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Veröffentlicht am 22.05.2021

Unterhaltungsroman, dem es als Krimi an Spannung fehlt

Dampfer ab Triest
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REZENSION – Seit 2008 ist der österreichische Schriftsteller Günter Neuwirth (54) für seine in Wien und Graz angesiedelten Kriminalromane und -kurzgeschichten bekannt. Mit seinem im März im Gmeiner Verlag ...

REZENSION – Seit 2008 ist der österreichische Schriftsteller Günter Neuwirth (54) für seine in Wien und Graz angesiedelten Kriminalromane und -kurzgeschichten bekannt. Mit seinem im März im Gmeiner Verlag veröffentlichten Krimi „Dampfer ab Triest“, dem ersten Band einer Reihe um Inspector Bruno Zabini in Triest, überschreitet der Autor nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Grenzen: Neuwirth taucht ab in die „gute alte Zeit“ der Donaumonarchie und begibt sich mit seinen Protagonisten in der 1907 noch zum habsburgischen Kaiserreich gehörenden Vielvölker-Hafenstadt Triest an Bord der „Thalia“, der ersten österreichischen „Yacht für Vergnügungsfahrten“.
Mit seinem Inspector Zabini hat Neuwirth eine interessante Figur geschaffen, die durchaus noch für weitere Krimis gut ist: Der über 30-jährige, mehrsprachig aufgewachsene Sohn eines italienischen Vaters wohnt noch immer in Triest im Elternhaus mit seiner österreichischen Mutter zusammen. Er genießt sein Leben als Junggeselle und seine gleichzeitigen Liebschaften mit zwei verheirateten Damen. Deshalb fügt er sich nur unwillig in sein Schicksal, als er zum Personenschutz des Grafen Max von Urbanau und dessen Tochter an Bord des Luxusdampfers abkommandiert wird. Nach Geheimdienstberichten ist das Leben des Grafen bedroht. Vorsorglich nimmt der für die moderne Kriminalistik aufgeschlossene Zabini, von seinen fachlich rückständigen Kollegen noch belächelt, seinen „Tatortkoffer“ mit auf die Adria-Kreuzfahrt an Bord der „Thalia“, ein erst kürzlich vom Grazer Kriminologen Hans Gross (1847-1915) entwickeltes Gepäckstück mit Hilfsmitteln zur Spurensicherung und Abnahme von Fingerabdrücken.
Auftragsgemäß mischt sich Zabini nun inkognito unter die illustren Kreuzfahrtgäste. Aber schon bald gibt es beim ersten Landgang im sizilianischen Ragusa mit Schiffskommissär Glustich den ersten Toten. Zabinis wahre Profession lässt sich vor den Gästen nun nicht mehr verheimlichen, zumal bald auch ein erstes Attentat auf den Grafen folgt, dessen sich der altgediente Frontoffizier allerdings noch erwehren kann. Plätschert der Krimi anfangs noch seicht dahin und ähnelt eher einem Liebesroman von Eugenie Marlitt, nimmt die Handlung bei stürmischer Fahrt des Vergnügungsdampfers in der Adria dann doch noch Fahrt auf. In häppchenweise eingestreuten Abschnitten lesen wir, dass der auf den Grafen angesetzte Profi-Killer unter falscher Identität ebenfalls an Bord ist. Da ihm Zabini nun als Polizist in die Quere kommen könnte, schwebt nun auch dieser in Todesgefahr.
Wir erfahren im Roman viel über Triest sowie die welt- und handelspolitische Bedeutung der Habsburg-Monarchie bis hin zur Teilnahme Österreichs am Boxer-Aufstand in China, zugleich einiges über den gesellschaftlichen Wandel im letzten Jahrzehnt der Adelsherrschaft, die beginnende Emanzipation der Frauen sowie den industriellen Fortschritt jener Zeit. So verbindet der Roman „Dampfer ab Triest“ recht geschickt und ohne stilistische Brüche unterhaltende mit historisch interessanten Aspekten. Auch das vergnügliche Treiben an Bord des Dampfers ist anschaulich und dialogreich geschildert. Nur leider fehlt es dem Buch anfangs an Spannung, die erst ab der Mitte endlich anzieht. Der Schluss mit Auflösung des letzten Mordfalles ist dann aber wiederum enttäuschend und nähert sich erneut dem Marlitt-Niveau an. Alles in allem kann man den historischen Roman aber als nette Unterhaltungslektüre noch empfehlen.

