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Veröffentlicht am 25.10.2020

Vom wilden Leben im Westerwald

Eine Räuberballade
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INHALT
In ihrem dritten großen Westerwald-Roman nimmt Annegret Held uns mit ins späte 18. Jahrhundert, als brutale Räuberbanden die gesamte Region in Angst und Schrecken versetzten. Mitreißend, klug und ...

INHALT
In ihrem dritten großen Westerwald-Roman nimmt Annegret Held uns mit ins späte 18. Jahrhundert, als brutale Räuberbanden die gesamte Region in Angst und Schrecken versetzten. Mitreißend, klug und höchst unterhaltsam erzählt sie von Hannes, einem aufstrebenden Möchtegern-Räuber, von seinem frommen und zunehmend verzweifelten Vater Wilhelm, von der mannstollen Magd Gertraud und von all den anderen Scholmerbachern, die dem harten Dorfleben tapfer die Stirn bieten. Großartige Heimatliteratur!
(Quelle: Eichborn-Verlag)

MEINE MEINUNG
Mit ihrem jüngsten historischen Roman „Eine Räuberballade“ hat die deutsche Autorin Annegret Held den dritten und abschließenden Band ihrer Westerwald-Trilogie vorgelegt, in dem sie nochmals ein weiteres Jahrhundert in der Geschichte zurückgeht. Im Mittelpunkt der faszinierenden, lebensprallen Geschichte steht das fiktive Dorf Scholmerbach im urtümlichen Westerwald zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Gekonnt nimmt uns die Autorin mit in eine völlig andere Welt, über der anfangs ein herrlich märchenhafter Flair liegt, und beschwört in großartigen Bilder und Szenen eine vermeintlich heimelige Dorfidylle herauf, die schon bald auch die finsteren Seiten erkennen lässt. Annegret Held lässt eine eher düstere Zeit lebendig werden, in der das dörfliche Leben hart, freudlos und äußerst entbehrungsreich war und umherziehende, brutale Räuberbanden die Bevölkerung im Westerwald das Fürchten lehrten. Und doch zeigt sie in ihrer sehr unterhaltsamen, humorvoll und mitreißend erzählten Geschichte, dass das Leben für die kleinen Leute von Scholmerbach neben Arbeit und Kirche durchaus auch viel Mitmenschlichkeit, etliche amüsante und schöne Momente bereithielt. Es ist ein wundervoller Heimat-Roman, der schon bald seinen ganz eigenen Charme entwickelt, mit interessanten historischen Details und einer spannenden Mischung aus Familiengeschichte, ein wenig Abenteuergeschichte sowie eine Geschichte über Generationskonflikt und Emanzipation.
Der Roman lebt vor allem von seinen wundervoll schrulligen, eigensinnigen und lebendigen Charakteren, die Held sehr differenziert, lebensnah und äußerst warmherzig ausgearbeitet hat. Auch wenn sie oftmals fragwürdige Entscheidungen treffen, ihr Handeln nicht immer klug und moralisch vertretbar erscheint, so haben sie doch alle ihr Herz am rechten Fleck und trotz gemischter Gefühle, muss man diese redlichen Figuren einfach gern haben. Ob nun aufmüpfige Hannes, der sich gegen seinen strengen Vater auflehnt und der dörflichen Enge als aufstrebender Möchtegern-Räuber zu entkommen versucht, sein gottesfürchtiger, verstockter Vater Wilhelm, der mit seiner verwirrten, bettlägerigen Frau und der kleinen Tochter Liesel zunehmend überfordert ist oder schließlich die junge wilde Magd Gertraud, die mit ihrer Tatkraft, ihrer Durchsetzungsfähigkeit und ihrem losen Mundwerk allen die Stirn bietet und ihr kleines Glück woanders zu finden sucht – sie alle sind in einer christlich-traditionellen Welt mit ihren rigiden Moralvorstellungen gefangen, riskieren ein Ausbrechen und lassen schließlich den elementaren, ungezähmten Grundbedürfnissen freien Lauf. Äußerst authentisch und nachvollziehbar hat die Autorin die besonderen Eigenheiten und Schwächen ihrer Romanhelden eingefangen und bringt uns sehr anschaulich ihre besondere Art zu leben und zu denken näher.
Eine große Besonderheit von Annegret Helds Schreibstil sind die mundartlichen Dialoge. Sie lässt ihre Romanhelden nämlich durchgängig in ihrem Westerwälder Platt reden, einer aussterbenden Sprache mit ihrem ganz eigenen Humor und Charme. Hierdurch erhält die großartige Geschichte zusätzlich eine unverwechselbare Lebendigkeit, Eindringlichkeit und Authentizität.

