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Veröffentlicht am 09.08.2021

Bille darf endlich reiten

Bille und Zottel Bd. 01 - Pferdeliebe auf den ersten Blick
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Beinahe wäre die fast dreizehnjährige Bille von ihrer Mutter erwischt worden: jeden Morgen, jeden Mittag, jede freie Stunde schleicht sie sich heimlich in die Pferdeställe des nahen Gutshofs Groß-Willmsdorf, ...

Beinahe wäre die fast dreizehnjährige Bille von ihrer Mutter erwischt worden: jeden Morgen, jeden Mittag, jede freie Stunde schleicht sie sich heimlich in die Pferdeställe des nahen Gutshofs Groß-Willmsdorf, um die von ihr geliebten Pferde wenigstens sehen und pflegen zu können. Ihre Mutter hält die Leidenschaft ihrer jüngsten Tochter leider für nutzlos und schlicht zu teuer, kann sie mit ihrem kleinen Laden kaum noch gegen die aufkommenden Supermärkte bestehen. Durch einen wortwörtlichen Zusammenstoß mit dem von Bille bewunderten Besitzer des Guts, dem erfolgreichen Springreiter Tiedjen, gewinnt das Mädchen einen Unterstützer für ihre Pläne: er erkennt sich selbst als Kind im Verhalten des Teenagers. Als der Dorftierarzt aus einer Tierrettung aus einem Wanderzirkus eine Pflegestelle für ein Halbpony benötigt, bietet Herr Tiedjen Bille einen Deal an: sie kümmert sich um das verwahrloste Pferd, dafür bekommt sie Reitunterricht.

Jetzt muss nur noch Billes Mutter überzeugt werden. Bille weiß jedoch noch nicht, auf was sie sich bei dem zotteligen Halbpony eingelassen hat…

Ich hatte die Bücher in meiner Pferdephase verschlungen, aber auch heute sind die Erlebnisse des verfressenen Ponys Zottel, der ein wahrer Ausbrecherkönig ist und sich gelegentlich spontan an seine Zirkustricks erinnert, herrlich zu lesen und immer noch lustig. Dazu sind die Charaktere sympathisch, nur mit Billes irgendwie verhärmt und verbittert wirkender Mutter wurde ich lange nicht warm – da umarmt Bille die Mutter nicht stürmisch, weil „…sie wußte, daß Mutsch allzu heftige Liebesbezeugungen nicht mochte“. Klar. Naja, und schon damals hoffte ich, dass nicht alle Kinder mit Hobby-Wünschen, die nicht von ihren Eltern geteilt wurden, jetzt wilde Stunts machen würden, um sich vor die Fahrzeuge derer zu werfen, die ihrem großen Traum bereits nachgingen – so, wie Bille auf ihrem Fahrrad mit geschlossenen Augen den Preis der Nationen reitet, direkt vor „Herrn Tiedjens“ Auto (nein, der Mann hat keinen Vornamen, scheint es). Was soll es, die Bücher sind toll. Und Mutsch bekommt später auch noch einen Zugang zu mehr Glück im Leben. 5 Sterne.


Ich „verorte“ das Buch in die Zeit in den frühen 70ern – wenn „Mutsch“ noch als Kind in Ostpreußen gelebt hat und von dort geflohen ist, dürfte sie ein ähnliches Geburtsjahr haben wie die Autorin selbst, 1939, oder etwas früher; kaum jünger, sonst würde sie sich nicht erinnern, eher älter, da sie von „Onkel Paul“ an ihre eigene Pferdeliebe mit „noch keine zwölf“ vor der Flucht erinnert wurde. Die 70er waren dann auch die Zeit, in der in der „alten“ Bundesrepublik selbst in den kleinen Städten die Supermärkte endgültig die kleinen Tante-Emma-Läden vertrieben, wie es hier mit „Mutschs“ Laden passiert.

