig Elan, ein Job, der sie weder befriedigt noch fordert, sowie das größte Fragezeichen von allen: Ihre unbekannte Mutter - Elise, die sie verlassen hat, als Rosie noch ein Baby war. Zufällig erhält Rosie die Chance, Assistentin der Schriftstellerin Connie (ja, genau der) zu werden, die nach Jahrzehnten ein neues Buch schreibt. Rosie schmuggelt sich heimlich in Connies Leben, um mehr über ihre Mutter zu erfahren.

Die ist eine ruhige, von den Charakteren getriebene Erzählung, in der doch einiges passiert. Mit haben beide Zeitstränge gleich gut gefallen, ebenso wie die vielen Frauencharaktere, die alle interessant und faszinierend auf ihre Weise sind. Sie sind voller Unzulänglichkeiten, aber auch voller Liebe: Sie machen schlimme Dinge, obwohl sie es eigentlich gut meinen. Es geht um Freundschaft, Liebe, Vertrauen und Betrug - und um das gute alte Mutter-Tochter-Thema.

Die grundsätzliche Botschaft des Buches: Selbststärkung. Selbstwahrnehmung. Aus Fehlern lernen. Und zu wissen, wann es Zeit ist, zu gehen. Sei du selbst - nicht bloß die Person, die andere in dir sehen (wollen). Steh zu dir!

Veröffentlicht am 26.02.2020

Dramatisch, tragisch, exotisch

Goldkind
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Dies ist die dramatische und tragische Geschichte einer Familie, geprägt von Herkunft, sozialer Schicht und äußerer Umstände. Clyde und Joy, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, um ihren ...

Dies ist die dramatische und tragische Geschichte einer Familie, geprägt von Herkunft, sozialer Schicht und äußerer Umstände. Clyde und Joy, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, um ihren Söhnen etwas zu ermöglichen, eine Zukunft, Bildung, Hoffnung. Doch Peter und Paul, die eineiigen Zwillinge, ähneln sich zwar äußerlich, sind aber ansonsten grundverschieden, und die Frage, die im Raum steht: Welche dieser Unterschiede sind tatsächlich real, welche anerzogen? Da ist Peter, der Erstgeborene, das titelgebende Goldkind. Er ist unfassbar klug und hat beste Chancen, die ärmliche Herkunft seiner Familie auf dem Bildungsweg hinter sich zu lassen. Paul hingegen hat von Geburt an mit Schwierigkeiten zu kämpfen: Noch im Mutterleib von der Nabelschnur umwickelt, stockte die Sauerstoffzufuhr zu seinem Gehirn, seitdem wird er als "zurückgeblieben" abgestempelt - und auch durchgängig so behandelt. Zu Recht?

Die Geschichte beginnt, als die Zwillinge 13 Jahre alt sind und sich die Familie gerade von einem Überfall mit anschließendem Streit erholt. Kurz darauf verschwindet Paul. Clyde macht sich auf die Suche nach seinem Sohn, durchstreift die Nachbarschaft und den Busch, doch Paul bleibt verschwunden. Dieser erste Teil dient als gute Einführung in den Alltag der Familie, man bekommt einen ersten Eindruck der Verhältnisse der einzelnen ProtagonistInnen zueinander.

Dann macht die Autorin einen cleveren Cut: Teil zwei springt weit in die Vergangenheit und erzählt von Peter und Pauls Kindheit und den unterschiedlichen Erwartungen, mit/unter denen sie aufwuchsen. Die Erzählstimme wechselt hier in jedem Kapitel, neben den unmittelbaren Familienmitgliedern kommen auch Außenstehende zu Wort und werfen so noch mal ein ganz anderes Licht auf bestimmte Situationen. Neben der vierköpfigen "Kernfamilie" gibt es noch zahlreiche weitere Verwandte, die das Schicksal der anderen wechselseitig bestimmen. Zum Beispiel Onkel Vishnu, der Bruder von Mutter Joy, der als studierter Mediziner und relativ wohlhabender Mann der große Vorbildcharakter ist. Er erkennt Peters Talent und fördert den Jungen, was wiederum zu Neid und Missgunst bei anderen Verwandten führt.