FAZIT
Ein gelungener Abschluss der historischen Westerwald-Trilogie – eine unterhaltsame, lebenspralle und mitreißend erzählte Geschichte mit viel Humor, echtem Westerwälder Platt und herrlich schrägen Charakteren! Ein lesenswerter Heimatroman!

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  • Handlung
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Veröffentlicht am 04.10.2020

Interessante Geschichte über eine der ersten Dirigentinnen der Welt

Die Dirigentin
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INHALT
New York, 1926:
Für Antonia Brico gibt es nur die Musik. Unermüdlich übt sie an dem alten Klavier, das ihr Vater, ein Müllmann, auf der Straße gefunden hat. Ihr großer Traum: Dirigentin zu werden. ...

INHALT
New York, 1926:
Für Antonia Brico gibt es nur die Musik. Unermüdlich übt sie an dem alten Klavier, das ihr Vater, ein Müllmann, auf der Straße gefunden hat. Ihr großer Traum: Dirigentin zu werden. Doch noch nie hat eine Frau in dieser Rolle auf der Bühne stehen dürfen. Als sie sich als junge Frau zu einem Konzert ihres Idols Willem Mengelberg schleicht, und sich auf einem Klappstuhl in den Mittelgang setzt, wird sie herausgeworfen und verliert dabei auch noch ihren Job im Konzerthaus. Sie steht vor dem Nichts. Doch sie gibt nicht auf und reist nach Europa, um für ihren Traum zu kämpfen. Sie verlässt sogar ihre große Liebe Frank, um nicht in dessen Schatten zu stehen. Unermüdlich klopft sie an die Türen der großen Musiker. Karl Muck, der legendäre Dirigent in Berlin, zerreißt vor ihren Augen ihr Empfehlungsschreiben. Antonia sieht letztlich nur einen Weg: Ein Orchester nur mit Frauen, von ihr selbst dirigiert. Mit dem Eröffnungskonzert ist klar: Es wird Antonia befreien – und die Musikwelt für immer verändern.
(Quelle: Atlantis Verlag)

