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Veröffentlicht am 19.06.2020

Gelungener Auftakt einer historischen Hebammen-Saga

Fräulein Gold: Schatten und Licht
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INHALT
1922:
Hulda Gold ist gewitzt und unerschrocken und im Viertel äußerst beliebt. Durch ihre Hausbesuche begegnet die Hebamme den unterschiedlichsten Menschen, wobei ihr das Schicksal der Frauen ...

INHALT
1922:
Hulda Gold ist gewitzt und unerschrocken und im Viertel äußerst beliebt. Durch ihre Hausbesuche begegnet die Hebamme den unterschiedlichsten Menschen, wobei ihr das Schicksal der Frauen besonders am Herzen liegt. Der Große Krieg hat tiefe Wunden hinterlassen, und die junge Republik ist zwar von Aufbruchsstimmung, aber auch von bitterer Armut geprägt. Hulda neigt durch ihre engagierte Art dazu, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Zumal sie bei ihrer Arbeit nicht nur neuem Leben begegnet, sondern auch dem Tod. Im berüchtigten Bülowbogen, einem der vielen Elendsviertel der Stadt, kümmert sich Hulda um eine Schwangere. Die junge Frau ist erschüttert, weil man ihre Nachbarin tot im Landwehrkanal gefunden hat. Ein tragischer Unfall. Aber wieso interessiert sich der undurchsichtige Kriminalkommissar Karl North für den Fall? Hulda stellt Nachforschungen an und gerät dabei immer tiefer in die Abgründe einer Stadt, in der Schatten und Licht dicht beieinanderliegen.

(Quelle: Rowohlt )

