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Veröffentlicht am 04.09.2020

Pandemien im Wandel der Zeit

Pest und Corona
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Wie bei jedem Thema des "Zeitgeistes" hat der Buchmarkt aktuell auch einiges zu "Corona/Covid-19" zu bieten, und ich frage mich bei diesen Büchern ja immer, wie viel davon Schnellschuss ist und was wirklich ...

Wie bei jedem Thema des "Zeitgeistes" hat der Buchmarkt aktuell auch einiges zu "Corona/Covid-19" zu bieten, und ich frage mich bei diesen Büchern ja immer, wie viel davon Schnellschuss ist und was wirklich halbwegs interessante, hilfreiche oder zumindest nicht vollends verschwurbelte Lektüre zum Thema sein möge. Ist so ein Buch in einer Zeit, in der wöchentlich, wenn nicht täglich eine neue Sachlage neue Reaktionen und Folgen hervorruft, nicht zur Erscheinung schon überholt?

Nun, mit diesem vorliegenden Werk macht man, was diese Überlegungen angeht, nicht viel falsch. Dieses Buch erscheint in der Tat zum "richtigen" Zeitpunkt (oder dem, was einem solchen in diesen Tagen entspricht), denn es fokussiert nicht allein auf die Gegenwart und leitet daraus mögliche spekulative Entwicklungen ab. Es vergleicht vielmehr die aktuelle Pandemie mit vorherigen, analysiert die damaligen Vorgehen und ihre Ergebnisse und versucht, daraus Empfehlungen für die aktuelle Situation abzuleiten.

Natürlich wird auch dieses Buch in absehbarer Zukunft zumindest teilweise überholt sein - was das aktuelle Zahlenmaterial und den aktuellen Forschungsstand (hier: Ende April 2020) betrifft. Zum Zeitpunkt des Lesens fiel das noch nicht so ins Gewicht, abgesehen davon ist der eigentliche Inhalt dann wieder recht zeitlos. Die Autoren sind "alte Hasen" in Sachen Medizin und Medizingeschichte, müssen sich also nicht groß in eine komplett neue Materie einarbeiten. Auch dies erklärt sicher einen Teil der "schnellen" Veröffentlichung.

Grundsätzlich ist die Sprache und Argumentation der Autoren sehr sachlich und verständlich. Sie vergleichen Corona auf verschiedenen Ebenen mit vergangenen, großen Pandemien - von Pest und Cholera über Polio, Malaria und Spanische Grippe bis hin zu Aids - Beispiele gibt es genügend. Wie wurden diese Pandemien entdeckt, eingedämmt, wie wurde ihnen vorgebeugt? Welche Maßnahmen erwiesen sich als hilfreich, welche als unsinnig? Und welche Lehren wurden daraus gezogen? Die Autoren stellen auch durchaus kritische Fragen, aber auch hier: Sachlichkeit first! Das kommt alles sehr seriös und fundiert daher.

Die medizinhistorischen Bereiche haben mir gut gefallen. Da waren einige durchaus spannende, teils erschreckende und auch sehr informative Aspekte dabei. Allerdings gab es dafür auch einige Passagen, die sich teils sehr detailliert mit verschiedenen naturwissenschaftlichen Teilbereichen befasst haben. Da hat mir das Buch etwas zu sehr geschlingert und ich fragte mich (und das nach immerhin gut einem Drittel des Textes), ob ich überhaupt zum Zielpublikum gehöre. War mir persönlich an diesen Stellen eindeutig zu wissenschaftlich. Auch kam mir der "Ausblick-Teil" zu wenig vor, hier hatte ich mir etwas mehr von erhofft.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Empfehlenswertes Buch zum Thema

Vom Ende der Klimakrise
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Ein grundsolides, durchaus auch informatives Werk der deutschen Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer und des Politökonomen Alexander Repenning. Den "jungen Leuten" werden ja oft mangelnde Kenntnisse, ...

Ein grundsolides, durchaus auch informatives Werk der deutschen Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer und des Politökonomen Alexander Repenning. Den "jungen Leuten" werden ja oft mangelnde Kenntnisse, blinder Aktionismus und/oder übereifrige Panikmache vorgeworfen. Mit diesem Buch beweisen sie, dass sie sehr wohl wissen, wovon sie sprechen, warum sie das tun und was sie fordern (und warum).

