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heinoko

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 18.02.2017

Kleines Buch riesengroß

Der Mann, der Luft zum Frühstück aß
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Dieses Buch, nein Büchlein, ist für mich wie die Entdeckung eines Schatzes. Der Inhalt ist schnell erzählt: Der 12-jährige Walerian, benannt nach einem Beruhigungsmittel, kommt mit seiner Mutter von Warschau ...

Dieses Buch, nein Büchlein, ist für mich wie die Entdeckung eines Schatzes. Der Inhalt ist schnell erzählt: Der 12-jährige Walerian, benannt nach einem Beruhigungsmittel, kommt mit seiner Mutter von Warschau nach Wien. Hinauswurf aus der Schule, Hinauswurf aus Gelegenheitsjobs, Hinauswurf aus der Wohnung der Mutter – so lernt Walerien als wesentliche Erkenntnis: „Der Einzige, auf den man sich verlassen kann, ist man selbst.“ Oder dass man den Aufenthaltsort während des Schuleschwänzens gut wählen musste. Museumsbesuche sind perfekt, Zooaufenthalte dagegen weniger, da man nicht durch eine zu gesunde Hautfarbe auffallen durfte. So wandert Walerian weiter auf dem Weg zum Erwachsenen, wohnt in einer Wohnung mit einem wandernden Schimmelpilz, begegnet einem Selbstmörder und Teresa, bis er endlich „sein Boot laufen lässt“.
Der Titel des Buches sagt bereits alles aus über die Schreibweise des Autors. Die vielen kleinen geschilderten Episoden werden ganz lapidar und einfach erzählt und sind dabei oft zum Schreien komisch. Ich habe selten beim Lesen eines Buches so oft laut gelacht. Aber nur im Vordergrund sind die Ereignisse urkomisch, dahinter sind sie ganz versteckt ernst, fast tragisch. Das ist ganz große Kunst, so leichtfüßig heiter daher zu kommen und damit Großes zu sagen.
Ich finde diesen Schriftsteller genial und das kleine Buch riesengroß!

Veröffentlicht am 17.02.2017

Schlaf, du kleines Weidenkind

Schlaflied
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So großartig wie das Cover, so fulminant ist der Bucheinstieg, der auf den Philippinen spielt. Diese Szene steht bis fast zum Buchende allein für sich. Erst gegen Ende passt auch dieses Puzzle in das Gesamtbild.
Verschiedene ...

So großartig wie das Cover, so fulminant ist der Bucheinstieg, der auf den Philippinen spielt. Diese Szene steht bis fast zum Buchende allein für sich. Erst gegen Ende passt auch dieses Puzzle in das Gesamtbild.
Verschiedene Handlungsstränge öffnen sich: Ströme ankommender Flüchtlinge, der Fund der Leiche eines schrecklich verstümmelten kleinen Jungen, eine drogenabhängige obdachlose junge Frau, die sich eines Flüchtlingskindes annimmt, ein Pädophiler, der mitten im Wald lebt… Das Ermittlerteam rund um die Polizistin Olivia und den ehemaligen Kommissar Tom, selbst noch vor kurzem Obdachloser, verfolgt eine Spur nach Rumänien und geraten dabei in große Gefahr. Korruption, Organhandel, gescheiterte Existenzen und sympathische Protagonisten, die bis an die Grenzen gehen – das Buch lässt kein Thema aus.
Das Buch ist immens spannend geschrieben. Man liest und liest und versinkt immer mehr in die Handlung, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Die kurzen Abschnitte, die die Gesamthandlung unterteilen und die Spannung noch zusätzlich erhöhen, machen Lesefreude pur. Die Personen sind allesamt sehr glaubwürdig gezeichnet, mit Stärken und Schwächen versehen, allerdings auch mit fast nicht zu glaubenden bewundernswerten Kräften und ungewöhnlicher Ausdauer ausgestattet.
Fazit: Ein Buch, das jedes langweilige Regenwochenende auf perfekte Weise rettet!

Veröffentlicht am 15.02.2017

Wörterbeschützer

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
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Dieser Titel, dieser wunderbare, geniale Titel! Allein dafür liebte ich das Buch sofort, als ich es in Händen hielt, obwohl ich noch keine Zeile gelesen hatte. Und sofort hatte ich die Assoziation, dass ...

Dieser Titel, dieser wunderbare, geniale Titel! Allein dafür liebte ich das Buch sofort, als ich es in Händen hielt, obwohl ich noch keine Zeile gelesen hatte. Und sofort hatte ich die Assoziation, dass ein Mensch gestorben ist und jemand das Fenster öffnet, um die Seele fort zu lassen...

Fred, ein dicklicher, stiller Mann bekommt seinen ersten Auftrag als ehrenamtlicher Sterbebegleiter, und zwar bei Karla, einer sehr eigenwilligen, selbstbestimmten Frau mit Pankreaskrebs, die es Fred alles andere als leicht macht, schon gar nicht, seinem eigenen Anspruch an sich gerecht zu werden. Und dann ist da noch Phil, der fast 14-jährige Sohn von Fred. Phil ist ein in sich gekehrter Junge, ein „Wörterbeschützer“, der auf seinem Computer ein Wörterkrankenhaus angelegt hat für Wörter, die z. B. isoliert werden sollten oder einer Operation bedürfen. Phil, der Gedichte schreibt und wenig anfangen kann mit dem Leben um sich herum. Er bekommt von Karla eine besondere Aufgabe zugewiesen.
Und so finden sich rund um Karla Menschen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zwischen den vorgestellten Personen entsteht ein Beziehungsgeflecht, eine ganz vorsichtige Dynamik, die jeden Beteiligten seinen eigenen Weg finden lässt auf eine sehr leise, sehr feine Weise. Am Schnittpunkt Leben/Tod sind Hilflosigkeit und Weisheit so nah beieinander wie nie sonst.