MEINE MEINUNG
Neben dem gleichnamigen, im Jahr 2018 heraus gekommenen Film ist nun auch der Roman "Die Dirigentin" erschienen, in dem sich die niederländische Regisseurin, Drehbuchschreiberin und Autorin Maria Peters bedeutsamen Stationen aus dem faszinierenden Leben von Antonia Brico (1902-1989), eine der ersten erfolgreichen Dirigentinnen der Welt, widmet.
Die in den Niederlanden geborene und in den USA als Adoptivkind in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Frau aus musste sich ihren großen Traum und ihren Weg zum Dirigentenpult gegen viele Widerstände hart erkämpfen. Als erste Frau gelang es ihr 1930 die Berliner Philharmoniker zu dirigieren und leitete für einige Zeit das von ihr 1934 geründete reine Frauenorchester New York Women’s Symphony Orchestra. Doch der wirkliche Durchbruch als weltweit gefeierte Dirigentin blieb der ehrgeizigen Pionierin in dieser bis heute fast reinen Männerdomäne verwehrt und so geriet schließlich diese faszinierende Frau, die ihr Leben der Musik verschrieben hatte, weitgehend in Vergessenheit.
Wie die Autorin in ihrem „Dank“ schildert, hat sie sich sehr intensiv mit der Lebensgeschichte von Antonia Brico beschäftigt, sorgsam viele Details recherchiert und konnte sich zudem auf den ausführlichen biografischen Bericht von Antonias Cousin Rex Brico stützen. Dennoch hat die Autorin in ihren Roman auch einige fiktive Geschehnisse und Figuren einfließen lassen. Am Ende des Buchs findet der interessierte Leser in „Quellen“ eine Zusammenstellung von weiterführender Literatur über Antonia Brico, Dokumentationen sowie Links zu interessanten Internetquellen.
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Ich-Perspektive der Protagonistin Antonia sowie aus Sicht der beiden fiktiven männlichen Charaktere Frank und Robin erzählt, die in Antonias Leben eine bedeutsame Rolle spielen und exemplarisch für ihre verschiedenen Männerbekanntschaften stehen. Angesiedelt ist die Handlung in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts und führt uns von New York, über Amsterdam und nach Berlin.
Maria Peters ist es gut gelungen, bedeutsame Stationen im bewegten Leben dieser jungen, mutigen Frau voller Ambitionen, Willensstärke und Leidenschaft für die Musik einzufangen und diese zu einer fesselnden, abwechslungsreichen und stimmigen Geschichte mit schönem Zeitkolorit zusammen zu fügen. So schildert sie in sehr eindrucksvollen Episoden wie die Protagonistin zu Anfang in ihrem Job als Platzanweiserin sich in die Rolle der Dirigentin hineinträumt oder sie mit ihrem hölzernen, technisch perfekten aber ausdruckslosen Klaviervorspiel an der Aufnahmeprüfung scheitert, aber unbeirrt alles daran setzt, um ihren großen Traum Dirigentin zu werden zu realisieren. Sehr unterhaltsam waren auch die spannenden Einblicke in die Welt des Cabarets in New York, in dem Antonia sich als Pianobegleitung zusätzliches Geld verdient. Die Autorin hat Antonias steinigen, sehr frustrierenden Weg nach oben sehr mitreißend und anschaulich inszeniert und lässt uns teilhaben den Unterrichtsstunden und Proben mit dem frauenfeindlichen, herrischen Dirigenten Karl Muck, oder ihrem ersten Konzertauftritt in Berlin. Während die freundschaftliche Beziehung zwischen Antonia und Robin Jones mit seinem streng gehüteten Geheimnis sehr bewegend erzählt wird, empfand ich die fiktive Liebesgeschichte zwischen Antonia und dem wohlhabenden Musikmanager Frank Thomsen etwas zu melodramatisch und klischeehaft. Für meinen Geschmack wurde ihr ein etwas zu hohen Stellenwert in der Geschichte eingeräumt. Einen größeren Fokus hätte ich mir auf ihren ehrgeizigen Ambitionen gewünscht und hätte gerne noch viel mehr über ihr Innenleben, die Bedeutung der Musik für sie oder die alltäglichen Herausforderungen in ihrem Musikerinnenleben erfahren, wie beispielsweise ihren stetigen Kampf um Anerkennung ihrer Leistungen in der von Männern dominierten Welt der klassischen Musik und ihre Reaktionen auf Anfeindungen und Diskriminierung. Auch die Hintergründe von Antonias Familiengeschichte empfand ich als etwas zu rasch abgehandelt und hätte gerne noch mehr Details erfahren. Maria Peters ist es recht gut gelungen, mir die Persönlichkeit dieser starken, kämpferischen und überaus talentierten Frau näher zu bringen. Dennoch hätte ich mir doch etwas mehr Tiefgang und eine vielschichtigere Charakterisierung der Protagonistin gewünscht, die leider nicht für mich nicht richtig greifbar wurde.
Im Anhang des Romans gibt Peters schließlich noch einen knappen Einblick in Bricos weitere Biografie und ihren wenig glamourösen, weiteren Werdegang als Dirigentin. Denn trotz einiger Erfolge blieb ihr als eine der ersten Dirigentinnen der Welt der wirkliche Durchbruch verwehrt und musste ihren Lebensunterhalt als Klavierlehrerin bestreiten.