Es versteht sich dabei fast schon von selbst, dass dies kein Buch ist, das individuelle Tipps zu einem nachhaltigeren Leben auflistet. Das kann es und will es auch gar nicht. Denn natürlich trägt auch dieses Buch die eindeutige Botschaft: Die Taten und Verhaltensweisen jedes Individuums in allen Ehren, solange sie keine größere Bewegung auslösen, muss viel "weiter oben" angesetzt werden - hier sind sich die meisten AutorInnen der Bewegung/Thematik (zumindest die, die ich bisher dazu gelesen habe) ja ziemlich einig.

Die AutorInnen erklären vielmehr ihre allgemeine als auch sehr persönliche Motivation zu ihrem Engagement in der Klimakrise. Sie zeigen die verschiedenen Facetten der Krise auf: Warum sie nicht nur "allgemein scheiße" ist, sondern, warum sie von der globalen Ungerechtigkeit nur noch weiter befeuert wird und sie gleichzeitig vorantreibt, inwiefern der Kapitalismus dem Ganzen Vorschub leistet, wie es mit der "Generationenverantwortung" aussieht und warum es so schwer fällt, gegen all das anzugehen.

Auch die Leidenschaft der AutorInnen sticht hervor - vor allen in den hinteren Kapiteln, die sich hauptsächlich mit der Mobilisierung (von sich selbst und anderen) beschäftigt und motivierende Aufrufe, Tipps und konkrete Vorschläge bietet.

Grundsätzlich kann man also sagen, dass das Buch eine gute Übersicht zur Faktenlage und eine ebensolche Basis für weitere Diskussionen bietet. Allerdings hatte das Werk für mich auch seine Längen - hier und da fand ich es auf der persönlichen Ebene doch zu ausschweifend. Natürlich ist es eine interessante Info, was die AutorInnen persönlich bewegt, und ich verstehe auch, dass sie sich so einiges vielleicht auch einfach mal "von der Seele schreiben" wollten - gerade Luisa Neubauer musste sich ja hier und da so einiges anhören. Mir persönlich wurde es dann an einigen Stellen aber doch zu viel. Nichtsdestotrotz ein empfehlenswertes Buch zum Thema.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Eindringliches Buch, das anprangert

Das Mädchen
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"Das Mädchen" ist eine brutale, erschütternde Geschichte über ein Land, in dem der Terror wütet, und über die, die am meisten darunter leiden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Maryam, das eines Tages gewaltsam ...

"Das Mädchen" ist eine brutale, erschütternde Geschichte über ein Land, in dem der Terror wütet, und über die, die am meisten darunter leiden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Maryam, das eines Tages gewaltsam mit ihren Klassenkameradinnen von den Mitglieder von Boko Haram entführt wird. Leider keine Seltenheit, denn im ländlichen Nigeria des Romans ist kaum jemand von der Terrorgruppe sicher. Ganze Dörfer werden verwüstet, die meisten Einheimischen getötet, nur den Kindern droht ein ganz "besonderes" Schicksal. Beide Geschlechter werden mittels Gehirnwäsche und Gewalt gefügig gemacht: Die Jungs so zu Kämpfern gegen das eigene Volk "erzogen", die Mädchen zu (Sex)sklavinnen entmündigt. Maryam bekommt diesen Terror mit voller Wucht zu spüren: Ihrer Welt entrissen, emotional und körperlich auf übelste Weise missbraucht, als Dienerin zu niederen Arbeiten gezwungen und schließlich zwangsverheiratet und geschwängert - leider bringt sie aber nur ein weiteres Mädchen zur Welt, statt eines ersehnten zukünftigen "Soldaten".