Die Autorin berührt mich tief. Was für eine großartige Beobachtungsgabe, was für eine geniale Fähigkeit, mit einfachen Worten einfache Geschehnisse zu beschreiben und diese damit in eine andere Bedeutsamkeit zu überführen. Feinfühlig, sensibel und dabei mit ganz leisen Worten, sozusagen mit ganz leiser Stimme eine Geschichte erzählend, die tiefer nicht gehen könnte.

Veröffentlicht am 14.02.2017

Regen, Treppen, Mord und Bosheit

Ein gutes Alibi
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Nein, zur Feindin möchte ich die Autorin nicht haben! Dazu jedoch später mehr.
Natürlich regnet es bereits zu Beginn der Geschichte heftig. Was wäre ein Wuppertal-Krimi ohne Regen. Beyenburg, ein idyllisches ...

Nein, zur Feindin möchte ich die Autorin nicht haben! Dazu jedoch später mehr.
Natürlich regnet es bereits zu Beginn der Geschichte heftig. Was wäre ein Wuppertal-Krimi ohne Regen. Beyenburg, ein idyllisches Örtchen mit Kloster und Stausee, am äußersten östlichen Rand von Wuppertal gelegen, bietet das malerische Umfeld für eine ganz und gar nicht malerische Geschichte: In der Grundschule von Beyenburg wird der Schulleiter Karl Goebel in seinem Büro tot aufgefunden. Kriminalkommissar Kantner nimmt die Ermittlungen auf, und das Buch bevölkert sich zusehends mehr und mehr mit möglichen Verdächtigen, die sehr detailreich mit all ihren persönlichen Unzulänglichkeiten geschildert werden. Dann wird eine zweite Leiche gefunden, eine Kollegin von Karl Goebel. Es wird immer verwirrender. Das Buch mäandert sich, in kurze Kapitel zerschnitten, geschickt durch die Geschichte. Alle Beteiligten lügen, an jeder Ecke meint der Leser, den Schlüssel zur Lösung aller Dinge gefunden zu haben, um dann doch feststellen zu müssen, dass er in die Irre geführt wurde. Mit viel Spannung setzt man die Kapitelschnippsel zusammen und muss tatsächlich bis zum Ende lesen, bis auch das letzte Puzzleteilchen eingesetzt werden kann.
Die Autorin schafft es, trotz der Komplexität der Handlung stets den Spannungsbogen bis zum Ende gleichmäßig hoch zu halten, auch wenn der Leser mitunter verwirrt ist bei der Fülle der vorkommenden Personen. Sie schreibt sehr lebendig, zeichnet farbig und eindrücklich die Geschehnisse. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, jedenfalls der ganz spezielle raue Wuppertaler Humor. Besonders schön finde ich persönlich, dass es alle beschriebenen Orte genau so gibt. Krimis mit Lokalkolorit haben stets einen besonderen Charme.
Tja, und jetzt komme ich wieder zum Anfang zurück: Als Leser sucht man in jedem Buch Identifikationsfiguren, denen man sich mit Sympathie nähern möchte. Daniela Schwaner jedoch beschreibt ihre Personen allesamt bloßstellend, auf ihre negativen Seiten reduziert, mit einem geradezu sezierenden Blick, so dass man mit den handelnden Personen fast Mitleid haben möchte und sich fragt, welche versteckten Aggressionen in der Autorin stecken. Hoffentlich genug, um noch so manchen weiteren guten Krimi zu schreiben…

Veröffentlicht am 13.02.2017

Großartig

Weit weg ist anders
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Das Cover verrät eigentlich nur den eigenwilligen Titel. Mit dem Bus oder mit der Landschaftsilhouette assoziiert man Reisen. Aber was da wirklich im Buch auf den Leser wartet, verrät das Titelbild in ...

Das Cover verrät eigentlich nur den eigenwilligen Titel. Mit dem Bus oder mit der Landschaftsilhouette assoziiert man Reisen. Aber was da wirklich im Buch auf den Leser wartet, verrät das Titelbild in keinster Weise!
Das Buch beginnt in quälender, langsam intensiver Schmerzhaftigkeit. Edith, 70, ist im Flur ihrer Wohnung gestürzt und liegt bewegungsunfähig auf dem Boden. Stunden? Tage? Gedanken kommen und gehen…Der Briefträger rettet ihr letztlich das Leben.
Edith Scholz ist auch in der Reha eine in ihrer Einsamkeit gefangene Frau, die nur aggressive Abwehr kennt, misstrauisch und grob ist. Sie lernt Frau Jacobi, ihre Zimmernachbarin, kennen, die sich nicht abschrecken lässt und nach und nach bewegen sich zwei verzweifelte Menschen aufeinander zu.
Vom ersten Satz an war ich gefangen in der Welt einer älteren Frau, einer Frau, die sich ihrem Leben ergeben hat, die sich ihrer Isolation ergeben hat. Und die ihre Einsamkeit mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen verteidigt. Woher nur hat die Autorin diese grandiose Gabe, sich so vollkommen einfühlen zu können, in die Welt der 70- bis 80-Jährigen, einer Welt, in der sich der Horizont gefährlich schnell verengt, in der Angst, insbesondere uneingestandene Angst, eine lebensbestimmende Rolle spielt. Was für eine großartige Sprache, so eindrucksvoll, schlichte Beobachtungen, die ins Herz treffen. Ganz, ganz stark!