FAZIT
Ein interessanter Roman über die fast völlig in Vergessenheit geratene Antonia Brico - eine außergewöhnlich bemerkenswerte Frau, die sich zu einer der ersten Dirigentinnen der Welt hochgekämpft hat!
Eine abwechslungsreich angelegte und gut recherchierte Geschichte, der allerdings etwas mehr Tiefgang nicht geschadet hätte.

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Veröffentlicht am 12.08.2020

Ruhiger, wundervoll erzählter Roman

Das Leben ist ein wilder Garten
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INHALT
Das beschauliche Leben des Landschaftsgärtners Carlo gerät in Aufruhr. Seine Frau hat ihn verlassen, die Tochter studiert jetzt in London. Agon, sein Hilfsgärtner aus dem Kosovo, eine sensible Seele ...

INHALT
Das beschauliche Leben des Landschaftsgärtners Carlo gerät in Aufruhr. Seine Frau hat ihn verlassen, die Tochter studiert jetzt in London. Agon, sein Hilfsgärtner aus dem Kosovo, eine sensible Seele in einem massigen Körper, wird aus heiterem Himmel zusammengeschlagen. Und dann ist plötzlich Carlos demente Mutter verschwunden. Gemeinsam mit Agon macht er sich auf die Suche und entdeckt nicht nur die Natur und die Menschen um ihn herum neu, sondern kommt in einem Grandhotel am Berg der ungeahnt glamourösen Vergangenheit seiner Mutter während des Zweiten Weltkriegs auf die Spur …
(Quelle: Zsolnay bei Hanser Verlag)