Es fallen dann so Sätze wie „Meine Große, die Inge, … die hat nie solche Flausen im Kopf gehabt. Die hat von Anfang an gewusst, wo ihr Platz im Leben ist – und nicht so rumgesponnen wie unser Küken da. Wenn wenigstens ihr Vater noch lebte – der hätte ihr die Dummheiten schon längst ausgetrieben. Aber auf mich hört sie ja nicht.“ S. 10 Weil man ja wissen sollte, wo der einem zugewiesene Platz im Leben ist, und davon auch bitte nicht abzuweichen hat. Natürlich ein Satz der Mutter - und deren Glück kommt dann, auch "natürlich", nur durch einen Mann. Naja.


Personen:
Bille, Sybille Abromeit, fast 13. Wohnt mit ihrer Familie in Wedenbruck.
„Mutsch“, die verwitwete Olga Abromeit, Billes Mutter
Inge, Billes zwölf Jahre ältere Schwester

Onkel Paul. Kennt Mutsch seit der gemeinsamen Kindheit in Ostpreußen – nach der Flucht hatten sich ihre Familien in Wedenbruck eine neue Existenz aufgebaut. Er ist dabei, einen Spar-Markt aufzubauen in Leesten.
ein junger Kunstschmied namens Thorsten

Karlchen Brodersen, 14, rothaariger Sohn der Nachbarn, Billes bester Freund und „Zieh-Bruder“. Moped-Fan
Hubert Brodersen, Karlchens großer Bruder, Pferdepfleger auf Groß-Willmsdorf

der alte Petersen, Pferdepfleger
Herr Tiedjen, berühmter Springreiter und Besitzer von Groß-Willmsdorf
Dr. Dörfler, Tierarzt
Herr Müller. Geschäftsführer beim „Verein gegen den Mißbrauch der Tiere“ in Neukirchen
Herr Lohmeier, Verwalter von Groß-Wilmsdorf,
seine Frau
Frau Beck, die nette alte Sekretärin
die drei Söhne der Peershofer

Helga, neu in Billes Klasse im Schulzentrum in Niendorf. Karlchen schwärmt für sie
Heike, Klassenkamerdin
Elli Jansen, ebenso. Ihre Mutter steht im Dorfkrug an der Theke

Kalle Ungehauer, Zuchthäusler
Polizist Bode

Fuchshengst Patrick
Donau, Fuchsstute, fohlt im Laufe des Buches Donata
Iris, Rappstutte, sehr nervös, fohlt ebenfalls
Zottel – Rotschimmel, Halbpony, gerettet aus dem Zirkus Sandranelli
Troja, Stute
Lohengrin, Fuchswallach
Feodora, Apfelschimmelstute.
Nathan, 7jähriger Wallach
Sinfonie, Fuchsstute, unberechenbar


Tina Caspari ist der von Rosemarie Eitzert am häufigsten zum Schreiben genutzte Name; ich kenne von ihr die Bille und Zottel – Reihe sowie die Katja-Bücher . Die Autorin wurde geboren als Rosemarie Schach von Wittenau und schreibt auch als Claudia Jonas („Internat Wespennest“ habe ich von ihr) oder in Anlehnung an ihren Mädchennamen als Rosemarie von Schach. Einige der Bücher, die für den deutschen Sprachraum als von Enid Blyton geschrieben veröffentlich wurden, stammen in Wirklichkeit ebenfalls von ihr (Dolly ab inklusive Band 7 sowie Tina und Tina ab inklusive Band 4). https://www.goodreads.com/author/show... sowie die weiteren Links zu den anderen Namen. Die Autorin wurde am 25. Januar 1939 in Berlin oder in der Nähe von Berlin geboren (letzteres laut Wikipedia https://deutsch-wiki.ru/wiki/Rosemari...).
1. Pferdeliebe auf den ersten Blick, 1976
2. Zwei unzertrennliche Freunde, 1977 http://www.lesejury.de/rezensionen/deeplink/505713/Product
3. Mit einem Pferd durch dick und dünn, 1977
4. Applaus für Bille und Zottel, 1978
5. Die schönsten Ferien hoch zu Roß, 1978
6. Gefahr auf der Pferdekoppel, 1979
7. Ein Cowboy für Bille und Zottel, 1979
8. Ein Filmstar mit vier Beinen, 1980
9. Im Sattel durch den Sommer, 1980
10. Im Hauptfach Reiten, 1982
11. Sensation in der Manege, 1983
12. Frühling, Freunde, freche Fohlen, 1984
13. Das Fest der Pferde, 1985
14. Ein Pony auf großer Wanderung, 1987
15. Pferde im Schnee, 1989
16. Pusztaferien und Ponybriefe, 1990
17. Reitclub Wedenbruck, 1991
18. Die letzte Hürde, 1995
19. Ein Pony mit Herz, 1996
20. Rückkehr nach Wedenbruck, 2001
21. Ein ganz besonderer Sommer, 2003