MEINE MEINUNG
Der Roman „Fräulein Gold-Schatten und Licht“ ist der gelungene Auftakt einer neuen großartigen historischen Trilogie aus der Feder der deutschen Autorin Anne Stern, in deren Mittelpunkt die junge Berliner Hebamme Hulda Gold steht. Mit ihrer stimmigen Mischung aus zarter Liebesgeschichte, fesselndem Kriminalfall und der faszinierend ambivalenten Kulisse der 1920er Jahre in Berlin hat mich diese unterhaltsame Saga von Beginn an in ihren Bann gezogen.
Durch Sterns lebendigen und sehr anschaulichen Schreibstil gelingt es rasch, in die historische Vergangenheit des Jahres 1922 und in die unterhaltsame, aber auch fesselnde Geschichte um die sehr eigenwillige, selbstbewusste Hauptfigur Hulda Gold einzutauchen. Als sehr aufgeweckte, überall beliebte Hebamme ist sie im Berliner Elendsviertel Bülowbogen unterwegs und kann es sich wegen ihrer übergroßen Neugier nicht verkneifen, eigene Nachforschungen zum rätselhaften Tod einer älteren Prostituierten anzustellen. Dabei dauert es auch nicht lange, bis sie mit dem ermittelnden Kommissar North aneinandergerät.
Gekonnt entführt uns Stern ins Berlin der Goldenen 1920er Jahre - eine pulsierende Metropole im Wandel der Zeiten, allgegenwärtig noch die Auswirkungen des 1. Weltkriegs und ein Leben voller Kontraste und Abgründe, in dem Fortschritt, Luxus und Reichtum, aber auch bittere Armut, Verwahrlosung und Kriminalität nah beieinanderliegen. Gekonnt und atmosphärisch dicht portraitiert Stern das facettenreiche Alltagsleben und schillernde Nachtleben in der damaligen Hauptstadt der Weimarer Republik. Sie lässt uns am Schicksal der kleinen Leute teilhaben, gibt uns Einblick in die komplizierten politischen Verhältnisse der damals sehr labilen Demokratie und vermittelt insgesamt ein sehr stimmiges, authentisches und recht düsteres Bild der damaligen Zeit.
Die Geschichte lebt neben der sehr lebendig eingefangenen, zeitgeschichtlichen Kulisse vor allem von seinen interessanten und vielschichtig angelegten Figuren. Die verschiedenen Charaktere sind allesamt detailliert und liebevoll ausgearbeitet, so dass sie äußerst lebensnah wirken. Hervorragend gefallen hat mir vor allem die sympathische, sehr aufgeweckte 26-jährige Hulda, die als ledige, berufstätige Hebamme ihre Unabhängigkeit zu schätzen weiß, für die damalige Zeit aber als ein spätes Mädchen galt. Sie ist eine tatkräftige, selbstbewusste und unkonventionelle Frau, die sehr mitfühlend und hilfsbereit angesichts der Missstände in ihrem Kiez ist, sich aber auch durchzusetzen weiß und sich so manches Mal in große Schwierigkeiten bringt. Eine faszinierende, recht rätselhafte und unnahbare Figur mit vielen Ecken und Kanten ist auch der ermittelnde Kommissar Karl North, der immer wieder von großer Dunkelheit umfangen ist und mit seiner Herkunft und Vergangenheit zu kämpfen hat. Da er die Ermittlungen zu Ritas Tod nur mit sehr geringem Engagement vorantreibt, mischt sich Hulda zunehmend in die Nachforschungen ein. Oft amüsant, bisweilen aber auch etwas anstrengend empfand ich das Hin-und Her zwischen den beiden schwierigen Charakteren. Jede Begegnung glich einer Achterbahnfahrt der Gefühle und schwankte zwischen zarten Annäherungsversuchen und ruppigen Reaktionen. Schließlich gelingt es den beiden aber doch, allerdings mit Hilfe einiger Zufälle, die Hintergründe für Ritas traurigen Tod aufzudecken.
Die Ermittlungen führen uns zu vielen abgründigen Seiten der Gesellschaft, dorthin wo Elend, Armut, Prostitution, Alkoholismus und Verbrechen allgegenwärtig sind. In eingeschobenen Passagen mit Auszügen aus einem Notizbuch der verstorbenen Rita Schönbrunn erhalten wir schrittweise Einblicke in das bedrückende Leben dieser Frau, die uns schrittweise an ihrem tragischen Schicksal und ihrem sozialen Abstieg teilhaben lassen. Zudem erfahren wir mehr über ein düsteres Kapitel der deutschen Medizingeschichte und den schockierenden und grausamen Umgang mit Nervenkranken in den Irrenanstalten und Nervenlazaretten jener Zeit.
Nach dem Epilog zum Ausklang darf man sehr gespannt sein, wie sich die Geschichte zwischen Hulda und Karl weiterentwickeln wird und ob es bald einen neuen packenden Fall für das immerhin erfolgreiche Ermittlerteam aus Hebamme und Kommissar geben wird.

FAZIT
Ein gelungener Auftakt einen neuen Hebammen-Saga mit einer stimmigen Mischung aus zarter Liebesgeschichte, fesselndem Kriminalfall, sympathischen Charakteren und viel Berliner Flair!
Eine fesselnde Zeitreise ins Berlin der 1920ger Jahre voller Licht und Schatten!

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Veröffentlicht am 08.06.2020

Vielschichtiger, mitreißender Roman

Miracle Creek
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INHALT
In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht ein Sauerstofftank in Flammen auf. Zwei Menschen sterben – Kitt, die eine Familie mit fünf Kindern zurücklässt, und Henry, ein achtjähriger Junge. ...

INHALT
In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht ein Sauerstofftank in Flammen auf. Zwei Menschen sterben – Kitt, die eine Familie mit fünf Kindern zurücklässt, und Henry, ein achtjähriger Junge.
Im Prozess wegen Brandstiftung und Mord sitzt Henrys Mutter Elizabeth auf der Anklagebank. Und die Beweise sind erdrückend. Hat sie ihren eigenen Sohn ermordet? Während ihre Freunde, Verwandten und Bekannten gegen sie aussagen, wird klar:
In Miracle Creek hat jeder etwas zu verbergen.
(Quelle: Hanserblau – Erscheinungsdatum: 9.3.20 – ISBN: 978-3-446266308 - Übersetzung von Marieke Heimburger)

