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Veröffentlicht am 06.04.2021

Eine Affäre in der Nachbetrachtung

Roman d’amour
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Charlotte ist Autorin und ehemalige Geliebte von Ludo. Ihr aktuelles Buch heißt genauso wie das hier bewertete, nämlich „Roman d’amour“ und beschreibt eine in der Vergangenheit liegende Affäre. Die Protagonisten ...

Charlotte ist Autorin und ehemalige Geliebte von Ludo. Ihr aktuelles Buch heißt genauso wie das hier bewertete, nämlich „Roman d’amour“ und beschreibt eine in der Vergangenheit liegende Affäre. Die Protagonisten in Charlotte’s Roman sind Klara und Lew, machen Ähnliches durch wie sie selbst damals mit Ludo. Nun ist Charlotte auf dem Weg zu einer Lesung mit anschließender Preisverleihung. Vorher lässt sie sich nur noch kurz von der Journalistin, Frau Sittich, interviewen. Aus den Interviewszenen sowie den rückblickenden Sequenzen auf die verflossene Liebe konstruiert Sylvie Schenk einen ungewöhnlichen Liebesroman ohne schnulzigen Kitsch.

Der Clou des vorliegenden Werkes ist der Roman im Roman. Diese zusätzliche Dimension lässt die Wahrheit massiv verschwimmen. Die Namensgleichheit im Romantitel wie auch die starke Ähnlichkeit der Namen der Figuren, Charlotte und Klara sowie Ludo und Lew, lies mich immer wieder den Überblick verlieren, wer jeweils genau gemeint war. Die Figuren sind im Verlauf immer mehr miteinander verschmolzen. Obwohl mich fehlender Überblick sonst nervt, weil ich mich als Leser*in dann nicht richtig geführt fühle, mochte ich das Vage hier sehr gern. Es war auch gar nicht notwendig, alles ganz genau zu wissen. Im Vordergrund des Leseerlebnisses stand für mich die Atmosphäre und das Gefühlschaos der zurück gebliebenen Geliebten.

Neben der interessanten Konstruktion der Geschichte gefiel mir auch das Sprachniveau der französisch-deutschen Autorin. Das Überbordende der französischen Sprache, wenn es um Emotionen geht, kommt hier optimal zur Geltung, wunderschön, niemals hohl. Sätze wie, „Manchmal sind Worte wie Laternen, sie beleuchten das Gesicht des Sprechenden. (S. 26)“ sind Belege für die Verwandtschaft mit dem typischen Liebesroman, allerdings auf einer anderen Ebene.

Mir hat dieser Roman im Roman sehr gut gefallen. Die Interviewszenen hatten zeitweise ein paar Längen. Dennoch empfehle ich den „Roman d‘amour“ gern weiter.

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Veröffentlicht am 02.04.2021

Roadtrip zur Wahrheit

Die lustlosen Touristen
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Ulia ist Musikwissenschaftlerin, schreibt ihre Doktorarbeit über Benjamin Britten und dessen Pazifismus. Gustavo ist spanischer Jurist und Professor an einer Hochschule. Das Paar ist auf Sightseeingtour ...

Ulia ist Musikwissenschaftlerin, schreibt ihre Doktorarbeit über Benjamin Britten und dessen Pazifismus. Gustavo ist spanischer Jurist und Professor an einer Hochschule. Das Paar ist auf Sightseeingtour mit Gustavo‘s neuem Auto durch Ulias Heimat, das Baskenland. Solch ein Urlaub sollte eigentlich eine Freude sein. Doch man merkt schnell, dass viel Unausgesprochenes zwischen den beiden schwelt. Ulia hat immer wieder wenig respektvolle Gedanken zu ihrem Mann. Zudem scheinen sie vollständig unterschiedliche Herangehensweisen an eine Reise zu haben. Während Gustavo minutiös plant, wäre Ulia eigentlich lieber spontan. Sie behält ihr Ansinnen für sich, fügt sich seinen Vorstellungen. Bald nach Antritt der Reise gesellt sich weiteres Konfliktpotenzial in Person der Journalistin Sarah zu den Beiden.

In dieser Grundstimmung bewegte ich mich durch diesen vielschichtigen Bericht. In meiner Wahrnehmung gab es drei Erzählebenen, die Reise an sich, die Rückblicke auf Erlebnisse von Ulias Mutter Mariluz und die Auseinandersetzung mit Benjamin Britten.
Die Ausrichtung der Sprache ist in jeder Ebene etwas anders, wodurch das Lesen ein durchaus anspruchsvolles Vergnügen wird. Die Geschichte der Mutter in der Hochphase des „ETA-Terrors“ wird aus beobachtender Perspektive erzählt, Britten’s Pazifismus dokumentarisch aufbereitet. Die Reise selbst ist als Reflexion an Gustavo gerichtet, so als ob Ulia darin alles aufschreibt, was sie nicht imstande ist, Gustavo direkt zu sagen. Diese Ansprache mit Du empfand ich etwas ungewöhnlich, weil nicht die Leser innen an sich gemeint sind, sondern eben nur Gustavo.

