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Veröffentlicht am 26.08.2021

Literarisches Spiel mit der Wahrheit

Die schiere Wahrheit
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REZENSION - „Die Wahrheit wirkt nie wahr.“ Nur die arrangierte Wahrheit wirke wahrer als die nackte Wahrheit, lässt Autorin Ursula Hasler (71) den Schriftsteller Georges Simenon in ihrem zweiten Roman ...

REZENSION - „Die Wahrheit wirkt nie wahr.“ Nur die arrangierte Wahrheit wirke wahrer als die nackte Wahrheit, lässt Autorin Ursula Hasler (71) den Schriftsteller Georges Simenon in ihrem zweiten Roman „Die schiere Wahrheit“ über das Schreiben eines Krimis philosophieren. Was ist also Wahrheit? Die promovierte Germanistin und frühere Professorin am Züricher Institut für Angewandte Medienwissenschaft macht sich in ihrem Ende August beim Limmat Verlag veröffentlichten zweiten Roman einen wundervollen Spaß daraus, mit dieser Wahrheit zu spielen, wenn auch die Idee des Buches nicht neu ist: Ähnlich wie Michael Dangl in seinem im Januar erschienenen Roman „Orangen für Dostojewskij“ den russischen Schriftsteller im Jahr 1862 mit dem weltberühmten Komponisten Gioachino Rossini in Venedig fiktiv zusammenbringt, so lässt die Schweizer Autorin den belgischen Kriminalschriftsteller Georges Simenon (1903-1989) im Sommer 1937 im französischen Atlantik-Badeort Saint-Jean-de-Monts auf seinen Schweizer Kollegen Friedrich Glauser (1896-1938) treffen.
Der von Drogenabhängigkeit und Anstaltsaufenthalten zerrüttete Glauser (41) - im Vorjahr mit seinem zweiten Wachtmeister-Studer-Krimi „Matto regiert“ endlich zu erster Anerkennung gekommen - wird mit dem zwar jüngeren, nach 18 Maigret-Krimis aber schon berühmten und von Glauser als „Lehrmeister“ verehrten Georges Simenon (34) bekannt gemacht. Beide Autoren finden Gefallen aneinander und entwickeln nun bei Strandspaziergang und Mittagessen einen Kriminalroman, zu dem jeder seine Ideen beisteuert: Simenon legt einen Toten an den französischen Strand, Glauser macht aus der Leiche einen Schweizer, um seinen Wachtmeister Studer, „das Salz der Berner Kantonspolizei“, an den Atlantik holen zu können. Simenon lässt ihm seine ältliche Mademoiselle Amélie Morel dazwischenfunken. Die gelernte Krankenschwester und Tante des vor Ort eigentlich zuständigen Inspektors Laurent Picot ähnelt in ihrer Art Agatha Christies Miss Marple.
Immer wieder wird die Kriminalgeschichte unterbrochen, wenn beide Schriftsteller über das Wesen des Schreibens, über Kritiker und Leser, über Recht und Gerechtigkeit und eben über die Frage nach der Wahrheit philosophieren. Gerade diese eingestreuten Kapitel geben Haslers Roman seinen literaturwissenschaftlichen Reiz, erfahren wir doch viel über die beiden Autoren, die sich in ihren Vorstellungen und ihrer Arbeitsweise verwandt und von den Lesern oft verkannt fühlen. Beide sehen in einem Krimi mehr als die Lösung eines schlichten Rätsels: Simenon „interessiert das Leben dieser Menschen“ und auch Glauser will sehen, „wie es seinen Leuten beliebt zu leben.“ Da kann es passieren, dass die Figuren ein Eigenleben entwickeln und der Autor am Ende „hundert Fäden, die lose herumhängen“, zusammenführen muss, um die Geschichte sinnvoll zum Ende zu bringen. Doch wie zu erwarten lösen Wachtmeister Studer und Mademoiselle Amélie den Fall, „der sich hartnäckig weigerte, einer zu werden“, da Glauser zu Simenons Überraschung unbedingt noch eine unerwartete Wendung einbauen musste.
Hasler ist es überzeugend gelungen, sich in die beiden Schriftsteller hineinzudenken und in deren unterschiedlichen Sprachstil einzufühlen, wodurch der Roman auf beiden Handlungsebenen so realistisch wirkt, als wäre es „die schiere Wahrheit“. Es macht Spaß zu beobachten, wie Fiktion und Realität verschmelzen. Nicht nur, dass sich Simenon und Glauser bei ihrer Geschichte von ihrer realen Umwelt inspirieren lassen. Am Ende vermischen sich Fiktion und Realität sogar vollends, wenn die beiden realen Kriminalschriftsteller nach Abschluss ihres fiktiven Treffens plötzlich ihren doch nur erfundenen Ermittlern wahrhaftig gegenüberstehen.