MEINE MEINUNG
Mit ihrem Debüt «Miracle Creek» ist der in Südkorea geborenen und in den USA lebenden Autorin Angie Kim ein vielschichtiger, mitreißender Roman gelungen, der mich mit seiner faszinierenden Mischung aus fesselndem Gerichtsdrama und tragischer Familiengeschichte hervorragend unterhalten konnte.
Feinfühlig und sehr eindringlich erzählt die Autorin in ihrem Roman von einem undurchdringlichen Geflecht aus kleinen Lügen und Unwahrheiten, die schließlich eine Kettenreaktion von fatalen Ereignissen nach sich ziehen und mit dem Tod zweier Menschen in einer großen Katastrophe enden. Geschickt beleuchtet sie zudem komplexe Themenfelder wie die Assimilation von Immigrantenfamilien und dem Bewahren der eigenen Identität im fremden Land aber auch der Mutterrolle, unerfülltem Kinderwunsch und der komplizierten Dynamik von Mutter-Kind-Beziehungen, dem Umgang mit behinderten Kindern sowie der Opferbereitschaft von Eltern. Es ist ein tiefgründiger Roman, der betroffen macht, uns Lesern einen Spiegel vorhält und zum Nachdenken anregt.
Zu Beginn lässt uns die Autorin im vorangestellten Kapitel „Der Vorfall“ hautnah an den letzten, verhängnisvollen Minuten vor der Katastrophe, dem Brand und der Explosion der HBO-Kammer in Miracle Creek teilhaben. Quasi als Augenzeugen folgt man gebannt dem etwas wirren Bericht von Young Yoo aus der Ich-Perspektive. Der nachfolgende, fast ein Jahr nach der furchtbaren Tragödie angesiedelte Hauptteil des Romans ist als ein Gerichtsdrama angelegt. Über vier Tage hinweg nimmt der Leser Anteil an dem Prozess gegen Henrys angeklagte Mutter Elizabeth, in dem die Brandstiftung und der mutmaßliche Mord an dem 8-jährigen, autistischen Henry und Kit, einer Mutter von 5 Kindern, verhandelt werden. Geschickt lässt die Autorin bei den Befragungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung nach und nach verschiedene Figuren, wie Freunde, Verwandte und Bekannte der Angeklagten, aber auch die Mitglieder der koreanischen Familie Yoo, zu Wort kommen und lässt den Leser so an deren unterschiedlichen Sichtweisen teilhaben. Je weiter die Gerichtsverhandlung voranschreitet und je mehr Hintergründe und neue Erkenntnisse zu den Geschehnissen enthüllt werden, desto deutlicher wird, dass jeder der Beteiligten etwas zu verbergen hat. Jeder der Protagonisten hat Geheimnisse, die er sorgsam verbirgt und eine breite Palette abdecken wie beispielsweise Neid, Eifersucht, Begierde, Rivalität oder Verbitterung. Der permanente Wechsel zwischen den Perspektiven, eingestreute Andeutungen und implizierte Vorahnungen erzeugen beim Leser ein ungutes Gefühl und steigern die Spannung ungemein. Nach und nach enthüllt die Autorin immer neue Widersprüche, unzählige Unwahrheiten und bewusste Lügen. Von Kapitel zu Kapitel zeigen immer neue Details, wie verschiedene Ereignisse, Missverständnisse, fehlender Kommunikation und die unglückliche Verkettung fatale Fehlentscheidungen schließlich in dieser Tragödie münden konnten.
Aus den vielen Puzzlesteinchen ergibt sich schließlich ein bedrückendes und nachdenklich stimmendes Gesamtbild.Hervorragend gelungen sind der Autorin ihre unterschiedlichen Charaktere, die sie sehr vielschichtig, lebendig und mit nuancierten Persönlichkeiten ausgearbeitet hat, so dass ihre Entscheidungen und Handlungen stets nachvollziehbar und glaubwürdig sind. Mit außerordentlich gutem, psychologischem Feingespür enthüllt sie menschliche Sehnsüchte, Wunschdenken, folgenschwere Fehlurteile und allzu menschliche Irrtümer und zeigt uns letztlich die Komplexität des Lebens auf. Am Ende bleibt ein großer Scherbenhaufen zurück, aus dem aber auch wieder leise Hoffnung erwächst.