An dieser Stelle habe ich ein Interview mit der Autorin gefunden https://web.archive.org/web/200803250...

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Veröffentlicht am 09.02.2021

Treffer

One Life
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Ich habe das Original gelesen

I am several things unusual for being German. I do not like football / soccer (football as the term that is opposed to “American Football” where I live…). I do know I did ...

Ich habe das Original gelesen

I am several things unusual for being German. I do not like football / soccer (football as the term that is opposed to “American Football” where I live…). I do know I did watch exactly one football match in my life, some thing when Cameroon got far when nobody expected them to. I do not care if Germany plays, wins, or anything. I never heard about Megan Rapinoe before – I started the book as a random pick, rather, because a book challenge suggested it (I might do anything if a book challenge suggests).

I loved the book. I was thrilled by descriptions of, yes, football matches – vivid and captivating as if it were a mystery. Furthermore, I was impressed.

Megan Rapinoe was born July 5, 1985 in the United States and grew up in a middle-class family in California, with quite a number of family, including siblings from her mother’s previous marriage, a twin sister, her older brother’s son who was grown up by his grandparents, or even her aunt, who in age felt more like her sister to her. Quite a mix. The parents worked hard to make ends meet and were supportive of their children, even if that soon meant driving young Megan to her various sports obligations. She showed talent even as a tiny tot, and would early on make her way to become a professional player. Dull? Nope. This is so wonderfully and entertainingly written, it got to me, and I could very much sympathize with the family background.

But Megan Rapinoe is so much more – she soon developed to become a political activist. LGBT, equal pay, black lives matter, politics – name it, and she did speak up. She started so for being gay herself, when she realized that though she never pretended to be otherwise, there was a difference: with some number of her various team mates being gay too, still nobody else wanted to have a public coming out. Yet when Rapinoe did, she experienced a lot of reaction from especially young persons, who for the first time felt like having a public figure taking the lead for them, felt not alone anymore. Unfortunately, there was also some hate – I was shocked when I validated via her Instagram account. https://www.instagram.com/mrapinoe/ Seriously, in our time and age, I just do not understand those reactions for something that is just being who you are, without imposing upon anybody else.

The US female national team has been very successful over the years, wining a lot, bringing in lots of money – only, not for themselves. Rapinoe not only says so – she gives proof. She contrasts the wins of the men (less) to those of the women (mostly), the money coming in from that, and still men get money for simply showing up, women only if they win. The book follows some of the combat of the women to try and change this.

The sportswoman soon realized that there was no chance for a change when there would not be any support for those discriminated by those who were on the side of those not offended –only if men will realize that women’s pay is not adequate and will protest along with women, some change will come. When she realized that here she needed the support of others, she began to feel the same as on other matters. Megan Rapinoe was one of the first white sportspersons to kneel during the US national anthem to protest the disregard of persons of color, to show her solidarity against white supremacy. I found her well informed, and convincing.

Recommendation.

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Veröffentlicht am 19.01.2021

Homo Homini Lupus

Eine Frau in Berlin
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Das autobiographische Buch entstand aus den Aufzeichungen zwischen dem 20.4. und 22.06.1945 und beschreibt das Leben der namentlich nicht genannten Autorin im Berlin der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstage. ...