Veröffentlicht am 25.04.2021

Information geht zu Lasten der Spannung

Montecrypto
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REZENSION – Es ist schon erstaunlich, wie scheinbar mühelos und erfolgreich Tom Hillenbrand (49) in seinen Romanen die Genres wechselt. Kannte man ihn anfangs vor allem als Autor humorvoller Kulinarik-Krimis, ...

REZENSION – Es ist schon erstaunlich, wie scheinbar mühelos und erfolgreich Tom Hillenbrand (49) in seinen Romanen die Genres wechselt. Kannte man ihn anfangs vor allem als Autor humorvoller Kulinarik-Krimis, dann mit „Drohnenland“ (2014) als Autor eines Thrillers, stieg er mit „Hologrammatica“ (2018) und „Qube“ (2020) ins SciFi-Genre um künstliche Intelligenz ein. Jetzt wechselte der Bestseller-Autor mit seinem Wirtschaftskrimi „Montecrypto“ erneut das Genre. Darin befasst er sich nicht nur mit digitaler Krypto-Währung, sondern allgemein mit globaler Finanz- und Geldpolitik.
Nach dem Unfalltod des amerikanischen Start-Up-Unternehmers Greg Hollister mit seinem Privatjet über hoher See, wird Ed Dante von Hollisters Schwester beauftragt, nach dessen heimlich in Bitcoins angelegten Milliardenvermögen zu suchen, das internationale Medien bald in Anlehnung an Alexandre Dumas' Abenteuerroman „Der Graf von Monte Christo“ als „Montecrypto“ bezeichnen. Dante, einst mitverantwortlich für die Pleite der Investmentbank Gerard Brothers – vergleichbar der Pleite der US-Investmentbank Lehmann Brothers im Jahr 2008 –, ist inzwischen ein auf Finanzwirtschaft spezialisierter Privatdetektiv. Als Ermittler ist er allerdings „anders als Sam Spade“, der legendäre Protagonist in Dashiell Hammetts Krimi „Der Malteser Falke“. Dante ist kein knallharter, eher ungelenker Ermittler: „Sam Spade kann so etwas vermutlich, ohne sich das Sprunggelenk zu verstauchen, Dante nicht.“
Statt selbst als Ermittler die Richtung vorzugeben, wird Dante vom FBI und bald von der weltweiten Massenhysterie unzähliger Schatzsucher sowie ausländischer Geheimdienste getrieben. Unterstützt wird er auf der Jagd durch die USA, die Schweiz und Mexiko von der Journalistin und Bloggerin Mercy Mondego. Bald erkennt Dante, dass es in diesem Fall um weit mehr geht als um einen Krypto-Schatz – nämlich um die Zerstörung unseres Geld- und Währungssystems: Der verstorbene Greg Hollister scheint ähnlich wie Dumas' Graf von Monte Christo dazu seinen Milliardenschatz postum zu nutzen.
Hillenbrands Wirtschaftskrimi „Montecrypto“ hat trotz aller Faszination wie viele Romane dieses Genres eine Schwäche: Fast bis zur Mitte des Thrillers erklärt uns der Autor in verwirrenden Einzelheiten die globale Geldwirtschaft, die Besonderheiten der modernen digitalen Krypto-Währung und deren Unterschied, aber auch Gemeinsamkeit mit herkömmlichen Geld: „Geld ist kondensierte Hoffnung, ist Glaube, …. Glaube daran, dass die eigene Gier gerechtfertigt ist.“ Denn an Goldreserven als Gegenwert und Sicherheit, wie manche noch glauben, sind weder der Dollar noch die Bitcoins gekoppelt.
Erst in der zweiten Hälfte gewinnt der Finanzthriller an Fahrt und Spannung, wenn wir mit Dante und Mercy endlich auf Jagd nach dem Täter sind. Betrachtet man allerdings den rein literarischen Teil des Romans, lassen also den ausgezeichnet recherchierten Sachverhalt um Geldwirtschaft und digitale Krypto-Währungen unberücksichtigt, enttäuscht besonders der Schluss, erinnert er doch zu sehr an die Schlussszene alter Bond-Filme, wenn Agent 007 nach der Explosion des Ganoven-Hauptquartiers mitten auf hoher See im Schlauchboot sein Bond-Girl im Arm hält.
Auch die Lösung der bereits begonnenen globalen Finanzkrise ist dann doch zu simpel und wird als letztes Kapitel scheinbar lustlos angefügt. Dies steht allzu sehr in krassem Gegensatz zu den sonst ausgezeichnet recherchierten Zusammenhängen und Wirken des internationalen Finanz- und Geldwesens. „Montecrypto“ ist deshalb zwar ein vom Thema her faszinierender, für Laien sehr informativer, vor allem im zweiten Teil auch spannender, zum Ende hin aber enttäuschender, letztlich doch nur befriedigender Roman.

