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Veröffentlicht am 05.11.2023

Großartig und mitreißend

Marschlande
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"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. ...

"Diese Frauen waren tot, aber was ihnen widerfahren war, war noch immer in der Welt, in einem anderen Gewand, zerstoben, verändert, aber es war noch da, es widerfuhr wieder, es wiederfuhr anderen." (S. 134)

Winterkahle Baumkronen wogen im rauen Wind; feiner Dunst steigt von der flachen Marschwiese auf. Vor drei Monaten waren sie nach Ochsenwerder gezogen, Britta und ihre Familie; ein Neuanfang, fernab der Stadt. Sie hatte ihren Job als Geografin aufgegeben – für die Familie –, fand nach der Geburt ihres zweiten Kindes keinen Anschluss mehr im Institut. Für ihre Kinder Ben und Mascha kommt der Umzug einem Weltuntergang gleich, doch sie versucht sie zu besänftigen, dass es Zeit brauche, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen. Doch wem macht sie etwas vor. Auf ihren Streifzügen durch die herbstkargen Marschwiesen lernt Britta das dem Gebiet so eigene Relief kennen und beginnt, die Spuren der Vergangenheit aus den Bracks, Deichlinien und alten Bauernhäusern zu lesen. Dabei stößt sie auf Abelke Bleken, eine Bäuerin, die um das Jahr 1580 in den Hamburger Marschlanden lebte – und sie bleibt hängen. Bleibt hängen am Schicksal dieser Frau, das geprägt ist von Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Je mehr sie erfährt, desto klarer treten ihr die Parallelen zur ihrem Leben, zu dem Leben von Frauen* in der heutigen Zeit auf, und sie beginnt zu verstehen.

"Die Wiesen haben Augen, die Felder haben Ohren." (S. 53)

Mehr als 450 Jahre ist sie her, die Allerheiligenflut des Jahres 1570, die als die verheerendste Sturmflut an der Nordsee vor dem 20. Jahrhundert gilt. Abelke Bleken besaß zu eben dieser Zeit einen Hof in den Marschlanden südwestlich Hamburgs, bestellte Felder und fuhr Ernten ein, pflegte ihren Deich. Die Menschen lebten mit der Natur und den Gezeiten, sie prägten ihr Leben, zeichneten sie, und entsprechend lehnten sie alles Frevelhafte, Übernatürliche ab. Als Töversche bezeichneten sie Frauen, die die Chuzpe besaßen, sich zu wehren, ihre Stimme gegen die Männer des Bauerndorfes zu erheben – mit weit reichenden Folgen.
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Mit zarter, wohltuender Sprache zeichnet Jarka Kubsova in „Marschlande“ ausdrucksstarke Bilder des Hamburger Marschlands und seiner Bewohner:innen, gegenwärtig wie in der Vergangenheit, und lässt insbesondere die Parallelen in Brittas und Abelkes Leben hervortreten. Eindrucksvoll beschreibt Kubsova die Einflüsse der Natur auf ihre Menschen, und wie die Menschen wiederum ihre Natur beeinflussen: das Außen im Innen und das Innen im Außen (so auch der Titel der Lesung zum Buch im Rahmen einer Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin, der besser nicht hätte passen können). Mir haben besonders die Passagen über Abelke Bleken gefallen, die Szenen eines möglichen Lebens zu einer Zeit, in der eben diese Unabhängigkeit, die sie so auszeichnet, nicht gern gesehen war, ihre Standhaftigkeit ein Dorn im Auge der anderen Dorfbewohner.
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Doch auch in der Gegenwart ist das kein unbekanntes Szenario, und auch ein Grund dafür, dass Britta immer mehr über Abelke erfahren mag, diese Frau, deren Namen sie zufällig auf einem Straßenschild sah – und bei weitem nicht die Einzige ist, die unerhört war, aus der Norm fiel oder für etwas gekämpft hat: „[Es führte] sie an den Ursprung. An die Quelle so vieler Dinge, die sie in ihrem Leben als Hindernis spürte. In ihrem Leben als Frau." (S. 306) Die Atmosphäre der Gegenwart ist eine andere, eine kühlere, distanzierte, und ich wurde mit Britta nicht wirklich warm, viel eher strengte sie mich zeitweise an; das als einzige kritische Anmerkung. Denn ansonsten hat mir die Geschichte ungemein gut gefallen, habe ich doch so viel mitnehmen können (insbesondere auch aus dem Nachwort): eine gewisse Awareness ob des Ursprungs heutiger Verhaltensweisen der Gesellschaft und der unmittelbaren Nähe geschichtsträchtiger Orte, der Vergangenheit in der Gegenwart, und das Wesen der Hexenprozesse als Processi Extraordinarii. Ein so klug komponiertes, berauschendes Buch. Empfehlung!