Das autobiographische Buch entstand aus den Aufzeichungen zwischen dem 20.4. und 22.06.1945 und beschreibt das Leben der namentlich nicht genannten Autorin im Berlin der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstage. Es wurde 1954 in englischer Sprache und erst 1959 in Deutschland veröffentlicht, wo es heftige Ablehnung hervorrief. Daher hatte die Autorin jegliche weitere Publikation zu ihren Lebzeiten wie auch die Nennung ihres Namens untersagt. Somit wurde https://de.wikipedia.org/wiki/Marta_H... erst postum berühmt.

Berlin – die Front rückt näher. Angst macht sich breit vor dem, was kommt. Die Tagebuchschreiberin war vor dem Krieg weitgereist, ist belesen, arbeitete journalistisch und als Fotografin. Ausgebombt lebt sie in der Wohnung eines früheren Kollegen. Hunger plagt die Menschen und die Suche nach Verwertbarem. „Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz.“ S. 7
In der Öffentlichkeit häufen sich Geschichten über Vergewaltigungen, eine Flucht gen Westen wird dennoch von der Autorin ausgeschlossen, um nicht beschossen zu werden oder unterwegs zu verhungern. Komisch sind die Beschreibungen der Situation im Schutzkeller "Mir gegenüber, in Decken eingewickelt, ein fiebrig schwitzender älterer Herr, Kaufmann von Beruf. Ihm zu Seite seine Gattin, die hamburgisch s-pitz s-pricht, und die achtzehnjährige Tochter, ausgerechnet S-tinchen gerufen.“ S. 12 Die Lage ist ernst: Der erste Deserteur erscheint im Keller. Ein als Verräter aufgeknüpfter Soldat. Eine Beerdigung im Besenschrank. Die Mutter eines 8 Wochen alten Säuglings hat keine Milch mehr. Anonyma ist präzise Beschreiberin der Situation. „Sonderbare Zeit. Man erlebt Geschichte aus erster Hand, Dinge, von denen später zu singen und zu sagen sein wird. Doch in der Nähe lösen sie sich in Bürden und Ängste auf. Geschichte ist sehr lästig.“ S. 20

Dann kommen die gefürchteten Russen. Es bleibt zuerst friedlich. Die Tagebuchschreiberin wirft ihre geringen Russischkenntnisse in die Wagschale, wird dadurch exponiert, oft bei Problemen herangezogen. Es schützt sie nicht vor Vergewaltigungen. Die Grenzen verschwimmen, bald schreibt sie von „Essen anschlafen“, sucht gezielt nach einem Offizier: „Hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält“ S. 58. Lakonisch reichen sich die Frauen zwischendurch die Dose mit Vaseline weiter.

Und die wenigen Männer? Sie tun fast nie etwas für die Frauen. Sie profitieren vom erhaltenen Essen, ignorieren, unter welchen Bedingungen es von den Russen gebracht wurde. Sie schauen weg. Sie fordern Opfer zum Wohle aller. Für den „Schändungszynismus“ finden sie keinen Umgang. Und Anonyma verliert generell die Achtung.

Warum dieses Buch bei der Erstveröffentlichung so abgelehnt wurde als „Beschmutzung der Ehre der deutschen Frau“, kann ich mir nur erklären mit einer Entlarvung der Männer, die vorher hübsch weggesehen hatten. Das Buch macht die Nöte der Frauen klar, die nur selten die Wahl hatten – Gewalt oder Zwangsprostitution, oder seltener ein Versteck, wenn es denn jemanden gab, der für die Versorgung einstand. Allerdings muss ich selbst dazu sagen, dass die Opfer unter der Zivilbevölkerung, vornehmlich der Frauen, lange Zeit kein Thema waren. Noch aus den 80er Jahren kannte ich das Thema der systematischen Massenvergewaltigungen durch die Siegermächte nicht. Auch, dass es bei weitem nicht nur Täter aus der Sowjetunion, sondern auch bei den West-Alliierten gab, hat dann nochmals etwas länger gebraucht, um den Weg in die Öffentlichkeit zu finden. https://de.wikipedia.org/wiki/Sexuell... - zu der Zeit gab es dann durchaus oft auch die Meinung, dass diese Gewalt aufgrund der deutschen Taten gerechtfertigt gewesen sein. Marta Hillers ist hier differenzierter, erkennt die Unterschiede zwischen einfachen Soldaten und Gebildeten, zwischen überzeugten Kommunisten, halben Kindern, Verliebten, Ehrenmännern und Demütigern, in einer Tiefe, die mich zur Hochachtung zwingt. Russenhass kann ich nicht erkennen, dafür aber Einsicht in kulturelle Unterschiede.