Veröffentlicht am 14.03.2021

In gewissem Maß spannend, aber auch enttäuschend

Der Solist
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REZENSION – Mit seinem neuen Krimi „Der Solist“, im Januar beim Rowohlt Verlag erschienen, startet Jan Seghers (63) eine neue Buchreihe um den nach Berlin versetzten BKA-Ermittler Neuhaus. Seghers kennt ...

REZENSION – Mit seinem neuen Krimi „Der Solist“, im Januar beim Rowohlt Verlag erschienen, startet Jan Seghers (63) eine neue Buchreihe um den nach Berlin versetzten BKA-Ermittler Neuhaus. Seghers kennt man durch die seine „Robert Marthaler“-Krimis. Dass der „Solist“ Neuhaus keinen Vornamen hat, ist nicht der einzige Unterschied zum Frankfurter Kommissar.
Im Auftaktroman „Der Solist“ geht es um tagesaktuelle Themen wie islamistischer Terror in Deutschland, Ausländerhass, Rechtsextremismus und ihm nahestehende Parteien, für die bei Seghers „Die Aufrechten“ stehen. Die Handlung setzt im September 2017 ein, nur wenige Monate nach dem Terroranschlag von Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz (19. Dezember). Als ein jüdischer Aktivist offensichtlich Opfer eines islamistischen Kommandos Anis Amri geworden ist, tritt die kürzlich gegründete Terrorabwehreinheit SETA unter Leitung von Günther Jeschke in Aktion. BKA-Ermittler Neuhaus, der dieser Elite-Einheit zugeteilt ist, arbeitet allerdings selbstständig und ist ausschließlich dem BKA-Präsidenten verantwortlich. Unterstützt wird er von der jungen deutsch-türkischen Kollegin Suna-Marie, einer waschechten Berlinerin. Kaum hat Neuhaus seine Ermittlungen aufgenommen, gibt es ein zweites Mordopfer des Amri-Kommandos – eine bekannte muslimische Anwältin.
Positiv anzumerken ist, dass das Buch schnörkellos geschrieben ist. Die Handlung geht in raschem Tempo voran. Der Roman liest sich deshalb leicht, ist auch spannend, verliert aber noch vor dem Ende an Dramatik. Das Buch ist eine willkommene Feierabend-Lektüre. Doch leider überwiegen die negativen Punkte: Vor allem die personelle Zusammenstellung dämpfte bald meine zunächst abwartende Begeisterung beim Lesen. Den einsamen, eigenbrödlerischen Kommissar und dessen junge engagierte Kollegin kenne ich ebenso wie den findigen Computer-Nerd Naresh Khan, in Deutschland geborener Sohn von Einwanderern, der später zum Team hinzustößt, kenne ich nur zu gut aus den ebenfalls in Berlin spielenden und aktuelle Themen aufgreifende „Eugen de Bodt“-Thrillern von Christian von Ditfurth, die literarisch aber auf einem viel höheren Niveau angesiedelt sind.
Störend empfand ich auch, dass im Gegensatz zur Kollegin Suna-Marie, die vom Autor interessant, sympathisch und vielschichtig charakterisiert wird, der eigentliche Protagonist Neuhaus noch ziemlich „blass“ daherkommt. Vielleicht will der Autor seine Hauptfigur erst in den Folgebänden aufbauen? Enttäuscht hat mich dann aber schließlich eine Schlüsselszene, da durch sie ziemlich frühzeitig deutlich wurde, wer hinter den Berliner Mordanschlägen steckt.
Im Gegensatz zu anderen Rezensenten, die den Roman als einen spannenden Auftakt einer neuen Krimi-Reihe loben, kann ich mich diesem Urteil überhaupt nicht anschließen. Ich finde den Roman recht einfach, ohne großen literarischen Anspruch und „mit der heißen Nadel gestrickt“. Es scheint, als wollte der Autor die oben genannten Themen – vor allem eines, das ich hier bewusst ausgelassen habe – schnell noch verarbeiten, solange sie aktuell sind. Ob sich eine Buchreihe wirklich lohnt, muss Jan Seghers noch beweisen.