MEINE MEINUNG
In seinem jüngsten Roman „Das Leben ist ein wilder Garten“ erzählt der mehrfach preisgekrönte Schweizer Autor Roland Buti eine berührende, nachdenklich stimmende Geschichte über das Leben in all seinen schillernden Facetten. Es ist ein zarter, einfühlsam erzählter Roman der sich mit Einsamkeit, Entfremdung, Liebe, Trauer, Verlusten und den verpassten Gelegenheiten im Leben beschäftigt, aber auch mit Heimatgefühl und Naturverbundenheit.
Schon bald hat mich der wundervoll ruhige und einfühlsame Erzählstil des Autors mit seinen bildmächtigen, sehr atmosphärischen Schilderungen gefangen genommen. Buti kommt in seiner beschaulichen, etwas melancholischen Geschichte oft ohne viele Worte aus, so dass vieles der Fantasie des Lesers überlassen bleibt. Dennoch versteht er es hervorragend, uns auch mit überraschenden Wendungen, humorvollen Passagen und feiner Ironie zu unterhalten.
Nach und nach tauchen wir ein in das auf den ersten Blick recht ruhige Leben des Protagonisten und Ich-Erzählers Carlo Weiss - einem Landschaftsgärtner, der in der Arbeit in seinen Gärten völlig aufgeht und den die Natur auf wundersame Weise zu erden scheint. Nach dem Scheitern seiner Ehe lebt er allein und kämpft gegen seine innere Leere und Einsamkeit an. Seine Freizeit verbringt er meist mit dem angestellten Hilfsgärtner Agon, einem hünenhaften, sanftmütigen, aus dem Kosovo stammenden Flüchtling mit einem Hang für Philosophie und französische Klassiker. Doch als Carlo`s hochbetagte, demente Mutter Pia spurlos aus ihrem Seniorenheim verschwindet und Agon von zwei brutalen Landsleuten krankenhausreif geprügelt wird, gerät Carlo`s kleine, geordnete Welt unversehens ins Wanken – umso mehr als Carlo seine Mutter im luxuriösen Hotel Grand National in den Bergen nahe der Schweizer Grenze aufspürt, die dort in ihrer einstigen Heimat ihre letzten Tage verbringen möchte.
Fesselnd ist es mitzuerleben, wie Carlo sich nach und nach seiner oft verwirrten Mutter annähert und dabei viele gut gehütete Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit und Jugend während des Zweiten Weltkriegs enthüllt werden, die mit dem Grand National zusammenhängen. Ganz neue Seiten entdeckt Carlo an seiner Mutter und erfährt schließlich verblüffende Details aus ihrem damaligen Leben – von ihren außergewöhnlichen Talenten, ihren Träumen, ihrer großen Liebe, aber auch ihrem schmerzvollen Verlust. Ganz nebenbei erkennt er, wie wenig er über das Leben seiner Mutter weiß. So muss er sich eingestehen, dass er vieles von dem, was um ihn herum geschehen ist, nur oberflächlich wahrgenommen und nicht verstanden hat, ja, dass die Menschen, die ihm am nächsten sind, ihm stets rätselhaft und fremd geblieben sind und er mehr oder weniger blind und unsensibel durch sein Leben geht.
Buti hat in seinem Roman wundervolle, ausgefallene Charaktere geschaffen, die einen mit ihren Eigenarten faszinieren und die man nur ungern gehen lässt. Er versteht es hervorragend, die Emotionen und Gesten seiner liebenswerten Figuren glaubhaft und treffend zu skizzieren.  Vor allem mit seinem Hilfsgärtner Agon, seiner dunklen, beklemmenden Vergangenheit im Kosovo aber auch mit seinen pragmatischen Lebensweisheiten ist Buti eine überaus tiefgründige, authentische Figur gelungen, die mich sehr beeindruckt und für einige Schmunzelmomente gesorgt hat.
Langsam entfaltet sich die Vielschichtigkeit der Geschichte mit ihren wiederkehrenden Motiven, die zunehmend an Tiefgang gewinnt und zum Nachdenken anregt. Geschickt sind die verschiedenen, eher beiläufig erzählten Handlungsstränge miteinander verwoben, werden zum Ende hin zusammengeführt und doch bleibt einiges vage in der Luft hängen.
Schade, dass dieser Roman so schnell zu Ende ging, denn ich hätte gerne noch einige Hintergründe erfahren – es fühlte sich fast ein bisschen so an, als hätte sich der Autor unbemerkt durch die Seitentür hinausgeschlichen…

FAZIT
Ein ruhiger, wundervoll erzählter Roman mit einer melancholischen, vielschichtigen und nachdenklich stimmenden Geschichte über das Leben und außergewöhnlichen Charakteren!

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Veröffentlicht am 01.08.2020

Unterhaltsamer historischer Roman über drei starke Frauen und ihr Kampf um mehr Gleichberechtigung

Unter den Linden 6
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INHALT

Berlin, 1907: Die junge Wissenschaftlerin Lise kommt nach ihrer Promotion an die Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, um bei Max Planck zu forschen. Dass Frauen in Preußen offiziell ...

INHALT

Berlin, 1907: Die junge Wissenschaftlerin Lise kommt nach ihrer Promotion an die Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, um bei Max Planck zu forschen. Dass Frauen in Preußen offiziell noch nicht an Universitäten zugelassen sind, kann sie nicht aufhalten. Schon bald arbeitet sie neben Otto Hahn. Das Schicksal führt sie mit zwei Frauen zusammen: Hedwig musste die Unterschrift ihres Mannes fälschen, um die Uni besuchen zu können – denn ohne die Zustimmung des Ehemannes geht nichts. Anni arbeitet als Dienstmädchen beim berühmten Friedrich Althoff und liest sich heimlich durch dessen Bücherregal. Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück, die Liebe und das Recht auf Wissen und Bildung kämpfen. Denn die Widerstände in der männlichen dominierten Universitätswelt sind hoch.

Die Figur Lise erinnert an Lise Meitner (1878–1968), eine der bekanntesten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war die erste deutsche Physik-Professorin und entdeckte die Kernspaltung.