FAZIT
Ein vielschichtiger, eindringlicher Roman über verborgene Geheimnisse, kleine Lügen und menschliche Abgründe. Großartig geschrieben, spannend und lesenswert!

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Veröffentlicht am 07.06.2020

Ein erschütternder, historischer Roman

Die Unwerten
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INHALT
Frankfurt am Main, 1939.
Die vierzehnjährige Hannah bricht vor ihren Mitschülern in einem Krampfanfall zusammen. Bisher war es ihr gelungen, ihre Epilepsie zu verheimlichen, doch jetzt meldet ihr ...

INHALT
Frankfurt am Main, 1939.
Die vierzehnjährige Hannah bricht vor ihren Mitschülern in einem Krampfanfall zusammen. Bisher war es ihr gelungen, ihre Epilepsie zu verheimlichen, doch jetzt meldet ihr linientreuer Lehrer sie bei der Obrigkeit. Hannah gerät ins Visier des NS-Terrorapparates, denn die Nazis haben sich zum Ziel gesetzt, alles „lebensunwerte Leben“ zu vernichten.
Hannahs Schicksal liegt nun in den Händen des Gutachterarztes Joachim Lubeck, einem gewissenlosen Opportunisten, der für seine Karriere über Leichen geht.
(Quelle: Gmeiner - Erscheinungsdatum: 12.02.2020 - ISBN: 978-3-8392-2646-9)

MEINE MEINUNG
„Die Unwerten“ von Volker Dützer ist der aufwühlende Auftaktband einer historischen Romanreihe um die junge Halbjüdin Hannah Bloch. Hierin hat sich der Autor eines beklemmenden Themas und finsteren Kapitels der deutschen Geschichte angenommen – den Euthanasieverbrechen durch die Nationalsozialisten im Dritten Reich und ihrem menschenverachtenden Projekt Aktion T4, das zum Ziel hatte „lebensunwertes Leben“ zu vernichten. Diese gehörten zu den nationalsozialistischen Untaten, die eher selten in den Medien thematisiert werden und deren Ausmaße nur wenigen bekannt sein dürften.
In seinem äußerst umfangreichen und vielschichtigen Roman ist es Dützer hervorragend gelungen, die vielen sorgsam recherchierten Details zu den Euthanasieverbrechen der Nazis in einer bewegenden und zugleich fesselnden, fiktiven Handlung anschaulich und nachvollziehbar darzustellen. Sehr gut ist es ihm auch gelungen, die damalige Zeit facettenreich und glaubhaft heraufzubeschwören.
Im Mittelpunkt der äußerst ergreifenden, fiktiven Geschichte steht die junge Protagonistin Hannah, die wegen ihrer Epilepsieerkrankung und ihres aufmüpfigen Verhaltens als „nicht abrichtbar“ abgestempelt wird, auf die Liste der Aktion T4 und in die Fänge des skrupellosen Gutachterarztes Joachim Lubeck gerät. Hannahs bewegenden Lebensweg begleiten wir in diesem Band über eine Zeitspanne von 1939 bis in die frühe Nachkriegszeit von 1946. Aus Hannahs Perspektive erlebt der Leser hautnah ihren schwierigen Alltag als Halbjüdin mit, ihre Ängste und zunehmenden Restriktionen, die das Nazi-Regime ihr aufbürdete. Wir begleiten sie auf ihrem leid- und gefahrvollen Weg durch die Nazizeit, durchleben an ihrer Seite Demütigungen, Verfolgung, bittere Verluste und das erschütternde Schicksal vieler ihrer Verbündeten und Wegbegleiter. Dank vieler Helfer, ihrer Cleverness und oftmals auch nur puren Glücks gelingt es ihr mehr als einmal ihren Häschern zu entkommen und zu überleben. Als einen gewissen Bruch in der Geschichte nimmt man dann Hannahs Erlebnisse im letzten Teil des Romans wahr. Dieser Handlungsstrang erzählt eine eigene, äußerst spannungsgeladene Episode rund um Hannahs weiteren Lebensweg, führt aber auch die nervenaufreibenden Geschehnisse der letzten Kriegstage und der Nachkriegszeit zu einem plausiblen und zufriedenstellenden Ende. Ich bin schon sehr gespannt auf eine Fortsetzung dieser Reihe und Hannahs weiteren Lebensweg.
Hannahs fiktives Schicksal zeigt stellvertretend auf, was es Menschen im 3. Reich erging, die nicht dem verklärten, rassischen Idealbild eines „Herrenmenschen“ entsprachen – also nicht die richtige Ethnie, Hautfarbe oder Kultur besaßen oder aufgrund von unerwünschten Krankheiten als erblich „minderwertig“ galten. Bei vielen wurde eine Zwangssterilisierung vorgenommen, doch schon bald wurde ein weitaus grausameres Ziel verfolgt und die gezielte Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens in den Heil- und Pflegeanstalten vorangetrieben. Die geschilderte unbarmherzige Systematik und die brutale, skrupellose Vorgehensweise der vielen Handlanger des NS-Apparates gehen unter die Haut. Am Beispiel der fiktiven Figur des Psychiaters und Gutachterarztes Joachim Lubeck macht der Autor sehr anschaulich deutlich, wie aus einem zunächst eher willensschwachen, jungen Menschen ein skrupelloser, karrierebesessener und abscheulicher Mitläufer wird, der sich schließlich freiwillig und ohne Bedenken an den Euthanasieverbrechen beteiligt und zu einem willfährigen Massenmörder wird, der nur seinen eigenen Vorteil im Auge hat.
Die zahlreichen, gut ausgearbeiteten Charaktere und Dützers angenehmer, eindringlicher Schreibstil lassen diesen Roman trotz seiner bedrückenden Thematik zu einem wahren Page Turner werden.
Mehr über die umfangreichen Recherchen des Autors und Hintergründe zu seinem Roman erfährt man in dem äußerst lesenswerten Nachwort.