Mich hat der nüchterne analysierende Stil beeindruckt, dem alles Reißerische fehlt. „Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf. Ich fühle mich gleiten und fallen, tief, durch die Kissen und die Dielen hindurch. In den Boden versinken – so ist das also.“

Was mich einzig stört an fast allen diesen Berichten: sie handeln fast ausschließlich in den Großstädten oder auf der Flucht. Ich konnte früher die Berichte meiner Großmutter, Jahrgang 1918, nicht damit in Einklang bringen: Verdunklung ja, Bombenabwürfe nein, Knappheit ja, Hunger nein. Wie sie, wohnten viele Menschen ländlich, hatten Gärten zum Anbau, in Kleinstädten und Dörfern fernab von Industrie oder irgendetwas, das sich zu bombardieren angeboten hätte. Diese Realität fehlt in der Breite der Publikationen – das kann man aber natürlich nicht der Autorin anlasten.

Eindrucksvoll. 5 Sterne.

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Veröffentlicht am 15.09.2020

33 Tage - „eine aufgezungene Intimität zerstören“

Im Keller
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Mich beeindruckt, wie Herr Reemtsma versucht, für sich einen Weg der Verarbeitung zu gehen. Seine Darstellung ist oft abstrakt (über Erlebnisse während der Entführung schreibt er in der dritten Person, ...

Mich beeindruckt, wie Herr Reemtsma versucht, für sich einen Weg der Verarbeitung zu gehen. Seine Darstellung ist oft abstrakt (über Erlebnisse während der Entführung schreibt er in der dritten Person, um bei der Einschätzung dazu aus heutiger Sicht wieder zur ersten Person zu wechseln), sein Vokabular kann sehr anspruchsvoll sein, viele seiner Vergleiche sind literarisch, einiges stammt aus Kinderzeit und „Familienvokabular“ (Tiere, Zitieren von Macken etc.).
Ich kann und möchte Fiktion rezensieren. Ich kann und möchte „normale“ Sachbücher rezensieren, gerne auch Tatsachenberichte der Sorte „Meine Weltreise“ – über etwas, was jemand freiwillig getan hat. Hier geht es um einen Tatsachenbericht über ein Verbrechen. Die Worte können aus meiner Sicht daher nur von dem kommen, an dem es verübt wurde.

Direkt nach der Freilassung:
„Warum fahren wir eigentlich nach New York? Ob ich eine Ahnung habe, wie es ‚zu Hause‘ aussehe? Als ob wir Greta Garbo zu Besuch hätten.

Man kommt da nicht nach Hause, sondern ins Fernsehen.“ S. 10

Gründe für das Buch:
„Warum mit diesem Buch noch einmal das Gesicht zeigen, diesmal in Worten, diesmal freiwillig? Einmal eben darum, weil es bereits in der Öffentlichkeit ist, weil meine Geschichte schon überall kursiert, weil sie schon wenige Stunden nach meiner Freilassung öffentlicher Besitz geworden ist, so daß ich sie mir nicht nur für mich selbst (das ist der Grund, warum ich sofort nach meiner Freilassung begonnen habe, die Geschichte aufzuschreiben), sondern auch in der Öffentlichkeit wieder aneignen will.“ S. 15

„Ich habe festgestellt, dass es mir geholfen hat, von anderen Entführungsfällen zu wissen.“ S. 16