(Quelle: Ullstein)

MEINE MEINUNG

Mit „Unter den Linden 6“ hat die deutsche Autorin Ann-Sophie Kaiser einen unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, in dem sie über drei starke Frauenfiguren von sehr unterschiedlicher sozialer Herkunft in einer Zeit des Umbruchs erzählt, ihrem gemeinsamen Kampf um mehr Bildung und mehr Rechte in der Gesellschaft und und vielfältigen Schwierigkeiten als Frau den eigenen Weg zu gehen.
Die mitreißende Handlung, die in der Zeit zwischen 1907 und 1915 spielt, ist in Berlin vor der Kulisse des bildungspolitischen Wandels in Preußen zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Durch den lebendigen und bildhaften Schreibstil der Autorin taucht man rasch in die Handlung und ins Berlin der damaligen Zeit ab, in der eigentliche Rolle der Frau dem ideologischen Bild der „guten deutschen Hausfrau“ entsprach, die viele Kinder bekommen und voll und ganz für ihren Mann da sein sollte. Auch blieben den Frauen in der Kaiserzeit das Wahlrecht und das Recht auf Bildung lange Zeit untersagt. Gekonnt lässt die Autorin viele sorgsam recherchierte, zeitgeschichtliche Details in die Handlung einfließen, wie beispielsweise die Preußische Mädchenschulreform von 1908 und die Errungenschaften der Frauenbewegung in Deutschland.

Sehr anschaulich erzählt die Autorin in ihrer Geschichte über die ersten Studentinnen der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, die sich ihre Zulassung an die Universitäten hart erkämpfen mussten und viele Demütigungen hinnehmen mussten. Geschickt hat die Autorin die Erlebnisse der historischen Persönlichkeit und berühmten Physikerin Lise Meitner (1878–1968) im Berlin Anfang des letzten Jahrhunderts mit ihren zwei fiktiven Frauenfiguren – der gebildeten Bürgerstochter Hedwig und dem einfachen Dienstmädchen Anni - zu einer abwechslungsreichen und unterhaltsamen Geschichte verwoben. Im Laufe der Handlung, die abwechselnd aus der Perspektiver der drei Frauen Lise, Hedwig und Anni erzählt wird, lernen wir drei sehr unterschiedliche Frauenschicksale und zugleich drei faszinierende Charaktere kennen - mit ihrem Forschergeist, ihrem Wissensdurst und ihrer Entschlossenheit die Welt zu entdecken für damalige Verhältnisse etwas Besonderes. Trotz ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung erwachsen aus ihrer Zufallsbekanntschaft allmählich ein solidarischer Zusammenhalt und eine freundschaftliche Beziehung.

In zahlreichen Episoden erzählt Ann-Sophie Kaiser einfühlsam und anschaulich von der permanenten Diskriminierung, Ausbeutung aber auch den unzähligen Beschränkungen der Frauen im Lebensalltag in einer von Männern dominierten Welt. Die Autorin hat ihre Charaktere sorgfältig und vielschichtig ausgearbeitet. Alle Figuren sind sehr lebendig mit ihren Stärken und Schwächen dargestellt und wirken authentisch, so dass man ihre Handlungen gut nachvollziehen kann und ihre Entwicklung mit Interesse und Anteilnahme verfolgt. Insbesondere die Darstellung der historischen Figur der promovierten Physikerin Lise Meitner, die als "deutsche Marie Curie" in die Geschichte einging, aber auch die informativen Erläuterungen ihrer Grundlagenforschung im Bereich der Kernphysik und Strahlenforschung sowie zu ihrer Arbeit an Seite ihres Forschungspartners Otto Hahn haben mir hervorragend gefallen. Die Einblicke in die vielen herabwürdigenden Benachteiligungen und Demütigungen, die die Ausnahmewissenschaftlerin trotz ihrer großen fachlichen Kompetenz erdulden musste, sind äußerst aufschlussreich und zudem größtenteils historisch verbürgt.