FAZIT
Ein erschütternder und zugleich fesselnder historischer Roman, der einen wichtigen Beitrag dazu leistet, die Erinnerungen an die Untaten der Nazidiktatur wach zu halten, auf dass das unendliche Leid der Opfer niemals in Vergessenheit gerät!

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Veröffentlicht am 20.04.2020

Intensiver, aufrüttelnder aber sehr anstrengend zu lesender Roman

Milchmann
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INHALT

Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt ...

INHALT

Eine junge Frau zieht ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen und erschreckend älteren Mannes auf sich, Milchmann. Es ist das Letzte, was sie will. Hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt man besser niemandes Interesse. Und so versucht sie, alle in ihrem Umfeld über ihre Begegnungen mit dem Mann im Unklaren zu lassen. Doch Milchmann ist hartnäckig. Und als der Mann ihrer älteren Schwester herausfindet, in welcher Klemme sie steckt, fangen die Leute an zu reden. Plötzlich gilt sie als »interessant« – etwas, das sie immer vermeiden wollte. Hier ist es gefährlich, interessant zu sein.

(Quelle: Tropen Verlag – Erscheinungsdatum: 22.2.20 – ISBN: 978-3-608504682 - Übersetzung aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll)



MEINE MEINUNG

Der Roman » Milchmann « aus der Feder der nordirischen Autorin Anna Burns wurde bereits 2018 mit dem Man Booker Prize - dem bedeutendsten britischen Literaturpreis - ausgezeichnet und ist nun auch auf Deutsch erschienen.

Es ist ein faszinierender, aufwühlender und äußerst eindringlich geschriebener Roman mit sehr bissigem Humor, der eine sehr ernste und erstaunlich aktuelle Thematik behandelt, macht er doch deutlich wie nachhaltig der Alltag durch einen Bürgerkrieg beeinträchtigt werden kann und welche Auswirkungen die permanente Gewalt auf die Zivilgesellschaft hat.

