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Veröffentlicht am 20.08.2020

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis

Der letzte Satz
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"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für ...

"Er verließ sich lieber auf sein Gehör und noch mehr auf seinen Fleiß. Man musste den Dingen zuhören und sich dann auf seinen Hintern setzen und arbeiten, das war das ganze Geheimnis.“

Inhalt

Für den berühmten österreichischen Komponisten und Operndirektor Gustav Mahler ist es die letzte Reise zurück in die europäische Heimat, nachdem er in Amerika große Erfolge feiern konnte. Seine immer schlechter werdende Gesundheit zwingt ihn in die Knie und lässt sein grandioses Lebenswerk als Künstler unter dem Licht der Vergänglichkeit nochmals ganz anders erscheinen. Oben auf dem Schiffsdeck der „America“ eingewickelt in eine Decke, die gegen das Fieber nichts ausrichten kann, hängt Mahler seinen Erinnerungen nach und schließt Frieden mit einer Welt, aus der er sich bald verabschieden wird. Zurück bleibt die Überzeugung, dass er Vieles hätte anders machen können, nachdem seine ältere Tochter im Kindesalter verstorben ist, dass er in seiner Rolle als Mann und Vater nur mäßigen Erfolg hatte, ganz anders als auf den Bühnen der Welt. Seine große Liebe Alma begleitet ihn zwar auf dieser Reise, doch ihre Zuneigung hat sich schon längst auf ein Mindestmaß reduziert und orientiert sich mehr an den Verpflichtungen einer Ehe, denn an wirklicher Liebe. Und er wird sich immer sicherer: das Leben seiner Familie wird weitergehen, auch wenn er stirbt, sein Werk jedoch wird Bestand haben, obwohl ihm immer bewusster wird, dass er seine Prioritäten möglicherweise falsch gesetzt hat …

Meinung

Nun habe ich es endlich geschafft, einen Roman des in Wien geborenen Autors Robert Seethaler zu lesen, der bereits zahlreiche internationale Publikumserfolge erzielen konnte. Sein Schreibstil ist äußerst klar und zielgerichtet, wirkt reflektierend und angepasst an die traurige Handlung der Erzählung.

Fasziniert hat mich vor allem seine gekonnte Auswahl an Gedankengängen, die es dem Leser ermöglichen, ganz nah an die Person des Gustav Mahler heranzukommen. Insbesondere die minimalistische Benennung biografischer Sachverhalte, die mich direkt dazu animiert hat, mich parallel zu diesem Buch intensiver mit dem Künstler Mahler zu beschäftigen. Prinzipiell ein cleverer Schachzug, denn immer dann, wenn ich einen Gedanken im Kontext hatte, stockt die Erzählstimme und lässt die Neugier auf mehr Hintergründe wachsen.

Gleichzeitig sind diese Lücken aber auch ein Kritikpunkt meinerseits, denn hätte der Autor nicht so viele Fragmente geschaffen und sich stattdessen noch intensiver auf die historischen oder menschlichen Aussagen konzentriert, wäre meine Begeisterung für das Buch noch weit größer gewesen. Dieser Roman hätte gerne den doppelten Umfang haben können, oder die tatsächlich letzten Stunden des Protagonisten lebendig werden lassen. Der Schiffsjunge selbst, der die Abschlussszene gestaltet, ist doch eine viel zu blasse, willkürliche Person, die mir zu wenig Gewicht auf diesen persönlichen Rückblick legt.

Fazit

Ganz klar eine Leseempfehlung, der ich gute 4 Sterne gebe, gerade wenn man als Romanliebhaber auch mal in eine Biografie hineinschnuppern möchte. Wie der Klappentext bereits verspricht, erlebt man glasklare Momente der Schönheit und des Bedauerns – doch zu vieles bleibt ungesagt oder unbedacht. Ich lese definitiv noch ein anderes Werk des Autors, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen.

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Veröffentlicht am 01.08.2020

Die Kinder unterm Königsnussbaum

Wir verlassenen Kinder
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„Eines Tages wird es alles nicht mehr geben hier. Es wird langsam sein, dass wir verschwinden. Wir werden es fast nicht merken. Irgendwann sind wir alle nicht mehr hier. Wir nicht, unsere Geschwister nicht ...