Weniger gut haben mir einige Entwicklungen im zweiten Teil des Romans gefallen, der auf mich insgesamt weniger informativ und zeitweise etwas langatmig wirkte. Hier hätte ich mir den Fokus der Geschichte noch mehr auf den Aktivitäten und Einflüssen der deutschen Frauenbewegung gewünscht.

Abschließend erläutert Ann-Sophie Kaiser in ihrem Nachwort „Drei starke Frauen zwischen Historie und Fiktion“ sehr ausführlich, was in ihrem Roman auf wahren Begebenheiten und Fakten beruht und was fiktionalen Ursprungs ist. Auch viele weitere interessante historische Hintergrundinformationen z.B. zum damaligen Kampf um Bildung und die Berliner Frauenbewegung. Zeigen deutlich, wie viel Rechercheleistung in dem Roman steckt. Zudem umreißt die Autorin die Biographie Lise Meitners und gibt einen kurzen Einblick in ihren weiteren Lebensweg, denn das wechselvolle Leben dieser herausragenden Physikerin des 20. Jahrhunderts zeigt exemplarisch die Benachteiligung von Frauen in Wissenschaft und Forschung auf – eine adäquate Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen zu Lebzeiten und die wohlverdiente höchste Würdigung für die Entdeckung der Kernspaltung blieben ihr verwehrt!

FAZIT

Ein interessanter historischer Roman über die junge Physikerin Lise Meitner in Berlin, die Geschichte der heutigen Humboldt-Universität und den Kampf der Frauen um ihr Recht auf Bildung und um mehr Gleichberechtigung - sehr informativ, abwechslungsreich und unterhaltsam geschrieben!

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Veröffentlicht am 31.07.2020

Ergreifende Familiengeschichte

Nebelkinder
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INHALT
München, 1945:
Zusammen mit ihrer Mutter Käthe ist Ana aus Breslau geflohen. Käthe ist traumatisiert, und so ist es an Ana, für ihre Familie zu sorgen. Als sie ihre eigene Familie gründet, scheint ...

INHALT
München, 1945:
Zusammen mit ihrer Mutter Käthe ist Ana aus Breslau geflohen. Käthe ist traumatisiert, und so ist es an Ana, für ihre Familie zu sorgen. Als sie ihre eigene Familie gründet, scheint der Krieg verwunden, doch ihre Tochter Lilith bleibt ihr seltsam fremd. Viele Jahre später steht Lilith vor einer großen Entscheidung: Ausgerechnet sie, die doch immer unter ihrer distanzierten Mutter gelitten hat, soll den Sohn ihrer besten Freundin bei sich aufnehmen. Da fährt Ana mit ihr nach Breslau und erzählt ihr endlich, was damals wirklich geschehen ist.

(Quelle: Ullstein)

MEINE MEINUNG

Mit ihrem neuen Buch „Nebelkinder“ ist der deutschen Autorin Stefanie Gregg aus Ottobrunn ein sehr eindringlicher historischer Roman und ein bewegender Familienroman gelungen, der von der eigenen Familiengeschichte der Autorin inspiriert wurde und ihr ganz besonders am Herzen liegt. Ihre berührende Geschichte umspannt drei Generationen -beginnend mit der Vorkriegszeit in Breslau, über die Flucht nach Bayern, die Nachkriegszeit in München und bis schließlich in die Gegenwart.
In ihrem Roman beschäftigt sich die Autorin mit dem faszinierenden wie traurigen Themengebiet der „Nebelkinder“, wie die Enkel der Kriegsgeneration in der modernen Psychologie bezeichnet werden. Jene Generation, die gar nicht unmittelbar den Zweiten Weltkrieg und die vielfältigen Traumata miterlebt hat, aber deren Leben dennoch bewusst oder zumeist unbewusst von den grauenvollen Erlebnissen der Kriegsgeneration sowie ihrer Eltern, den Kriegskindern, bis heute beeinflusst wird und die im Nebel des Verdrängten, Verschwiegenen und Nichterzählten gefangen ist. Im Anhang ihres Romans geht die Autorin nochmals detaillierter auf diese Thematik ein.