Obwohl die Autorin bewusst den Handlungsort, die Schauplätze und sogar das Zeitkolorit weitgehend unkenntlich gemacht hat und beispielsweise mit „jenseits der See“ oder „jenseits der Grenze“ umschrieben hat, fällt einem die Verortung der Handlung nicht schwer. Ihre Geschichte ist während des Nordirland-Konflikts in den 1970ger Jahren in einem katholischen Viertel in Belfast angesiedelt – einem Bürgerkrieg, in dem Autobomben, Erschießungskommandos und Tote den Alltag beherrschten.

Bereits der verstörende Beginn des Romans mit dem ersten Satz „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb." konfrontiert uns mit einer schockierenden Welt voller Gewalt und Brutalität.

Die 18-jährige namenlose Ich-Erzählerin schildert rückblickend über eine Verkettung von ungeheuerlichen Ereignissen, die man zunächst gar nicht richtig einzuordnen vermag.

Unbeabsichtigt hat die junge Erzählerin die Aufmerksamkeit eines über 40-jährigen Manns, der ein hochrangiger und hochgeschätzter Untergrundkämpfer ist und von allen „Milchmann“ genannt wird, auf sich gezogen. Obwohl sie ihm keine Beachtung schenkt, lauert er ihr beim Joggen regelmäßig auf und stalkt sie hartnäckig. Schon bald gehen Gerüchte im Viertel um und ihr wird eine Affäre ihm unterstellt.

Aus Sicht der Erzählerin erfahren wir hautnah wie sehr die permanente Angst vor Begegnungen mit Milchmann und die kursierenden Gerüchte ihr nicht nur psychisch sondern zunehmend auch physisch zusetzen.

Die Autorin bedient sich einer besonderen, Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführten, nicht-linearen Erzähltechnik, bei welcher der Erzählschwerpunkt weniger auf der eigentlichen Handlung liegt, sondern eher assoziative und sehr ausschweifende Betrachtungen an Erzähltes anknüpfen. Obwohl es anfangs äußerst schwierig ist, sich in den ungewöhnlichen und sehr anstrengenden Schreibstil der Autorin mit viel schwarzem Humor hineinzufinden, dauert es nicht lange, bis man dem sehr authentisch wirkenden, inneren Monolog und endlos mäandrierenden Gedankenfluss der Ich-Erzählerin gebannt folgt. Die sehr vielschichtig angelegte Protagonistin wird als eine eigenwillige, kritisch eingestellte und sehr clevere junge Frau geschildert, die am liebsten den Kopf in alte Schmöker aus dem 18. Jahrhundert steckt und im Gehen liest, um bloß nicht aufzufallen. Von allen Seiten wird sie mit verschiedensten Erwartungen konfrontiert und unter Druck gesetzt, so dass sie weit davon entfernt ist, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Sehr unmittelbar nehmen wir Anteil an der intensiven Innenansicht der Hauptfigur, ihren sehr abschweifenden Gedanken und ambivalenten Einstellung zu ihrem Alltag und dem Leben in ihrem Bezirk, das geprägt ist von Tratsch, Misstrauen, Verleumdungen, Bespitzelungen und permanenter Angst. Alles unterliegt den strengen, oft widersinnigen Regeln der Gemeinschaft, denen man sich unterzuordnen hat. Gekonnt beschwört die Autorin einen unglaublich komplexen, höchst beklemmenden und kafkaesk anmutenden Mikrokosmos herauf, der sich während der langandauernden Konflikte herausgebildet und immer absurdere Züge angenommen hat. Sie schildert anhand einer Vielzahl von Beispielen eine Gesellschaft mit komplexen Loyalitätsregeln, die totalitäre Züge trägt, und ein Urmisstrauen gegen die Staatsgewalt und ihre Einrichtungen besitzt und verdeutlicht, was alles unter dem schädlichen Klima von Unterdrückung durch das Patriachat und der Kirche schiefläuft.