„Eines Tages wird es alles nicht mehr geben hier. Es wird langsam sein, dass wir verschwinden. Wir werden es fast nicht merken. Irgendwann sind wir alle nicht mehr hier. Wir nicht, unsere Geschwister nicht und das Dorf nicht und die Tiere nicht.“

Inhalt

Es herrscht Krieg, die Bomber kreisen über den Köpfen, doch immer ziehen sie weiter, die Eltern sind fortgegangen, um irgendwo ein neues, besseres Leben aufzubauen, die Alten blieben etwas länger, doch nun ziehen auch sie in den Krieg, der ebenso verloren scheint, wie der Rest der Welt. Zurück bleiben die Kinder des Dorfes, welches langsam zerfällt. Sie sind auf sich gestellt, es gibt kein Geld, keine Versorgung und niemanden mehr, der ihnen irgendetwas beibringen kann. Sie sind allein miteinander, mit ihren eigenen Regeln, ihren Sorgen und der kleinen Flamme der Hoffnung, das bald schon irgendwer an ihnen Interesse zeigt, sie holen kommt und wieder mitnimmt, in eine sehnsüchtig erwartete Heile-Welt, in der Kinder Menschen an ihrer Seite wissen, die sich um sie kümmern. Doch es kommt niemand und die Vorräte neigen sich dem Ende entgegen …

Meinung

Der Klappentext hat mich schon sehr neugierig gemacht auf den Debütroman der österreichischen Autorin, von dem ich mir eine berührende Geschichte über Einsamkeit und Verzweiflung erhofft habe. Und obwohl die komplette Handlung eher an eine Utopie erinnert, als an ein tatsächlich denkbares Szenario, liegt ihr großer Pluspunkt an einer fast erdrückenden Emotionalität, die selbst unrealistische Ereignisse und Entwicklungen nachvollziehbar werden lässt.

In kurzen Kapiteln erzählen diverse Protagonisten von einer Zeit, die geprägt ist von Ängsten und Hoffnungslosigkeit. In einem Ausmaß der Verwüstung begegnet der Leser einer gemischten Gruppe von Kindern, die allein auf sich gestellt sind und die ihre eigenen Gesetze aufstellen. Zwischen der Sorge, ihren Hunger zu stillen und der Möglichkeit ihre Eltern einmal wiederzusehen, erfüllt die Langeweile ihren Tag und es kommt zu Gewalthandlungen und Ausgrenzungen untereinander. Gerade Mila, eine der Älteren versucht sich die Kinderschaar vom Hals zu halten und gleichzeitig so etwas wie Normalität zu etablieren, indem sie unterrichten möchte. Auch die Eltern und andere Dorfbewohner kommen zu Wort, in Briefen an die Zurückgebliebenen, beschwichtigen sie und versuchen ihr Fortgehen irgendwie zu begründen, vielleicht eine Entschuldigung zu formulieren, die ihr Verhalten erklärt, auch wenn dieses unentschuldbar bleibt. Der Schreibstil ist wirklich klasse, weil er direkt ins Herz trifft und alles so lebendig und echt wirken lässt, selbst wenn herkömmliche Logik zu kurz kommt.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen ungewöhnlichen Roman, der sich zu einem wilden Erlebnis mit vielen versteckten Botschaften entwickelt. Obwohl ich kein großer Fan von fiktiven Erzählungen in einer Welt kurz vor dem Untergang bin, konnte mich dieses Buch hier weitgehend überzeugen. Man muss sich auf die Geschichte einlassen und darf keine genaue Aussage und auch keine weitreichende, umfassende Erklärung erwarten, gerade das offene Ende aber auch die angerissenen Erzählstränge lassen sehr viel Interpretationsspielraum und man kann die Tatsachen auf alle möglichen Ursachen zurückführen, ohne eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen. Sobald man sich aber gedanklich auf das literarische Experiment einlässt, entfaltet sich ein emotionaler, bedrückender, facettenreicher Entwurf einer gottverdammten Welt, der man eigentlich nur entkommen möchte und es dennoch nicht ohne weiters kann. Selbst für mich als Liebhaber gesellschaftskritischer aber authentischer Belletristik hat sich dieses Buch gelohnt, obwohl es im Nachhinein doch ein wenig abstrakt wirkte.