Veröffentlicht am 22.08.2021

Spannende Mischung aus Umwelt- und Politkrimi

Lazare und die Spuren des Todes
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REZENSION – Nach „Lazare und der tote Mann am Strand“ (2017) schickt Schriftsteller Robert Hültner (71) seinen erfahrenen Kommissar aus Montpelier auch im zweiten Band „Lazare und die Spuren des Todes“, ...

REZENSION – Nach „Lazare und der tote Mann am Strand“ (2017) schickt Schriftsteller Robert Hültner (71) seinen erfahrenen Kommissar aus Montpelier auch im zweiten Band „Lazare und die Spuren des Todes“, im Juni erschienen beim btb-Verlag, ein weiteres Mal gegen dessen Willen ins malerische Küstenstädtchen Sète, das sich rühmt, das Venedig Südfrankreichs zu sein. Mouhamad Yassin hatte dort vor einigen Tagen seine bald 18-jährige Tochter Nadia als vermisst gemeldet und die Lokalpolizei kommt in ihren Ermittlungen nicht weiter. Man vermutet, Nadia habe sich radikalisieren lassen und nach Syrien abgesetzt. Vermisstenfälle sind eigentlich ein Fall für die lokale Polizei, weshalb Siso Lazare nicht versteht, weshalb ausgerechnet er als Ermittler der Police National in die Provinz geschickt wird. „Dass ein Beamter mit ihrer Erfahrung nicht mit Fällen behelligt werden sollte, die schon bei einem Polizeischüler ein Gähnen hervorrufen würden, darüber herrscht zwischen Richter Simoneau und mir Konsens“, bleibt der Polizeidirektor trotz Lazares Einspruch bei seiner Weisung.
Lazare beginnt also in Sète mit seiner Ermittlung, muss sich allerdings nicht lange um den Fall kümmern: Bei seiner nächtlichen Verfolgung des vermeintlichen Geliebten der jungen Muslimin wird er hinterrücks niedergeschlagen und nach kurzem Krankenhausaufenthalt in zweiwöchigen Erholungsurlaub geschickt. Lazare zieht sich liebend gern in seine Berghütte zurück. Doch auch dort scheint die Welt nicht mehr in Ordnung zu sein: Die Gegend soll auf einmal radioaktiv verseucht sein, das Quellwasser nicht mehr trinkbar, das angebaute Gemüse unverkäuflich. Als sein einsam lebender Nachbar dann ermordet aufgefunden, zudem noch eine zweite Leiche entdeckt wird, führen Gerüchte sogar in den katalanischen Untergrund und in längst vergangene Zeiten des Widerstandskampfes gegen das faschistische Franco-Regime. Natürlich kann es Lazare trotz ausdrücklicher Empfehlung, sich von seiner Verletzung zu erholen, nicht lassen, sich unauffällig in die Ermittlungen der Polizei einzumischen und sich bei den Bewohnern umzuhören, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen und Licht in das Dunkel zu bringen.
„Lazare und die Spuren des Todes“ ist kein herkömmlicher Krimi, wie man ihn vielleicht von einem „Tatort“-Autor, der Hültner ja auch ist, erwarten könnte. Zumal Kommissar Siso Lazare nicht einmal als Ermittler selbst aktiv wird, sondern lediglich als Beobachter die einzelnen Fälle verfolgt. Es ist vielmehr ein inhaltlich vielschichtiger Roman mit Elementen eines Umwelt- und Politkrimis. Die Historie der südfranzösischen Provinz in Nachbarschaft zum spanischen Katalonien findet ebenso Eingang in die Handlung wie aktuelle Themen der Umweltverschmutzung, der Korruption des politischen Systems und der aktuellen inneren Bedrohung Frankreichs durch islamistischen Terror. Diese Vielschichtigkeit und Vielfalt verschiedener Handlungsstränge mag es manchem Leser anfangs erschweren, den roten Faden zu finden. Doch zu guter Letzt fügt sich natürlich alles zusammen und ergibt ein plausibles Gesamtbild.
Wichtiger als die Kriminalfälle und faszinierender sind im neuen Roman von Robert Hültner, der bereits dreimal mit dem Deutschen Krimipreis und einmal mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde, die Charakterisierung seiner eigenwilligen Dorfbewohner und die ins Detail gehende Beschreibung der südfranzösischen Berglandschaft, die mit ihrem ursprünglichen Wesen sogar einen wesentlichen Beitrag zur Handlung und Spannung dieses durchaus anspruchsvollen und gerade deshalb lesenswerten Krimis beiträgt.