Faszinierend ist es mitzuerleben, wie die Protagonistin, die eigentlich unauffällig sein und sich aus den politischen Konflikten heraushalten möchte, mit ihrer schrägen, desinteressierten und distanzierten Art diesen seltsamen Mikrokosmos stört und zunehmend in den Augen der anderen suspekt erscheint. So verselbständigen sich allmählich die Gerüchte um sie immer mehr und eine Kaskade von fatalen Verwicklungen nimmt unaufhaltsam seinen Lauf. Doch in all dem Irrsinn und der Gewalt gibt es auch Hoffnungsträger wie die Themenfrauen und den Echten Milchmann.

Trotz aller Surrealität erzählt Anna Burns aber auch eine sehr beklemmende, authentische Geschichte über gesellschaftliche Entwicklungen, die auch auf andere Regime oder Bürgerkriegsgebiete übertragbar ist und sogar als Mahnung vor aktuellen Entwicklungen gedeutet werden kann.


FAZIT
Ein unglaublich intensiver, aufrüttelnder Roman über das Leben im Nordirland der 1970er-Jahre, der einen noch länger beschäftigt! Eine sehr anstrengende, herausfordernde aber lesenswerte Lektüre!

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Veröffentlicht am 22.03.2020

Anspruchsvoller Roman mit interessantem zeitgeschichtlichen Hintergrund

Der Empfänger
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INHALT
Vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es in den Straßen New Yorks. Antisemitische und rassistische Gruppierungen eifern um die Sympathie der Massen, deutsche Nationalisten feiern Hitler ...