Der dritte Teil setzt schließlich wieder in der Gegenwart ein, wir erhalten tiefere Einsicht in Pauls Gefühlswelt und seinen Entschluss zur Flucht, die schließlich der Auslöser für den tragischen Höhepunkt des Familiendramas wird. Das Ende bzw. der letzte Teil hat mich sehr mitgenommen - die Situation, die sich ergibt, die Gründe dafür und die letztlichen Konsequenzen waren wirklich absolut tragisch und ich lobe Claire Adam für ihren Mut, das so krass durchzuziehen. Das wird mich noch eine Weile beschäftigen.

Neben der Erzählung an sich und den tiefen Emotionen, die das alles bei mir ausgelöst hat, ist noch ein dritter Aspekt wichtig und erwähnenswert: Die Location des Romans, die hier ganz klar ein weiterer "Protagonist" ist. Die Geschichte spielt auf Trinidad, und der Inselstaat ist allgegenwärtig: Es kribbelt und krabbelt überall, der Busch ist dunkel und geheimnisvoll, das Wetter heiß und feucht. Doch nicht nur die Natur, auch die Menschen und Gewohnheiten sprühen nur so vor Lokalkolorit. Korruption und Banden bestimmen das gesellschaftliche Bild und durchdringen auch scheinbar "sichere" Beziehungen. Die Angst vor Gewalt ist ebenso allgegenwärtig: Hunde sind nicht die "besten Freunde", sondern werden scharf gemacht und verdingen sich als Alarmanlage. Claire Adam bringt den Staat, in dem sie aufwuchs, hier gut zum Leben.

Ein faszinierender Debütroman, der Lust auf mehr von der Autorin macht.

Veröffentlicht am 26.02.2020

Ein Buch wie ein Rausch

Das Casting
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Ein Witwer denkt, es wäre eine coole Idee, ein gefaktes Filmcasting abzuhalten um dabei eine neue Frau zu finden. Was könnte, in dieser bizarren Mischung aus "Der Bachelor" und "DSDS" schon schiefgehen? ...

Ein Witwer denkt, es wäre eine coole Idee, ein gefaktes Filmcasting abzuhalten um dabei eine neue Frau zu finden. Was könnte, in dieser bizarren Mischung aus "Der Bachelor" und "DSDS" schon schiefgehen?

Nun, zunächst nicht viel. Aoyama, unser einsamer Witwer, verliebt sich schnell in eine Kandidatin, eine junge Frau namens Yamasaki Asami. Ihr müsst euch das so vorstellen: Ein ziemlich bodenständiger, mittelalter Mann, respektiert und verantwortungsvoller Vater eines Teenagers, erleidet einen Anfall von "insta!love". Die ihm nahe stehenden Personen finden das merkwürdig und raten ihm zur Coolheit, zum Abwarten, aber Aoyama will davon nichts wissen. Er ist verliebt! Er ist süchtig.

So eine Storyline bietet einige Klischees, aber Murakami umschifft diese mühelos. Er bescheibt Aoyamas schnellen Abstieg in der Welt der Überromantisierung (wenn nicht Fetischismus) der Frau, die er liebt, für die er lebt, nach der er sich verzehrt auf eine Art, die irgendwie Sinn ergibt - es fühlt sich wirklich wie der Abstieg in eine bedrohliche Sucht an.

Tief in seinem Inneren weiß Aoyama, dass er überdreht, aber er kann nicht anders. Er ist wie die Fliege im Marmeladenglas, die nicht flattert, um sich zu befreien, sondern um mehr von der tödlichen Süße zu kosten.

Und die Frau? Zu perfekt um wahr zu sein? Oder ist sie das gar nicht?

Ein brutales, explizites Buch, das eine äußerst ungewöhnliche "Liebes"geschichte zum Thema hat. Ein Buch wie ein Rausch - ein dunkler, fieser Rausch.