Lange hatte ich den Eindruck, dass Ulia mit den Konflikten ihrer Vergangenheit einseitig die Beziehung toxisch beeinträchtigt. Doch auch Gustavo hat seine Geheimnisse. Nach und nach gewährt uns die Autorin wie auch dem Paar weitere Einblicke und lässt schließlich ein Gesamteindruck entstehen. Das Ende lässt sie offen. Die Leser innen werden mit der Wahrheit konfrontiert, sozusagen eingeweiht in all die Probleme. Welche Konsequenzen Ulia und Gustavo daraus ziehen, übergibt sie den weiterdenkenden Leser innen.

Für mich war der Roman eine kluge Auseinandersetzung mit der baskischen Lebenswirklichkeit. Katixa Agirre ließ mich einen neuen Blickwinkel einnehmen im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Spanien und dem Baskenland. Es war wie das Anhören der anderen Seite, ein wichtiger Schritt, wenn man sich zu einer Kontroverse ein Urteil erlauben möchte.

Da der Roman durch seine Komplexität mit drei Ebenen in Zeit und Raum nicht mal eben weg zu lesen ist, beschränke ich meine Leseempfehlung auf Liebhaber des gehobenen Lesegenusses.

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Veröffentlicht am 25.03.2021

Vielleicht ein Impulsgeber

Kim Jiyoung, geboren 1982
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Der Roman beginnt mit der Vorstellung einer Frau, Mutter und Schwiegertochter, die merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Von einem Moment auf den anderen schlüpft sie, Kim Jiyoung, wohnhaft am ...

Der Roman beginnt mit der Vorstellung einer Frau, Mutter und Schwiegertochter, die merkwürdige Verhaltensweisen an den Tag legt. Von einem Moment auf den anderen schlüpft sie, Kim Jiyoung, wohnhaft am Rande der Metropole Seoul, im hoch technisierten Südkorea, ohne erkennbaren Grund in die Rolle von Frauenfiguren aus ihrem familiären Umfeld und ahmt diese nach. Der Jiyoung betreuende Psychologe erzählt ihre Geschichte.

Chronologisch, vom Kleinkindalter bis ins heute, berichtet er protokollartig, extrem präzise, ohne jegliche Schnörkel von Schlüsselsituationen aus Kim Jiyoungs Leben. Der reduzierte Schreibstil bewirkt eine gewisse Distanz zur Protagonistin, lenkt gleichzeitig höchste Konzentration auf die Situation.

Zugegeben, ich wurde im ersten Drittel des Romans komplett von der Unterdrückung der Frauen in Südkorea überrollt. Naiver Weise hätte ich ein derart antiquiertes Frauenbild eher einem totalitären Regime zugeschrieben. Südkorea hatte ich mir, beeinflusst durch die Technisierung des Landes, auch in dieser Hinsicht modern und die Frauen emanzipiert vorgestellt. Deshalb war gerade der Einstieg in den Roman überraschend, spannend und sehr aufregend für mich. Ein bisschen schade ist, dass nach der ersten Hälfte des Romans nicht mehr wirklich etwas Neues kommt. So entstehen Längen, die durch weitere Aneinanderreihung von alltäglicher Diskriminierung gekennzeichnet sind. Natürlich erzeugt Cho Nam-Joo durch die schiere Anzahl von Negativbeispielen eine gewisse Steigerung in der Erkenntnis der Thematik, was ich auch als wichtig empfinde, weil erst dadurch die Situation der Frauen tatsächlich transparent wird. Trotzdem schmälert diese Art der Aufbereitung das Lesevergnügen.

Schön herausgearbeitet finde ich die Doppelmoral. Menschen, die bereits die Einsicht zu den Folgen der herrschenden Selbstverständlichkeit einer unbegrenzten Selbstaufgabe von Frauen nach Heirat haben, handeln trotzdem unter wirtschaftlichem Druck entgegen der eigenen menschlichen Überzeugung. So kann der Teufelskreis nicht durchbrochen werden.

Ich spreche dem Buch eine wichtige Rolle im Sinne der Aufklärung und Bewusstmachung von Zuständen in der modernen Welt zu. Ich sehe durchaus Parallelen bei uns in Europa. Daher empfehle ich den Roman insbesondere Müttern und Vätern, vielleicht hilft die Lektüre aus vererbten Verhaltensmustern auszubrechen.

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Veröffentlicht am 17.03.2021

Messerscharf erzählt

Kindheit
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Kindheit ist der erste Band von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, die im Original 1967/71 erschienen ist. Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren ersten Lebensjahren als Kleinkind bis zur Konfirmation.

Die ...

Kindheit ist der erste Band von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, die im Original 1967/71 erschienen ist. Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren ersten Lebensjahren als Kleinkind bis zur Konfirmation.