Veröffentlicht am 14.01.2021

Gut lesbar, aber nur mäßig spannend

Vergeltung
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REZENSION – Der Name des britischen Schriftstellers Robert Harris (63) verspricht üblicherweise Spannung. Doch sein im November auf Deutsch veröffentlichter Roman „Vergeltung“ erreicht leider nicht jenes ...

REZENSION – Der Name des britischen Schriftstellers Robert Harris (63) verspricht üblicherweise Spannung. Doch sein im November auf Deutsch veröffentlichter Roman „Vergeltung“ erreicht leider nicht jenes Niveau, das wir von seinen Bestsellern „Vaterland“ (1992), „Enigma“ (1995) oder zuletzt „München“ (2017) gewohnt sind. Zwar widmet sich der Autor auch in seinem neuen Roman wieder einem bedeutenden Kapitel des Zweiten Weltkriegs, doch plätschert die Rahmenhandlung um den deutschen Ingenieur Dr. Rudi Graf und die britische Offizierin Kay Caton-Walsh, die der Autor um das eigentliche Thema des Einsatzes der deutschen Vergeltungswaffe V2 gesponnen hat, nur mäßig dahin und gewinnt erst ab Mitte des Buches etwas mehr an Dramatik.
Wir befinden uns im November 1944, nur sechs Monate vor Kriegsende. Das Deutsche Reich scheint besiegt, die Alliierten sind auf dem Vormarsch. Doch Hitler setzt alles auf seine „Wunderwaffe“, die von Wernher von Braun und seinen Ingenieuren in Peenemünde gebaute V2-Rakete – V wie Vergeltung. Rudi Graf, ein Freund Brauns seit Jugendzeiten, ist verantwortlicher Ingenieur im besetzten Holland, wo aus den Wäldern bei Scheveningen die ballistischen Flugkörper täglich von mobilen Abschussrampen in Richtung London gestartet werden. Die britischen Aufklärer können die in Überschallgeschwindigkeit fliegenden Raketen nicht orten, weshalb Kay Caton-Walsh und andere Soldatinnen des Frauenhilfsdienstes der Air Force im befreiten Belgien abgesetzt werden, um aus dortiger Nähe zur holländischen Grenze den Raketenstart zu beobachten, die Standorte der mobilen Startplätze zu berechnen und sie durch britische Bomber zerstören zu lassen.
Auch in „Vergeltung“ verbindet Robert Harris historisches Geschehen und real existierende Personen wie den deutschen Raketenbauer Wernher von Braun (1912-1977) und SS-General Hans Kammler (1901-1945) mit fiktiven Helden seines Romans, dessen Handlung zeitlich parallel und kapitelweise im Wechsel deren Geschichte erzählt. Zusätzlich erfahren wir aus Rudi Grafs Erinnerungen episodenhaft die Entwicklung des Raketenbaues seit 1928.
Wie Robert Harris im Nachwort schreibt, hat er sein Buch in den Wochen des ersten Corona-Lockdowns verfasst. Dies mag ein Grund sein, weshalb der Roman etwas lustlos aus Fakten und Fiktion zusammengeschrieben scheint. „Vergeltung“ lässt vor allem deshalb Spannung vermissen, da man hierzulande vielleicht genauer über Wernher von Braun und die V2 informiert ist, als es britische Leser sein mögen, weshalb diese Abschnitte des Romans eher langweilen. Bleibt die eigentliche Handlung um Rudi Graf und Kay Caton-Walsh. Doch deren Charaktere bleiben blass und wirken mit dem desillusionierten deutschen Ingenieur und der einsatzfreudigen britischen Offizierin, die zur Verteidigung ihrer Heimat „mit Rechenschieber und Logarithmentafeln“ gegen Deutschland kämpft, leider allzu klischeehaft. Da sind doch die Charaktere des von der Raumfahrt besessenen opportunistischen Wernher von Braun und des fanatischen SS-Generals Kammler, die beide im Roman nur als Randfiguren auftreten, wesentlich interessanter.
Robert Harris vermag mit seinem Roman kaum zu fesseln, wirkt die Handlung doch gelegentlich sogar unglaubwürdig. Wenn zum Beispiel Wernher von Braun als uniformierter SS-Sturmbannführer seinen unter Sabotageverdacht stehenden Freund Graf aus dem Verhör der SS befreit und ihn zurück nach Deutschland nimmt, als wäre der Verdächtige dort vor den Fängen der SS sicher. So bleibt „Vergeltung“ ein nur mäßig spannender, aber noch gut lesbarer Roman über ein interessantes Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Mehr aber auch nicht.