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Veröffentlicht am 21.06.2020

Nicht sterben, nur verschwinden

Tage ohne Hunger
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„Der zweifelnde Gesichtsausdruck scheint Pflicht zu sein. Das soll sie ruhig aushalten, es kann ihr nicht schaden, ihren verblüfften und mitleidigen Blick auf ihr kränkliches Aussehen zu ertragen – ein ...

„Der zweifelnde Gesichtsausdruck scheint Pflicht zu sein. Das soll sie ruhig aushalten, es kann ihr nicht schaden, ihren verblüfften und mitleidigen Blick auf ihr kränkliches Aussehen zu ertragen – ein bisschen vernünftiger Realitätssinn, angemessen verpackt, der die Dinge wieder zurechtrückt.“

Inhalt

Laure hat sich seelisch und emotional komplett in sich zurückgezogen, menschliche Nähe lässt sie nicht mehr zu – warum auch? Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie ihren Körper endgültig zum Schweigen, zum Verhungern gebracht hat, die Zwangseinweisung in das Krankenhaus mit künstlicher Ernährung über eine Magensonde ist eigentlich nicht das, was sie vorhatte. Doch Dr. Brunel begegnet ihr gerade noch im letzten möglichen Augenblick vor der Katastrophe und nimmt sich ihrer an. Er holt sie zurück aus dem Gedankenkarussel, bei dem jede Nahrungsaufnahme einem Verbrechen gleichkommt und jedes gewonnene Kilo ein schwerer Schicksalsschlag ist. Nun muss sie sich mit dem Gedanken arrangieren, dass sie erst wieder nach Hause kann, wenn sie die magische Gewichtsgrenze von 50 kg erreicht hat – doch bis dahin ist es ein weiter, beschwerlicher Weg …

Meinung

Bisher konnte mich jedes Buch der französischen Autorin Delphine de Vigan ansprechen, so dass ich beschlossen habe, mich den noch fehlenden Büchern in meiner Bibliothek zu widmen, um ihr Gesamtwerk kennenzulernen und die Thematik Magersucht kenne ich zudem noch aus eigener Perspektive, nachdem eine gute Freundin von mir in ihrer Jugend ebenfalls im Krankenhaus zwangsernährt wurde.

In diesem Roman begibt sich der Leser tief hinein in das Gedankengut einer gestörten Seele, für die alles Schöne aus dem Leben verschwunden ist. Der Körper selbst hat keinen Wert mehr, er ist nur Ausdruck für das andauernde Verkümmern einer Seele und auch die Krankheit selbst hat kaum etwas mit einem angestrebten Schönheitsideal zu tun, denn es geht nicht um die Kilos an sich, sondern darum, die Kontrolle zu behalten und den Zeiger der Waage mittels Willenskraft immer weiter in die Knie zu zwingen. Was zunächst harmlos mit dem profanen Wunsch beginnt etwas weniger Gewicht zu haben, steigert sich in einen Wahn bei dem die Gesundheit ebenso wie die Schönheit schon lange auf der Strecke geblieben sind.

Laure durchläuft nun in der Gegenwart nicht nur die Schmerzen, die mit einer erzwungenen Kalorienzufuhr verbunden sind, sondern auch das Dilemma, das ihr Körper voller Dankbarkeit annimmt, was ihre Seele schon längst aufgegeben hat, die Chance auf ein mehr an Kraft und Lebensqualität. Bisher wollte Laure zwar nicht wirklich sterben (als logische Konsequenz ihrer Anorexie wäre das zwar denkbar, es gibt aber deutlich effektivere Wege), nein sie möchte aus dieser Welt verschwinden, ganz langsam, ganz bewusst und deutlich sichtbar für alle anderen – weil sie nichts mehr hält, für das es sich zu leben lohnt.