Veröffentlicht am 08.08.2021

Locker geschriebene, unterhaltsame Satire

Unser letzter Tag
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REZENSION – Sieben Menschen, alle etwa so alt wie der 39-jährige Romanautor, haben noch 13 Stunden und genau 42 Minuten zu leben, bis ein unaufhaltsam auf die Erde zurasender Asteroid um 20:12 Uhr alles ...

REZENSION – Sieben Menschen, alle etwa so alt wie der 39-jährige Romanautor, haben noch 13 Stunden und genau 42 Minuten zu leben, bis ein unaufhaltsam auf die Erde zurasender Asteroid um 20:12 Uhr alles Leben auslöschen wird. In sieben Kapiteln, inhaltlich aufgeteilt in die sieben biblischen Todsünden Hochmut, Habgier, Wollust, Wut, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit, begleiten wir in Stefan Suchankas Debüt „Unser letzter Tag“, im Mai im Kirschbuch-Verlag erschienen, diese sieben Menschen während ihrer letzten Stunden. Was sich anhört, wie eine düstere Dystopie, entpuppt sich allerdings als ein durchaus unterhaltsames Szenario um sieben Freunde, von denen jeder für sich seinen ganz eigenen Lebensweg gegangen ist, die aber alle über die gemeinsame Schul- und Jugendzeit doch irgendwie miteinander verbunden sind und nun durch ihren gemeinsamen Jugendfreund Ludwig wieder zusammenfinden.
Für jede Sünde, jede Charaktereigenschaft steht im Roman eine Person: Die erfolgreiche Künstlerin Larissa steht für den Hochmut, ihr früherer Lebensgefährte Alexander, der für Geld seine Liebe opferte, für Habgier. Der Möchtegern-Musiker Franco neidet nicht nur Larissa und Alex den Erfolg, sondern missgönnt ihn jedem, und Neonazi Peter ist wütend auf das herrschende System. Die wollüstige Jacqueline betrügt ständig ihren voller Trägheit unentschlossenen Ehemann Kevin und die verfressene Inga steht symbolisch für Maßlosigkeit. Mit ihnen allen trifft sich Ludwig in den noch verbleibenden Stunden. Man unterhält sich über alte Zeiten, über verpasste Chancen, über Fehlentscheidungen. Und alle treffen an ihrem letzten Tag früher oder später auf Kaczmarek. Er ist der unvoreingenommene Fremde, der als emotionsloser Beobachter seinen Gesprächspartnern die Maske vom Gesicht zieht und ihre Lebenslügen aufdeckt. Von ihm müssen sie sich fragen lassen, ob jenes Leben, das sie bisher geführt haben, tatsächlich das Leben ist, das sie einst leben wollten. Kaczmarek konfrontiert die Sieben mit der Wahrheit über sich selbst und gibt ihnen den Anstoß, ihr bisherigen Verhalten und Handeln zu überdenken und zu ändern.
Würdest du heute dein Leben ändern, wenn es kein Morgen mehr gäbe? Diese Frage richtet Autor Suchanka an uns Leser und hält uns in gewisser Weise den Spiegel vor. Denn irgendwie entsprechen diese charakterlich so unterschiedlichen Menschen uns allen. Jeder Leser mag sich in dem einen oder anderen Punkt doch irgendwie wiedererkennen. Jeder von uns hat in seinem Leben Fehlentscheidungen getroffen, egoistisch gehandelt, einen Mitmenschen verletzt. Doch Suchanka urteilt oder verurteilt nicht. Er gibt uns Lesern lediglich die Anregung, schon heute unser bisheriges Handeln zu überdenken und nicht erst auf „unseren letzten Tag“ zu warten. Sein Romandebüt ist ein Appell, frühzeitig und immer wieder über den Sinn des eigenen Lebens nachzudenken, und zugleich die Erinnerung an die individuelle Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung.
Ob der schon als ,Bestseller von morgen’ gewürdigte Roman die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllen wird, mag sich erweisen. In jedem Fall ist „Unser letzter Tag“ trotz des dystopischen Titels und des im Roman drohenden Weltuntergangs bei allem philosophischen Hintersinn eine wider Erwarten recht locker und liebevoll geschriebene, deshalb leicht lesbare und unterhaltsame Satire.

Veröffentlicht am 13.07.2021

Hochmut kommt vor dem Fall

Die Geschichte eines einfachen Mannes
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REZENSION – Mit seinem im April beim Piper Verlag veröffentlichten Roman „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ ist dem Autor Timon Karl Kaleyta (31) ein überraschendes Debüt gelungen, das zu Recht beim ...