Sehr anschaulich und nachvollziehbar hat Gregg viele dieser Aspekte in ihre lebendig erzählte Geschichte eingearbeitet und führt uns eindrücklich die vielfältigen Auswirkungen auf die Nebelkinder vor Augen, die sie daran hindern mit ihrem Leben zurechtzukommen. Beim Lesen merkt man deutlich, wie stark die schicksalhaften Lebenswege ihrer drei Frauenfiguren über die Generationen hinweg miteinander verbunden sind, verstrickt in der unheilvollen Vergangenheit und stets umwölkt von unverarbeiteten und weitergegebenen Traumata. Erst allmählich setzt sich aus den vielen Puzzlesteinchen ein Gesamtbild zusammen und man erkennt schließlich das erschütternde Ausmaß, das ihr aller Leben beeinflusst.

Greg erzählt die bewegende Geschichte von drei Frauen, drei Töchtern, einem schrecklichen, folgenreichen Krieg und ihrem gemeinsamen Schicksal – und zugleich eine tragische Familiengeschichte, die sich in der einen oder anderen Form vielfach ereignet hat und noch heute zahlreiche Familien betrifft. Es dauerte nicht lange bis mich die Geschichte, die in mehreren Handlungssträngen und auf verschiedenen Zeitebenen angelegt ist, völlig ihren Bann zog.

Aus den wechselnden Perspektiven der drei Hauptfiguren Käthe, ihrer Tochter Anastasia und Enkelin Lilith tauchen wir ein in die Geschehnisse aus der Vergangenheit. Schrittweise erfahren im Handlungsstrang der Gegenwart auch viel über die schwierige Beziehung zwischen Ana und ihrer Tochter Lilith und ihren Bemühungen, während ihrer Reise in Anas Heimat Licht in die Vergangenheit zu bringen und endlich die Schatten hinter sich zu lassen.

Die einfühlsame, detailreiche Figurenzeichnung der verschiedenen Figuren bis hin zu den verschiedenen Nebenfiguren ist der Autorin gut gelungen. Sie werden sehr lebensecht mit all ihren Charaktereigenschaften beschrieben und auch ihre Entwicklung angesichts ihrer Erlebnisse wirkt glaubhaft und wirklichkeitsnah. Ob nun die stolze Käthe aus feinem Breslauer Hause, die ihren schönen Ludwig unter großen Opfern heiratet und ihn bald schon an den Krieg verliert, ihre verhängnisvolle strapaziöse Flucht mit ihren zwei Töchtern Ana und Leni vor der russischen Armee in einem der letzten Züge ins Reich, die sie für immer zerbrechen ließ. Oder ihre Tochter Anastasia, die mit knapp 13 Jahren die Rolle der Mutter übernehmen, ihre Emotionen unterdrückt und stets funktionieren muss, so dass sie vor lauter Verantwortungsgefühl ihre eigenen Wünsche und Träume auf der Strecke bleiben. Oder schließlich Anas Tochter Lilith, die unter der Distanziertheit ihrer Mutter gelitten hat und sich stets ungeliebt fühlte – sie alle haben unter den Folgen der im Krieg erlittenen Traumata zu leiden.

Schade finde ich nur, dass zeitweise einige bedeutsame Nebenfiguren vor allem Käthes Schwester Selma aus der Handlung ausgeblendet wurden, so dass man ihr Schicksal und ihren Einfluss auf die Hauptfiguren nicht mitverfolgen konnte. Dies ist wohl der Tatsache geschuldet, dass die Autorin eine Fortsetzung ihres Romans plant, in der weitere Figuren in den Mittelpunkt rücken werden.
In einem Nachwort die Autorin schließlich noch eingehender auf ihre Familiengeschichte ein und erläutert, was in ihrem Roman Fakt und Fiktion ist.

FAZIT

Ein bewegender Roman zu einem wichtigen Thema, eine mitreißende Familiengeschichte und ein schockierendes Zeitdokument! Sehr lesenswert!

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