Das Buch ist, wie bereits erwähnt, brutal und schockierend. Was mich besonders bewegt hat, war, dass Maryams Alptraum nach ihrer schließlich geglückten Flucht noch nicht vorbei ist. Eindringlich schildert Edna O'Brien, wie abschätzig das verschleppte und wieder entflohene Mädchen behandelt wird. Ihre eigene Familie scheint ihr entrückt, sie wird, aufgrund des ihr aufgezwungenen Schicksals, als "Buschfrau" verunglimpft und gemieden - und das Baby, das aus dieser Gefangenschaft entstanden ist und zu dem Maryam selbst nur schwer einen Zugang finden kann, soll am besten ganz verschwinden. Offizielle Behörden halten Maryam anfangs gar für eine Attentäterin und auch im Dorf sind entflohene Mädchen aus Angst vor möglichen Repressalien seitens der Terrorgruppe unerwünscht. All dies zeigt einmal mehr die perfide "Taktik" von Boko Haram und wie sie die Menschlichkeit an so vielen Stellen negativ beeinflusst.

"Das Mädchen" liest sich schnell weg, die Dramatik der Grundgeschichte mit ihren vielen kaum vorstellbaren Inhalten treibt die Leserschaft vorwärts. Trotzdem konnte mich die Erzählung - obwohl mich diese vielen schlimmen Ereignisse natürlich ziemlich schockiert haben - nicht vollständig packen. "Maryam" selbst ist ein kumulierter Charakter, in dem die Autorin die Schicksale mehrerer betroffener Mädchen, mit denen sie während ihrer Recherchereise nach Nigeria gesprochen hat, vereint hat. Im Buch kommen weitere betroffene Stimmen zu Wort, aus verschiedenen Regionen und Schichten des Landes, doch die Art, wie diese Vielstimmigkeit hier präsentiert wird, hat mich nicht immer gut gefallen. Die Erzählperspektiven schwenken teils recht unmotiviert hin und her, etwa durch das Einfügen längerer kursiver Absätze, die dann im Kontrast zu Maryams eigentlicher Erzählung stehen und mich unnötig aus der Unmittelbarkeit der Erzählung herausgerissen haben. Ebenso wie die Zeitenwechsel, die hier und dort scheinbar willkürlich, teils innerhalb eines nacherzählten Dialogs, auftauchten, und für mich keinen Sinn ergaben.

Nichtsdestotrotz ein eindringliches Buch, das anprangert und auf die schlimmen Schicksale dieser Mädchen aufmerksam macht, sie wieder mehr in den Fokus rückt und, besonders wichtig, sie dabei alles andere als "ausschlachtet": Denn trotz dieser unfassbaren Misshandlungen werden die Mädchen hier nicht als gesichts- und hilflose Opfer, sondern sehr respektvoll, empathisch und mit ihren eigenen Stärken dargestellt.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Interessante Alternative zur Ilias

So sprach Achill
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Was für ein spannendes literarisches Experiment: Alessandro Baricco legt hier eine Art schönheitsoperierter Version der Ilias vor (wobei Schönheit, wie so oft, im Auge des/der Betrachtenden liegt): Ein ...

Was für ein spannendes literarisches Experiment: Alessandro Baricco legt hier eine Art schönheitsoperierter Version der Ilias vor (wobei Schönheit, wie so oft, im Auge des/der Betrachtenden liegt): Ein bisschen hier gestrafft, ein wenig da abgesaugt, und dort noch ein bisschen untergespritzt. Das Ergebnis konnte sich für mich durchaus sehen lassen.

Die Grundidee war folgende (der Autor erläutert das recht ausführlich in seinem Vorwort): Baricco wollte eine Art "alltagstauglichere" Version der Ilias, die von der Länge her für eine Radioübertragung umsetzbar war. Also würde hier mächtig gekürzt, unter anderem spielen die Auftritte der Gottheiten überhaupt keine Rolle. Auch wurde die Erzählweise komplett geändert: Statt choraler Verse gibt es hier Berichte in der Ich-Person aus wechselnden Erzählstimmen. Neben den bekannten Hauptcharakteren (Achilles, Odysseus, Helena usw.) der Erzählung kommen auch Nebenfiguren zu Wort. Selbst der Fluss bekommt ein Kapitel, um sich darüber zu beklagen, dass sich sein Wasser mehr und mehr vom Blut der Kriegswütigen getränkt wird. An einigen wenigen Stellen hat Barrico außerdem noch eigene Zeilen eingefügt (stets gekennzeichnet), die für mich ebenfalls gut ins Bild passten.