„warum…dieses Buch so bald…. … Die Antwort führt direkt … in den Keller. Eine Entführung, eine Zeit außerhalb aller anderen sozialen Kontakte als der antisozialen mit den Entführern, ist eine Zeit aufgezwungener Intimität.…. All das innerhalb eines extremen Machtgefälles: absolute Macht dort, absolute Ohnmacht hier. Das läßt man nicht im Keller zurück. Denn den Keller läßt man nicht zurück. Der Keller wird in meinem Leben bleiben, aber sowenig wie möglich von der mir in diesem Keller aufgezwungenen Intimität soll in meinem Leben bleiben. Das einzige Mittel gegen ungewollte Intimität ist Veröffentlichung.“ S. 17

während der Entführung – im Keller

s. 106 „If you want to cut my finger off – read this first!!“ (auf einem Zettel für die Entführer, als im Raum steht, an die Familie Reemtsmas zur Bekräftigung einen seiner Finger zu senden – innen unter anderem Gedanken über eine mögliche Gefahr der Infektion, Penizillinallergie etc.)

S. 138 "Daß der Engländer [einer der Entführer] sich gleichsam als Verdienst anrechnen lassen wollte, was er in den 33 Tagen im Keller alles nicht tat, ist allerdings Zeichen einer signifikanten moralischen Verwahrlosung."

im Rückblick:
S. 180 "Man verliert diesen Gedanken nie: Dieser Mensch verfügt über mein Leben."
S. 186 "...was sie seiner Familie angetan hatten, würde er ihnen nie verzeihen können."
S. 190 „Er hatte in seinem Keller oft das Gefühl, aufgeben zu wollen; er empfand es als gleichsam ungerecht, daß er gar nicht die Chance hatte, aufzugeben und dadurch irgend etwas zu bewirken. Mit der Möglichkeit aufzugeben war ihm auch die Möglichkeit genommen, nicht aufzugeben, aktiv durchzuhalten."
S. 191 „Vielleicht wird Übermächtigung immer von Gefühlen der Scham begleitet.“

Veröffentlicht am 15.09.2020

Sehr empfehlenswerter Mix aus Heimat- und Zeitgeschichte, Spionageroman, Politthriller,...

Bühlerhöhe
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Der Plot ist genial: Der Mossad schickt eine völlig unerfahrene gebürtige Kölner Jüdin los in den Schwarzwald, um dort ein Attentat gegen Adenauer zu verhindern – die Verhandlungen um die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ ...

Der Plot ist genial: Der Mossad schickt eine völlig unerfahrene gebürtige Kölner Jüdin los in den Schwarzwald, um dort ein Attentat gegen Adenauer zu verhindern – die Verhandlungen um die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ sollen nicht gefährdet werden. Ihre Eignung besteht darin, am Urlaubsort des Kanzlers selbst die Ferien ihrer Kindheit verbracht zu haben und die Sprache derer zu sprechen, die außer ihrer Schwester ihre gesamte Familie ausgelöscht haben. Der Attentäter wird befürchtet in den Kreisen derjenigen Israelis, die das „Blutgeld“ ablehnen.

„Warten bedeutete, unnütze Zeit zu haben, und unnütze Zeit war ein gefährliches Pulver. Ein bisschen davon auf die gut verschlossene Kiste voll von Verlust, Schmerz und Erinnerung gestreut, und diese explodierte und ließ alles in Fetzen im Kopf herumschwirren. Das Vergessen war lebensnotwendig. Wer nicht vergessen konnte, wurde wahnsinnig. Sie war eine Meisterin im Vergessen. Nur so war das Leben auszuhalten.“ S. 27

Wie bitte schafft es Autorin Brigitte Glaser, ein Buch zu schreiben, dass
• sowohl Heimatgeschichte erzählt (Schwarzwald, besonders um Bühl)
• als auch Zeitgeschichte (Adenauer und die Wiedergutmachungsverhandlungen bezüglich des Staates Israel, Leben im Kibbuz),
• das Spionageroman und Politthriller ist (ich wusste nicht, dass es ein – reales - Attentat auf Adenauer durch Zionisten gegeben hatte, was verschwiegen wurde, um die Beziehungen zu Israel nicht zu gefährden, wofür ihm Ben Gurion dauerhaft dankbar war)
• und noch dazu einen tiefen Einblick abliefert über Schuld, menschliche Beziehungen und Verdrängung?