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Veröffentlicht am 18.12.2020

Easy like French summer nights

Queen July
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Manchmal war es besser, Menschen und Dinge ziehen zu lassen, anstatt ihnen hinterherzulaufen. (S. 103)

Alles begann in Paris, und da – genauer: in einer Badewanne gefüllt mit wohltuend kühlem Wasser und ...

Manchmal war es besser, Menschen und Dinge ziehen zu lassen, anstatt ihnen hinterherzulaufen. (S. 103)

Alles begann in Paris, und da – genauer: in einer Badewanne gefüllt mit wohltuend kühlem Wasser und einer Flasche Weißwein – soll es nun weitergehen: Aziza ist in Paris aufgewachsen, lebt aber nun in Dschibuti. Als sie mit ihrem Medizinstudium und der Ausbildung zur Anästhesistin fertig war, hat sie die Möglichkeit, Paris und die Geister der Vergangenheit hinter sich zu lassen, beim Schopfe gepackt und trat eine Stelle in einem chinesischen Krankenhaus an. Zwischen ihrer Arbeit, feucht-fröhlichen Partys und heißen, gemeinsamen Nächten mit einem attraktiven Kollegen aus Addis Abeba fällt ihr das auch nicht allzu schwer, bis sie eines Tages eine Nachricht ihrer Jugendliebe Strehler erhält. Einst ihre große Liebe, wendete er sich damals ohne ein Wort der Erklärung von ihr ab, und verletzte sie damit tief. Nun wollen sie sich nach all den Jahren, in denen sie beide neue Erfahrungen gemacht, ein anderes Leben geführt haben, in Paris wiedertreffen. Vor ihrem Treffen ist Aziza nervös, unsicher, und vertraut sich ihrer Gastgeberin July, der Freundin einer Freundin, neben einer Badewanne auf dem Boden sitzend, an.
Was mir zunächst wirr und fragmentiert erschien, fügte sich schnell zu einem stimmigen, atmosphärischen Ganzen zusammen, und unversehens war ich in Azizas Beschreibungen ihres Lebens versunken. Der fantastische Erzählverlauf, der Spannungsaufbau und die empathische Darstellung fesselten mich eines Soges gleich an die Seiten. Von außen betrachtet scheint es eine kitschige, wenn nicht sogar klischeebeladene Liebesgeschichte zu sein, doch es ist mehr: Stadelmaier greift gesellschaftspolitische Themen wie Terroranschläge, Krieg und Flucht auf, erzeugt eine bedrückende Art von Weltschmerz und stellt diesem junge, dickköpfige, aber aufgeweckte und gewitzte Protagonistinnen gegenüber. All das mündet in einer ausgeglichenen Symbiose aus Bedrückung und Zufriedenheit, Humor und Erotik. Azizas Gefühle werden spürbar in ihren Erzählungen transportiert, und regelmäßig von Julys teils vulgären, aber überlegten Kommentaren und Anmerkungen unterbrochen, was einen aufmerkenden Break gibt, trotz all der Schwermütigkeit den Optimismus bewahren lässt.

Das Buch hat mich mit seinem großen Gefühlsspektrum, der feinen Beobachtungsgabe und dem fesselnden Verlauf wirklich begeistert, und mir in diesen dunklen Zeiten ganz viel Sonne beschert.