Erneut gelingt es der Autorin ein für mich erschütterndes Beispiel für vergeudete Lebenszeit greifbar werden zu lassen, die Ängste und Beklemmungszustände sind schonungslos, ehrlich und voller Traurigkeit. Dabei führt sie ganz allmählich die Ursachen aus dem familiären Umfeld ein, beurteilt nicht, warum es gerade dieser Leidensweg geworden ist und zeigt dennoch Möglichkeiten auf, aus dieser Endlosschleife an Hungern, Abnehmen und Verfallen herauszukommen, wenn man den Strohhalm ergreift, der sich bietet. Ein kleiner Kritikpunkt für mich: der Krankenhausalltag steht hier zentral im Mittelpunkt, die innere Arbeit, die Laure noch leisten muss, um wirklich geheilt zu werden, wird ausgeklammert. Sicherlich findet der Umstand Erwähnung, dass eine Rückkehr zu alten Verhaltensmustern nicht ausgeschlossen ist, und für Laure der Vorsatz zählt, ihr Versprechen nicht zu brechen, was sie Dr.Brunel gegeben hat: am Leben zu bleiben. Aber es hätte mir noch besser gefallen, wenn auch die Zeit danach mehr Aufmerksamkeit bekommen hätte. Selbst wenn das Ende des Buches einen erfreulichen Punkt benennt, so schenkt der Roman keine Einblicke in diese Zeit danach.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, für einen interessanten, innigen Blickwinkel hinein in die Untiefen der menschlichen Seele, die doch so verschiedenartige Krankheitsbilder hervorrufen können. Ich weiß nicht, ob sich diese Lektüre wirklich für Betroffene eignet, für Außenstehende aber durchaus, denn die Ängste und Bedenken sind bestens greifbar und vielseitig gestrickt, so dass man nicht im Mitleid versinkt aber durchaus nachvollziehen kann, welche Mechanismen hier wirken. Was bleibt ist diese Bedrückung und innere Verzagtheit, aber auch die Hoffnung gemeinsam mit Hilfe von außen die Dämonen zu besiegen. Vielleicht hätte ich mir auch gewünscht, dass irgendwo sichtbar wird, wie viel Last dem Körper zugemutet wird, wie schwerwiegend und irreparabel manche Spätfolgen der Magersucht sind und das es nur wenig bringt, die Wochen im Krankenhaus zu überstehen, wenn man den Ursachen nicht mittels einer Therapie begegnet. Meine Freundin hat sich nie mehr von der Krankheit richtig erholen können, trotz zweier Kinder ist sie selbst mit 34 Jahren an multiplem Organversagen gestorben und rein äußerlich hat sie es nie mehr auf ein gesundes Normalgewicht gebracht.

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Veröffentlicht am 25.05.2020

Die dunkle Vergangenheit von Sommerfuglen

Glasflügel
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"Trauer vergiftet alles Lebende und nimmt ihm die Farbe. Trauer ist ein Nichts, das durch die Blutbahnen läuft, durch Blätter, Halme und Steine, bis nur noch die äußere Hülle von etwas zurückbleibt.“

Inhalt

Die ...

"Trauer vergiftet alles Lebende und nimmt ihm die Farbe. Trauer ist ein Nichts, das durch die Blutbahnen läuft, durch Blätter, Halme und Steine, bis nur noch die äußere Hülle von etwas zurückbleibt.“

Inhalt

Die erste Leiche befindet sich öffentlich zur Schau gestellt in einem Springbrunnen im Zentrum der dänischen Hauptstadt Kopenhagen – eine Frau mittleren Alters, die anscheinend mit einem mittelalterlichen Gegenstand, einem Schröpfmesser hingerichtet wurde. Und als wenig später ein weiteres Opfer mit identischen Verletzungen im Wasser gefunden wird, laufen beim Mordermittler Jeppe Kørner sämtliche Ermittlungsansätze zusammen, die nun ein mögliches Motiv für die grausame Mordserie des Täters zu Tage fördern sollen.

Leider ist Kørner diesmal auf sich allein gestellt und bekommt nur den behäbigen Polizisten Falck zugeteilt, da seine Partnerin Anette Werner im Babyurlaub ist. Zunächst kommt er gut voran, denn die Verbindung zwischen den bisherigen Opfern ist ein mittlerweile geschlossenes Pflegeheim für psychisch gestörte Jugendliche. In Sommerfuglen, einer kleinen Einrichtung mit nur wenigen Patienen und ebenso wenigen Angestellten ist jedoch etwas schief gelaufen: Der Vater einer ehemaligen Bewohnerin, die sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschnitten hat, verklagte das Heim auf falsche Behandlungsmethoden und stümperhafte psychiatrische Gutachten. Seine erfolgreichen Einwände führten schließlich zur Schließung der Heilstätte. Für Kørner ist das durchaus ein plausibler Grund, für die Ermordung der ehemaligen Angestellten, doch alle Verdächtigen haben ein Alibi und irgendein weiteres Geheimnis muss es in Sommerfuglen noch gegeben haben, denn zwei Hauptverdächtige Patienten halten sich von der Polizei fern, doch gerade ihre Aussage scheint der Schlüssel zur Lösung des Falles zu sein.