Veröffentlicht am 12.11.2020

Leichte Krimi-Kost zum Feierabend

Maigret im Haus der Unruhe
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REZENSION – Neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien 2019 im Schweizer Kampa-Verlag und nun auch im Hamburger Atlantik-Verlag erstmals eine Übersetzung des Kriminalromans „Maigret im Haus der ...

REZENSION – Neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung erschien 2019 im Schweizer Kampa-Verlag und nun auch im Hamburger Atlantik-Verlag erstmals eine Übersetzung des Kriminalromans „Maigret im Haus der Unruhe“. Es ist nach neuesten Erkenntnissen der erste Roman von Georges Simenon (1903-1989) um seinen Pariser Kommissar Jules Maigret, der den belgischen Schriftsteller weltbekannt machte und in 75 Romanen sowie 28 Erzählungen als Hauptfigur in mehr als 40 Jahren begleitete.
Fast noch spannender als dieser Krimi ist die Geschichte seiner Wiederentdeckung. Denn bisher galt, wie Verleger Daniel Kampa in seinem lesenswerten 20-seitigen Nachwort berichtet, der 1931 veröffentlichte Krimi „Maigret und Pietr der Lette“ als Auftakt der Maigret-Reihe. Doch ist, wie man heute weiß, die Figur Maigrets älter, zumal schon in frühen Romanen des jungen Simenon verschiedentlich Ermittler auftraten, gelegentlich sogar mit Namen Maigret. Doch erst 1929 ließ der damals 26-jährige Autor bei seinem Versuch, sich vom Groschenroman-Schreiber zu einem seriösen Schriftsteller zu wandeln, in drei Romanen seinen Kommissar zur Hauptfigur heranreifen, bis endlich im vierten, dem Krimi „Maigret im Haus der Unruhe“, Maigret seinen endgültigen Charakter hatte. Simenons Kommissar war nun ein Mann mittleren Alters mit stämmiger Figur, mit Melone, Mantel und unverzichtbarer Pfeife, der sich durch unerschütterliche Ruhe, Einfühlungsvermögen und seinem Verständnis für die Täter auszeichnete. Maigret war zum „Schicksalsflicker“ geworden, wie Simenon seinen Protagonisten nannte. Dieser vierte Roman aus dem Jahr 1929, der im Frühjahr 1930 in einer französischen Zeitung abgedruckt wurde, kam erst 1932 unter dem Pseudonym Georges Sim als Buch in den Handel, also ein Jahr nach „Maigret und Pietr der Lette“.
Worum geht es nun in diesem mit 90-jähriger Verspätung erstmals übersetzten Maigret-Roman? Während seines Nachtdienstes bekommt der Kommissar den Besuch einer jungen Frau. Sie bezichtigt sich, einen Mann erstochen zu haben. Als Maigret nach kurzem Telefonat im Nebenzimmer in sein Büro zurückkommt, ist sie verschwunden. Doch Maigret findet sie in einem Mehrfamilienhaus im Pariser Vorort Montreuil, wohin er am nächsten Morgen gerufen wird: Einer der Bewohner wurde ermordet. Die Ermittlungen sind schwierig, denn hinter ihrer bürgerlichen Fassade scheinen alle etwas zu verbergen.
Wir Leser stehen an den folgenden Tagen an Maigrets Seite bei den Vernehmungen, folgen ihm durch die Pariser Straßen auf der Suche nach dem Mörder. Verdächtige gibt es viele, der Fall ist verzwickt. Sogar Maigret weiß nicht, wie er damit umgehen und die darin verwickelten Personen einschätzen soll. Natürlich gelingt ihm trotz eines großen Verwirrspiels am Ende die Aufklärung. Doch darin findet Maigret keine Genugtuung. Schon in diesem ersten Krimi empfindet Simenons Kommissar Mitleid mit Täter und Opfern: „Er war missmutig. Er stand beim Ofen, die Hände auf dem Rücken, wie es seine Art war.“
Dieser nun nach 90 Jahren als erster Maigret-Krimi wiederentdeckte Roman ist literarisch nicht unbedingt anspruchsvoll. Aber er ist ein spannender Unterhaltungsroman und mit seinen nur 200 Seiten in großer Schrift bestens als Lektüre zum Feierabend geeignet. Für alle Freunde und Sammler der weltberühmten Krimireihe ist „Maigret im Haus der Unruhe“ allerdings eine unverzichtbare Ergänzung im Bücherregal.