INHALT
Vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es in den Straßen New Yorks. Antisemitische und rassistische Gruppierungen eifern um die Sympathie der Massen, deutsche Nationalisten feiern Hitler als den Mann der Stunde. Der deutsche Auswanderer Josef Klein lebt davon relativ unberührt; seine Welt sind die multikulturellen Straßen Harlems und seine große Leidenschaft das Amateurfunken. So lernt er auch Lauren, eine junge Aktivistin, kennen, die eine große Sympathie für den stillen Deutschen hegt. Doch Josefs technische Fähigkeiten im Funkerbereich erregen die Aufmerksamkeit einflussreicher Männer, und noch ehe er das Geschehen richtig deuten kann, ist Josef bereits ein kleines Rädchen im Getriebe des Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr. Josefs verhängnisvoller Weg führt ihn später zur Familie seines Bruders nach Neuss, die den Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten aus der Innenperspektive erfahren hat, und letztendlich nach Südamerika, wo ihn Jahre später eine Postsendung aus Neuss erreicht. Deren Inhalt: eine Sternreportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika.
(Quelle: Klett Cotta-Verlag)
MEINE MEINUNG
In ihrem historischen Roman „Der Empfänger“ widmet sich die deutsche Autorin Ulla Lenze sehr eindrücklich einem zeitgeschichtlichen Thema, über das bei uns in Deutschland sehr wenig bekannt und völlig in Vergessenheit geraten ist. Hierbei handelt es sich um die rechtsradikalen Strömungen in den Vereinigten Staaten ab den frühen 1930erJahren, die Infiltration der USA durch deutsche Agenten während des 2. Weltkriegs und die Bildung eines Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr.
Ulla Lenze erzählt die faszinierende Lebensgeschichte von Josef Klein, einem jungen Mann aus dem Rheinland, der 1925 der Armut und den chaotischen Verhältnissen der Weimarer Republik entflieht und nach Amerika ausgewandert ist, in New York kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs vom Geheimdienst der Nazis rekrutiert und schließlich vom FBI enttarnt wird. Nur haarscharf entgeht er der Todesstrafe auf dem elektrischen Stuhl, wird interniert und später ins Nachkriegsdeutschland abgeschoben.
Lenze ist ein anspruchsvoller, hervorragend recherchierter historischer Roman gelungen, der mich bald völlig in seinen Bann gezogen hat. Faszinierend finde ich zudem, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten basiert und in Teilen die Lebensgeschichte ihres Großonkels wiedergibt.
Gekonnt lässt Lenze uns gemeinsam mit ihrem Protagonisten und jungen Exilanten Josef Klein in die fesselnde, quirlige Metropole New York jener Zeit und in eine Atmosphäre voller Kontraste eintauchen. Sehr anschaulich fängt sie das faszinierend- lebendige Flair der verschiedensten Kulturen und Ethnien ein, lässt uns die Tristesse der Emigranten-Ghettos erahnen, das harte Alltagsleben, die Sorgen und Nöte der kleinen Leute sowie die durch unterschiedliche, politische Strömungen aufgeheizte Stimmung in den Vierteln. Auch äußerst interessante Details zur deutschen Kultur der Deutschamerikaner in New York oder dem Treiben der nationalsozialistischen Organisation - dem Amerikadeutschen Bund hat Lenze geschickt in die Handlung eingewoben.
„Der Empfänger“ ist kein fesselnder Spionagethriller mit rasanter Story. Dennoch ist es der Autorin hervorragend gelungen, über die psychologische Entwicklung ihrer facettenreichen Hauptfigur Spannung aufzubauen, denn immer mehr beschäftigt den Leser die Frage, wieso sich dieser eher freiheitsliebende, weltoffene, unpolitische Mensch in die Arbeit der deutschen Abwehr hat verstricken lassen und wie er als Amateurfunker zum Handlanger der Nazis werden konnte. Mit viel Feingespür hat Lenze die faszinierende, ambivalente Persönlichkeit ihrer Hauptfigur mit all ihren Ecken und Kanten herausgearbeitet. Nach und nach lernen wir diesen Josef Klein in verschiedenen Lebensabschnitten, Zeitebenen und Schauplätzen kennen. In unterschiedlichen Episoden beleuchtet die Autorin sein Leben während der Nazizeit in New York als Joe, während seiner Zwischenstation bei seinem Bruder im kargen Nachkriegsdeutschland als Josef und nach seiner Auswanderung nach Südamerika in den frühen 1950er Jahren auf seinen weiteren Stationen als Don José in Buenos Aires unter den Exildeutschen und in Costa Rica. Ein eigenwilliger, eher passiver Zeitgenosse, der sich ohne konkrete Lebensziele treiben lässt – ein Exilant, der sich zwischen den Welten und Kulturen bewegt, aber nirgendwo richtig angekommen und ohne Heimat ist, sich überall fremd fühlt – eine letztlich tragische Figur. Je mehr wir über ihn mit all seinen Widersprüchen, unglücklichen Verstrickungen und sein Schicksal erfahren, desto mehr macht sich eine Beklommenheit breit. Sympathien und großes Mitgefühl bringt man diesem feinfühligen, etwas naiv wirkenden Menschen entgegen, der sich hat ködern lassen und als ein eher kleines Rädchen in die Fänge der großen Weltpolitik gerät. Sein opportunistisches Handeln kann man zwar nachvollziehen jedoch nicht gutheißen, denn hierdurch hat er sich auch zu einem Täter gemacht und wissentlich die Aktivitäten gedeckt. So begegnet man Josef Klein letztlich mit einer gewissen Distanz und gemischten Gefühlen, denn sein Innenleben und seine Motive bleiben einem bis zum Ende größtenteils fremd und unergründlich, was sicherlich von der Autorin gewollt ist und der Persönlichkeit dieser Figur durchaus gerecht wird.
Im Anhang des Romans findet sich für alle interessierten Leser*innen zur weiteren Vertiefung in das interessante Thema noch eine ausführliche Zusammenstellung von empfehlenswerten Lektüren, die die Autorin auch als Quellen genutzt hat.
FAZIT
Ein anspruchsvoller, hervorragend recherchierter historischer Roman, der mit einer faszinierenden und fesselnden Geschichte über eine tragische Figur, die auf wahren Begebenheiten basiert. Sehr lesenswert!

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