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Berührende Geschichte

Dieses ganze Leben
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Werden die Dinge, die dir heute passieren, morgen weh tun? (S. 216)

Die 16-jährige Paola passt nicht in diese Welt – findet sie. Nicht in das große Haus, nicht in dieses Leben, das ihre Mutter ihr versucht, ...

Werden die Dinge, die dir heute passieren, morgen weh tun? (S. 216)

Die 16-jährige Paola passt nicht in diese Welt – findet sie. Nicht in das große Haus, nicht in dieses Leben, das ihre Mutter ihr versucht, aufzudrängen, wo tadellos auszusehen hat, erfolgreich und beliebt sein soll. Freunde hat sie keine, verbringt viel lieber die Zeit mit ihrem Bruder Richi, der im Rollstuhl sitzt. Damit sie nicht dick wird, fordert ihre Mutter von ihr, täglich mit ihrem Bruder spazieren zu gehen – und so findet sie sich jenseits der schicken Einfamilienhäuser wieder. Gemeinsam erkunden sie die Fabrikhallen und die Sozialwohnsiedlung, wo Paola das wahre, lebenswerte Leben vermutet und Antonia, einen Jungen aus ihrer Schule trifft. Hier erfährt sie schließlich mehr, als ihr lieb ist: über sich selbst und über ihre Familie.

Aus der Sicht von Paola erzählt Raffaella Romagnolo empathisch und mit jungen Gedanken und Worten, wie sie „dieses ganze Leben“ wahrnimmt. Sie schreibt aufmüpfig, keck, und spiegelt so unfassbar gut wieder, dass sie ganz anders ist als die Anderen. Häufig wirft sie popkulturelle Referenzen ein, die teils wirklich drollig sind, aber manchmal auch fehl am Platz erscheinen. Die Detailliertheit der Erzählung spricht für die wache Auffassungsgabe des Mädchens und dass sie nicht so naiv ist, wie die Erwachsenen um sie rum es vermuten würden. Ich konnte mich sehr gut in Paolas Charakter einfinden und ihre Handlungen nachvollziehen, war ich selbst ja auch in der Pubertät. Leider zogen sich manche Passagen sehr und die Erzählung schweifte oft von der eigentlichen Handlung ab. Doch das kann eigentlich nicht als Kritik angesehen werden, denn ihre Erlebnisse hat Paola für eine imaginäre Freundin aufgeschrieben, und sagt selbst von sich, dass sie beim Erzählen und Schreiben gerne abschweift; daher ist es so gesehen ein stilistisches Mittel. Insgesamt fand ich den Roman sehr unterhaltsam, wenn auch manchmal sehr anstrengend zu lesen, fordert er doch volle Konzentration der Handlung folgen zu können, den roten Faden zu bewahren.

Vielen Dank an den @diogenesverlag für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 14.11.2020

Intensiv und kunstvoll

Wie Dinge sind
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Eine Sequenz. Ein Augenblick. Ein Gefühl der Sehnsucht und Schuld.

Die kanadische Comiczeichnerin gg begleitet eine junge Frau, deren Eltern in ein neues Land migriert sind, um ihrer Tochter ein besseres ...

Eine Sequenz. Ein Augenblick. Ein Gefühl der Sehnsucht und Schuld.

Die kanadische Comiczeichnerin gg begleitet eine junge Frau, deren Eltern in ein neues Land migriert sind, um ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, auf der Suche nach ihrem Selbst. Sie sammelt Eindrücke, hält fotografisch fest, wie Dinge sind. Während sie auf einem Markt das Angebot begutachtet, sieht sie in der Ferne eine Frau, die ihr ähnlich sieht und folgt ihr. Durch eine zufällige Verwechslung findet sie sich plötzlich in ihrer Wohnung wieder – ein Reisepass mit vielen Stempeln, Fotos anderer Städte, ein Anrufbeantworter mit einer Nachricht ihrer Mutter. In der Protagonistin wird eine Sehnsucht nach familiärer Nähe, Geborgenheit, nach Freiheit entfacht, die sie dazu veranlasst, in der Wohnung zu bleiben. Erschöpft schläft sie ein und träumt von prägenden Eindrücken ihrer Kindheit, der Bürde ihrer arbeitenden Mutter, die ihre eigene Zukunft im fremden Land zum Wohle der Tochter aufgegeben hat.