Meinung

Dieser Band ist bereits der dritte aus der Kørner -Werner-Reihe der dänischen Autorin Katrine Engberg, die diesmal das korrupte und überlastete Gesundheitswesen unter die Lupe nimmt und dem Leser tiefe Einblicke in die Handlungsgepflogenheiten der ausführenden Gewalt gibt.

Dabei legt sie wie auch schon in den Vorgängerromanen großen Wert auf eine lebensnahe, glaubwürdige Erzählung, die in erster Linie Momentaufnahmen aus dem Leben der Beteiligten einfängt und diese in einen großen, umfassenden Rahmen setzt, um so nicht nur die reine Polizeiarbeit zu beleuchten, sondern generell die Entwicklung all ihrer Figuren. Anders als in blutreichen Action-Thrillern oder akribischen Ermittlungsfällen, lebt die Geschichte hier durch eine atmosphärische, vielfältige und komplexe Hintergrundgeschichte, die neben dem Kriminalfall auch das Privatleben der Ermittler lebendig werden lässt.

Spannungsmomente entstehen durch wechselnde Erzählperspektiven und unvorhergesehene Wendungen. Gerade hier wird z.B. deutlich, dass sich Anette Werner in ihrer Rolle als stillende Vollzeitmutter äußerst eingeengt fühlt und sich stattdessen im Geheimen mit den Eckdaten des aktuellen Falls beschäftigt und dort ansetzt, wo andere noch nicht waren. Auch ihre Präsenz und die diversen familiären Anforderungen nehmen einen hohen Stellenwert innerhalb des Buches ein. Je tiefer man in diese Kriminalreihe eintaucht, umso mehr entsteht das Gefühl, Teil einer großen Familie zu sein und gemeinsam mit den Figuren eine spannende Zeit zu durchlaufen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen erzählenden Kriminalroman, den man am Besten in chronologischer Reihenfolge liest, weniger wegen der Mordermittlung, sondern auf Grund der Figurenzeichnung und den Zusammenhängen. Inhaltlich werden zahlreiche lose Fäden verteilt, die sich wunderbar zu einem Höhepunkt verbinden und ganz nebenbei noch zahlreiche Hintergrundinformationen liefern. Empfehlenswert ist diese Reihe für alle, die den Mix aus Roman und Krimi mögen und mehr subtile Entwicklungen als brutale Gewalt bevorzugen. Insgesamt wirken sowohl der Plot als auch die Figuren ausgereift und als Leser wird man mit jedem Fall mehr in die Geschichte involviert, definitiv eine Reihe, die ich weiterverfolgen werde.

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Veröffentlicht am 17.05.2020

Schuld ist auch nur ein Synonym für Tod

Marta schläft
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„So funktioniert Schuld, Laura. Du wirst sie in dir tragen wie eine unheilbare Krankheit, wie ein Geschwür, das in dir wuchert, bis es dich eines Tages komplett zerfressen hat.“

Inhalt

Für Nadja Kulka ...

„So funktioniert Schuld, Laura. Du wirst sie in dir tragen wie eine unheilbare Krankheit, wie ein Geschwür, das in dir wuchert, bis es dich eines Tages komplett zerfressen hat.“

Inhalt

Für Nadja Kulka ist ihr Job in der Anwaltskanzlei bei Gero van Hoven der Einstieg in ein normales Leben, dort muss sie sich nicht erklären, weder das sie die Tochter einer polnischen Prostituierten ist, noch das sie mit 15 Jahren als Mörderin ebenjener eine Gefängnisstrafe absitzen musste. Ihr Onkel, der Seniorpartner in der Kanzlei, hat ihr die Anstellung besorgt, die sie in einen sozialverträglichen Alltag führen soll und weg von ihren Depressionen, Medikamenten und Panikattacken.