Trotz dieser gestrafften und anders ausgerichteten Art der Erzählung bliebt die Brutalität der ursprünglichen Geschichte erhalten - dies ist keine weichgespülte Version. Die detaillierten Beschreibungen der Kampfszenen sind häufig und immer wieder erschreckend: Seitenlange Erzählungen, wer wem welche Lanze wohin sticht, wo sie wieder rauskommt, welche Organe dabei zerfleischt bzw. mit herausgerissen werden usw. - wohl keine Lektüre für den Frühstückstisch.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dieses Buch bei Hardcore-Ilias-Fans ein Stirnrunzeln oder mehr hervorruft. Für Leute wie mich, die die Grundzüge der Ilias kennen, sich bisher aber nicht dazu motivieren konnten, das Original zu lesen, bietet dieses Buch eine gute Alternative.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Respektvolle Annäherung ans Alter

Dankbarkeiten
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In diesem Buch offeriert Delphine de Vigan eine Erzählperspektive, die, angesichts ihrer realen Häufigkeit in der Gesellschaft, viel zu wenig zu Gehör kommt: Die einer alten Frau, die den Verfall ihres ...

In diesem Buch offeriert Delphine de Vigan eine Erzählperspektive, die, angesichts ihrer realen Häufigkeit in der Gesellschaft, viel zu wenig zu Gehör kommt: Die einer alten Frau, die den Verfall ihres Körpers und Geistes bemerkt und das nahende Ende spürt. Es ist Michka, die aufgrund dieser sie immer mehr beeinträchtigenden Alterserscheinungen in ein Pflegeheim zieht. Sie weiß, ihr Ende ist nah, aber vor ihrem Tod will sie noch ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, gegenüber jener Familie, die sie als Kind einst vor den Nazis versteckte. Neben Michka spielen noch zwei jüngere Charaktere eine Rolle: Da ist zum einen Marie, die einst von ihrer Nachbarin Michka quasi aufgezogen wurde und die sich nun in einer Art Umkehr der Rollen um ihre alte Freundin kümmert. Außerdem kommt noch Jérôme zu Wort, der sich als Logopäde in dem Heim um mehr als nur Michkas Sprachverlust kümmert.

Das Buch ist dicht geschrieben und beleuchtet auf berührende Weise das Thema Altern und die damit einhergehenden Verluste. Da waren schon eins, zwei Passagen dabei, die mich schlucken ließen, denn trotz der schönen Sprache ist der Inhalt sehr berührend:

"Alt werden heißt verlieren lernen. [...] Eines Tages nicht mehr laufen, gehen, sich beugen, sich bücken, etwas aufheben, spannen oder falten können [...] Das Gedächtnis verlieren, seine Fixpunkte verlieren und seine Wörter verlieren."

Das ist ein Schicksal das - so nichts dazwischen kommt - vermutlich den meisten von uns bevorsteht. Gleichzeitig ist es das Schicksal, das möglicherweise jemand, den wir kennen (und lieben) vielleicht gerade durchmacht. Grund genug also, sich auch literarisch mal damit zu beschäftigen - und dafür ist dieses Buch eine durchaus gute Wahl. Denn Delphine de Vigan behandelt ihre Charaktere respektvoll und einfühlsam - bis hin zum Thema Tod/Sterben.

Doris Heinemann übersetzt wie gewohnt stimmig und einfach "passend" - wobei sie in diesem Buch durch Michkas immer stärker verschwindendes Sprachvermögen und die dadurch benutzten falschen Wörter bzw. Wortneuschöpfungen vor eine besondere Herausforderung gestellt wurde, die sie mit Bravour gemeistert hat.

Die Geschichte um Michka empfand ich stimmig und rund erzählt, allerdings blieben mir die beiden Nebencharaktere etwas zu blass. Bei beiden wurde eine Art Hintergrundgeschichte eingeführt, die ihrerseits auch wieder mit der von Michka verknüpft wurde - aber da empfand ich die Verteilung der Pespektiven nicht ganz stimmig. Entweder hätte ich gerne mehr sowohl von Marie als auch von Jérôme erfahren - oder jeweils weniger, denn Michka hätte die Geschichte auch alleine getragen. Trotzdem: Ein Buch, das es verdient, gelesen zu werden!