Die Autorin erzählt nüchtern, gleichzeitig messerscharf von ihrer Kindheit in den 1920ern im Arbeiterviertel von Kopenhagen, der Vater arbeitsloser Heizer, die Mutter Hausfrau. Tove’s Mutter scheint unzufrieden mit ihrem gewählten Schicksal, einzige Lichtblicke für sie sind Kaffeekränzchen mit Ihren Freundinnen oder Verwandten. In meiner Wahrnehmung hat sie wohl unterm Stand geheiratet. Für Tove, die wie der Rest des mütterlichen Lebens eine Enttäuschung zu sein scheint, kann sie wenig Zuneigung aufbringen. Lieber nutzt sie das Kind für unliebsame Botengänge aus. Der Vater ist überfordert, sich mit Tove zu beschäftigen, weil sie ein Mädchen ist und Mädchen die Sache der Mütter sind.

Dabei ist Tove ihrer Zeit, die von Armut und Hunger geprägt ist, mit ihrem Interesse für Bücher und Lyrik weit voraus und hätte Förderung verdient. Obwohl ihr diese verwehrt bleibt, lässt sich Tove von ihrem Traum, Schriftstellerin zu werden, nicht abbringen. Immer wieder schreibt sie Gedichte über Sehnsucht und Liebe in ihr Poesiealbum. Für uns Leser*innen sind diese kleinen Highlights an passender Stelle im Roman eingeflochten.

Mit der Übersetzung dieser Trilogie erreicht die Leserschaft ein Zeitzeugenbericht, der klar und ohne Gefühlsduselei dokumentiert, wie entbehrungsreich und schwer erträglich das Leben zwischen den Weltkriegen für die einfachen Leute war. Ich war schockiert, dass schon das Kind Tove an den Tod als etwas Liebliches bzw. Erlösenden gedacht hat.

Auch wenn ich durch den dokumentierenden Stil nicht ganz nah an die Figuren herankam, hat mir der Roman gut gefallen. Ich bin fasziniert, dass die Autorin mit relativ wenigen Worten ihre Erinnerungen an die Kindheit auf den Punkt bringt.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus. Ich selbst werde auch die beiden weiteren Bände lesen.

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Veröffentlicht am 17.03.2021

Nicht sterben vs. sich nicht unterkriegen lassen

Die nicht sterben
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Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans an ihren Sehnsuchtsort B., dem Ort ihrer kindlichen Ferien, zurück, wo sie gemeinsam mit ihrer Tante Margot, die sie liebevoll Mamargot ...

Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans an ihren Sehnsuchtsort B., dem Ort ihrer kindlichen Ferien, zurück, wo sie gemeinsam mit ihrer Tante Margot, die sie liebevoll Mamargot nennt, viele schöne Momente erlebt hat. Dort möchte sie Inspiration finden und in ihren Beruf als Malerin starten. Doch die Erinnerung an das schöne naturverbundene Leben in der Walachei erscheint ihr zunehmend verklärt. Wo ist die überschwängliche Unbeschwertheit von damals hin, als Mamargot jeden Sommer mit umfangreichem Hausstand in die Villa, ihr Feriendomizil, einzog und jeweils sämtlichen Kommunismus-Kitsch in den Keller verbannen lies?

Im postkommunistischen Zeitalter haben die sommerlichen Festivitäten und intellektuellen Zirkel mit ihren Lateiner-Sprüchen den früheren Charme verloren. Offensichtlich sind nur noch Alte vor Ort. Deren jüngere Anverwandten leben im Ausland und genießen das Leben, das ihnen ihr eigenes herunter gekommenes Land nicht bieten kann. Die Dagebliebenen haben mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen, müssen sich bei einer neuen korrupten, alles an sich reißenden Elite anbiedern. Diese Unzulänglichkeiten im eigenen Land lassen die Protagonistin in eine Art depressive Antriebslosigkeit versinken, wo ihr allerlei krude Gedanken durch den Kopf schießen, unter anderem auch eine gewisse Sehnsucht nach einer starken, Ordnung schaffenden Hand.

Im Rahmen dieser Gedankenspiele übergibt Dana Grigorcea in voluminöser, extrem bildhafter Sprache die Probleme des gegenwärtigen Rumänien der historischen Figur Vlad III, Woiwode des Fürstentums Walachei, als strengem Richter. Der Unsterbliche soll jegliches Unrecht sühnen. Für mich war es eine mystische, zeitweise etwas gruselige Verwünschung der Korrupten und Habgierigen, gedanklich ausgelebt von unserer Hauptfigur als wollte sie ihnen entgegenrufen: „Soll dich doch Der Sohn des Drachen - der grausame Vlad - holen!“

Dana Grigorcea erzählt in einem stark malerischen Stil, zeichnet Orte, Stimmungen, Düfte sowie die Personen so präzise als würde man sich als Leser*in mitten im Geschehen befinden. Verstärkt wird diese Wirkung durch ihre direkte Ansprache der Leserschaft. So konnte ich nicht umhin, die gastfreundliche Mamargot in ihrem Überschwang ebenfalls zu mögen. Ich konnte sogar die Entwicklung des Woiwoden zum grausamen Herrscher nachvollziehen. Den historischen Ausflug der Autorin hierzu mochte ich sehr.

Insgesamt war ich angetan von der geschickten Verschränkung von Gesellschaftskritik und gruseliger Woiwodenrache, eine Erzählung, die es so im Mainstream nicht gibt. Das kreativ Neue daran hat mir Vergnügen bereitet.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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