Doch die Vergangenheit holt Nadja schneller ein, als ihr lieb ist - als ihre Freundin Laura, die Ehegattin von Gero van Hoven sie vollkommen verstört anruft und ihr mitteilt, dass sie ihren Liebhaber ermordet hat und nicht weiß, was sie machen soll. Nadja kennt die Mechanismen von Angst, Reue, Scham und Schuld und eilt der Freundin zu Hilfe. Doch als sie bei der Leiche zusammensitzen und ihr weiteres Vorgehen besprechen, merkt sie, wie labil ihre heile Welt wirklich ist …

Meinung

Nachdem ich vergangenes Jahr voller Begeisterung das Thrillerdebüt der 1981 geborenen deutschen Autorin Romy Hausmann „Liebes Kind“ gelesen hatte, war mir klar, dass ich unbedingt ihren neuesten Zapfenstreich kennenlernen musste. Meine Erwartungshaltung an die Geschichte rund um ein wildes Verwirrspiel in den Kreisen der Gerichtsbarkeit war also dementsprechend hoch. Und obwohl mir der Einstieg nicht ganz leichtgefallen ist, wurde die Handlung zunehmend schlüssiger und die Spannungsmomente potenzierten sich, so dass ich auch dieses Buch kaum noch aus der Hand legen konnte.

Bei „Marta schläft“ beruht der Clou in erster Linie auf einem hochkomplexen Plot, den der geneigte Leser zunächst kaum versteht. Es existieren mehrere Handlungsebenen, diverse Protagonisten und scheinbar willkürliche Zeitsprünge, die es einerseits hochexplosiv wirken lassen, andererseits keiner klaren Linie folgen.

Die Folge davon ist ein Verwirrspiel der Extraklasse, eine mitreißende Story, eine emotionale Erzählung aus längst vergangenen Tagen und ein brisantes Geschehen in der dunklen und bösen Gegenwart. Die Autorin gestaltet ein intensives Psychogramm ihrer Hauptakteure und lässt mehrere psychisch labile bis aggressive Menschen aufeinandertreffen, die weder vor Intrigen noch gewalttätigen Spielchen, ja noch nicht einmal vor Mord zurückschrecken, um ihr selbstgewähltes Weltbild aufrecht zu erhalten.

Sind die Guten in Gefahr und die Bösen wirklich die Täter? Eine Frage, die sich unwillkürlich aufdrängt und im Verlauf des Thrillers sehr abwechslungsreich und voller Wendungen präsentiert wird. Denn dieser Spannungsroman bietet eine Vielfalt an möglichen Denkansätzen und lässt den Leser lange im Unklaren, eins ist er aber definitiv nicht, ein schnöder Roman mit herkömmlicher Ermittlungsarbeit und ein paar Leichen – hier steckt eine ganze Menge mehr drin.

Besonders die prägnante Textstruktur verleiht diesem Thriller seine Dichte. Kurze Kapitel wechseln sich mit einem Briefwechsel und längeren Episoden im Rückblick ab. Dabei fasziniert es mich, wie wenig Identifikation mit den Hauptakteuren von Nöten ist, um den Text dennoch faszinierend zu finden. Hier steht man als Leser außerhalb des Geschehens, schaut zu, beobachtet, sieht sich genötigt eigene Mutmaßungen anzustellen, die möglicherweise des Rätsels Lösung sein könnten. Dieser ganz eigene, unverwechselbare Grundton, schwingt auch hier wieder mit und macht aus einer eher harmlosen Geschichte einen sehr fesselnden Spannungsroman.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen einprägsamen Thriller, der mit einer Geschichte um Vergangenheitsbewältigung, Schuld und Reue aufwartet und durch seinen animierenden Stil unbedingt dazu auffordert, eigene Verdächtige auszumachen und den komplexen Inhalt auf eine schlüssige Story herunterzubrechen.

Wer „Liebes Kind“ mochte, wird auch an „Marta schläft“ Gefallen finden, obwohl das Debüt noch etwas mehr Durchschlagskraft besaß, so ist es hier der vielschichtige Hintergrund, der überzeugt. Ich freue mich jetzt schon auf weiteres Lesefutter aus der Feder der Autorin, sollte die Nr. 3 ebenfalls in dieser Liga spielen, hat Romy Hausmann eine neuen Fan gewonnen, allein schon weil sich ihre Bücher ganz wunderbar vom herkömmlichen Actionthriller abheben und irgendwo auch eine Saite im Inneren des Lesers zum Klingen bringen, die normalerweise nicht angesprochen wird.

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