Ohne viele Worte lässt gg Bilder sprechen: Mit gedeckten, monochromen Farbtönen, hohen Kontrasten und großen Bildpanels zeigt sie aus Sicht eines externen Beobachters detailliert die Eindrücke, die die junge Frau sammelt, die sie bewegen. Die minimalistische Art und die Freiheiten, die die Autorin dem Leser dadurch zur Interpretation und Entwicklung einer emotionalen Bindung gibt, waren herausfordernd, haben mir aber ungemein gefallen. Die Zeichnungen sind liebevoll und weich, stehen im krassen Gegensatz zur tiefgründigen Thematik, und rücken durch die fehlende verbale Unterstützung in den Vordergrund.

Eine kurzweilige, aber intensive Graphic Novel, die im Gedächtnis bleibt. Herzlichen Dank an den @avant_verlag für das #Rezensionsexemplar.

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Veröffentlicht am 10.11.2020

Beeindruckende Bilder

Tiger
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Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen. (S. 24)

Für die englischen Doktorandin Frieda ist die Arbeit mit Bonobos und das Verstehen ihres Wesens in vielerlei ...

Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen. (S. 24)

Für die englischen Doktorandin Frieda ist die Arbeit mit Bonobos und das Verstehen ihres Wesens in vielerlei Hinsicht eine willkommene Flucht vom Alltag. Doch nach einem schweren Vergehen wird ihr gekündigt, und sie verfällt wieder ihrer Depressionen, die sie seit einem lebensbedrohlichen Überfall begleiten. Als sie in einem kleinen Zoo in Devon eine neue Anstellung findet, wird sie den Tigern zugeteilt; sie soll sich um die neue Tigerdame Luna kümmern, die aus schlechten Verhältnissen gerettet wurde. Tiger waren für Frieda nie mehr als rohe Aggression, blutrünstige Gier – aber je mehr sie das elegante Wildtier kennenlernt, desto mehr begeistert sie sich für ihre eindrucksvolle, sensible Erscheinung – und erkennt einen Teil von sich selbst in ihm.

Auf den Spuren von Lunas Herkunft springt die Handlung zurück in den Osten Russlands, wo Ivan und sein Sohn Tomas ein Tigerreservat betreiben, wo Edith mit ihrer Tochter Sina im Wald lebt und sie das Überleben lehrt, wo die Gräfin auf verzweifelter Jagd nach Essen für sich und ihre Jungen durch ihr Gebiet streift. Und alle Fäden verbinden sich schließlich wieder bei Frieda in der Gegenwart.

Polly Clark erzählt mit einer ungeheuren Sprachgewalt und imposanten Bildern die Geschichte einer gebrochenen Frau, eines einsamen Mannes und eines zähen Kindes, die alle durch ihre Verbindung zu den eleganten Wildkatzen verbunden sind. Die Art und Weise, den Ursprüngen Lunas zu begegnen, hat sie großartig umgesetzt, voller Gefühl und Empathie, fesselnd und mitreißend. Der Einstieg rund um Frieda ist bei weitem mein liebster Teil des Romans und entsprechend ernüchtert war ich vom weiteren Verlauf: Ich konnte mich immer weniger mit den Protagonisten identifizieren, die Geschichte verlor phasenweise von ihrer einnehmenden Kraft, war langatmig, und gerade das Ende war dann sehr plötzlich und abrupt. Doch die Bilder, die Faszination, die die Autorin geweckt hat, sowie ihr Schreibstil beeindruckten mich, und so ist "Tiger" eine eindrucksvolle Komposition verschiedenster Charaktere vor dem Hintergrund einer fesselnden Handlung, die im Gedächtnis bleibt.

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