Das Buch entpuppte sich als absoluter Glücksgriff – ich liebe anspruchsvolle Romane, ich liebe spannende Literatur, ich nutze gerne Bücher, um mich einer Zeit, einem Land oder einer Gruppe zu nähern, hier finde ich einen der seltenen Fälle, die ALLES gleichzeitig können.

Ich bin kaum jemals so vielen „red herrings“ hinterhergerannt, so viele Spuren legt die Autorin über praktisch die komplette Seitenzahl. Bei allem nutzt sie einen besonderen Stil: Es wird etwas erwähnt – und später, teils wirklich etliche Seiten später wird dieser Hinweis in einen Zusammenhang eingebettet. Ein Beispiel:
„In Haifa waren Rachel und sie [Rosa Silbermann, die Protagonistin] vor fast zwanzig Jahren als Jugendliche angekommen.“ S. 8
Später wird dann erklärt, dass Rachel sich kurz nach 1932 für die zionistische Idee begeistert hatte und mit ihrer jüngeren Schwester, auch angesichts der aufkommenden Probleme für Juden in Deutschland, mitnichten aus Spaß und Freude eingewandert war. Das ist noch ein mildes Beispiel, weil man sich diese Auflösung als naheliegend ja auch hätte denken können, doch ich werde ganz sicher hier nichts Weiteres verraten. Während mich oft in Büchern die sehr einfachen Beziehungen und Beweggründe stören, ist in diesem Buch fast alles und alle miteinander verwoben, was die Anzahl der red herrings ins Unermessliche steigen lässt, ohne dabei für mich aber undurchdringbar zu werden. Das Spannungsniveau bleibt einfach hoch, wie bei einem Thriller, weil man so aufmerksam bleiben muss. Da weiß jemand etwas, was einem anderen helfen könnte, erwähnt es aber nicht, um einem Dritten nicht zu schaden. Und über allem hängt die Vergangenheit. „So war das immer. Eine falsche Frage, ein falscher Satz, und alles Leichte und Fröhliche verschwand.
‚Welches Lager?‘, fragte Rosa leise.
‚Majdanek.‘“ S. 264

Glaser schreibt sehr ausgewogen. Auch mit den besten Absichten können Menschen verletzt werden, so soll Rosa ein Attentat verhindern helfen, wird aber fragwürdig moralisch genötigt dazu und völlig unerfahren in eine gefährliche Situation geschoben. Kaum jemand ist einfach das, was er oder sie oberflächlich zu sein scheint. Dadurch ist Rosa bald verstrickt in ein „Gestrüpp aus Spekulation und Manipulation“. Dabei geht das Buch durchaus in die Tiefe, stellt die verschiedenen Lebensstile gegenüber: da sind die, für die jede Kritik an Israel einem Verrat gleichkommt, aber auch jene, die zurück nach Deutschland gehen, „weil ein judenfreies Deutschland einem Sieg über Hitler gleichgekommen wäre“. Da sind die Kriegsgewinnler, die Ewiggestrigen, aber auch jene, die heute noch von Albträumen geplagt werden, oder selbst Opfer der Befreier wurden, weil sie aus dem Volk der Täter stammten. Der Sicht Rosas gegenübergestellt wird die Sicht von Sophie Reisacher, Hausdame auf der Bühlerhöhe, auch hierdurch wird eine tiefere, ausgewogenere Sicht gezeigt, wird deutlich, dass persönlicher „Ballast“ und Ziele bei allen den klaren Blick hemmen können.

Insgesamt definitiv fesselnd, informativ, schön zu lesen!

Am Ende des Buches folgt ab Seite 337 ein Glossar – ich habe noch einiges mehr nachgeschlagen, und empfehle das je nach Wissensstand und Interesse auch durchaus – sowie weitere Quellenangaben.

Das perfekte Buch "davor" oder "danach":

Daphne du Maurier "Rebecca" (oder die tolle Hitchcock-Verfilmung)

Leon Uris "Exodus" (als Film mit Paul Newman)

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