REZENSION – Mit seinem im April beim Piper Verlag veröffentlichten Roman „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ ist dem Autor Timon Karl Kaleyta (31) ein überraschendes Debüt gelungen, das zu Recht beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde. Kaleyta porträtiert darin einen sich selbst grenzenlos überschätzenden jungen Mann, der, liebevoll verwöhnt von seinen Eltern, zwei für das "familiäre Auskommen schuftende Fabrikarbeiter", überzeugt ist, „dass das Leben ein Geschenk ist, ein fröhliches Spiel“, ohne für dessen Erfolg selbst etwas leisten zu müssen.
Seine Schulnoten waren ausgezeichnet, ebenso seine Studienabschlüsse. Zu keinem Zeitpunkt macht sich der Erzähler Gedanken um die Zukunft, „so mühelos war mir stets alles zugeflogen“. Er ist sicher, „dass mir etwas Besonderes innewohnte“ und dass das Schicksal noch Großes mit ihm vorhat. Statt nach dem Studium der Soziologie eine der ihm angebotenen seltenen Anstellungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bochumer Universität anzunehmen, lebt der „einfache Mann“ fortan mit den Mitteln eines Studiendarlehens sowie auf Kosten seines Freundes Sebastian oder seiner Freundinnen Neomi und Soyoung. Er nutzt schamlos das Vertrauen seiner Eltern, Freunde und Mitmenschen aus, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, dieses Vertrauen auch rechtfertigen zu müssen.
Völlig überraschend wird der „einfache Mann“ ein hoffnungsvoller Texter und Sänger, „ein bewunderter und von allen verehrter Musiker“, wie er sich selbst vormacht. Alles gelingt ihm ohne Ehrgeiz, ohne Plan und Ziel. Arbeiten lässt der Mann „mit den weichsten Männerhänden der Welt“ lieber seinen Freund Sebastian und die Band-Mitglieder. Anfangserfolge lassen ihn leichtsinnig und hochmütig werden. Als sich seine Freundin Soyoung überraschend von ihm trennt („Es gibt nämlich noch andere Menschen als Dich auf der Welt“), erkennt er nicht seine ihr zugefügte Kränkung, sondern sieht nur eine „Befreiung“ von hinderlicher Verpflichtung. Der „einfache Mann“ glaubt eine große Karriere vor sich und ist überzeugt, sich erfolgreich von den „verstopften Lebensentwürfen“ seiner Arbeiter-Eltern, seiner einstigen Mitschüler und Mitstudenten entfernt zu haben.
Doch dann kommt es, wie wir Leser es längst erwartet haben: In seinem Briefkasten landen „eine ganze Reihe unbezahlter Rechnungen, Mahnungen, Zahlungsaufforderungen“. Prompt sieht der Egozentriker nicht die Schuld bei sich, sondern bei allen anderen: „Was hatte ich der Welt nur getan, dass sie mich derart strafte?“ …. „Alles war letztlich Sebastians Schuld.“ Völlig verschuldet, ohne Verbindung zu den von ihm in seiner Arroganz brüskierten Freunden und Eltern, landet der „einsame, mittelloser Mann von bald 35 Jahren“ plan- und ziellos zur Untermiete in einem kleinen fensterlosen Zimmer im Berliner Osten. „Ein Neuanfang konnte es unmöglich gewesen sein, dafür fehlte mir die Perspektive.“ Erst viel zu spät erkennt er seine Situation „als Ausweis eines gescheiterten und in jeder Beziehung an die Wand gefahrenen Lebens“.
Autor Kaleyta lässt seine Leser mit seinem Erzähler, der an seinem Missgeschick unschuldig zu sein glaubt und letztlich für seine Selbstüberschätzung und Ignoranz hart bestraft wird, mal mitleiden, mal über ihn lachen, mal sich über dessen Hochmut entsetzen. Es ist diese Mischung unterschiedlicher Gefühle die den in schlichtem, unaufdringlichem Erzählton verfassten Roman so eingängig macht, gelegentlich auch tief berührt. „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ ist ein lesenswertes, in seiner Handlung absolut überzeugendes Debüt. Vergleicht man den Lebensweg des Autors mit der Geschichte seines Protagonisten – beide haben in Bochum Soziologie studiert, beide sind Songtexter –, fragt man sich unweigerlich, wie viel Autobiographisches von Timon Karl Kaleyta in seinem ersten Roman steckt.

Veröffentlicht am 20.06.2021

Interessante Biografie mit leichten Schwächen

Der große Kalanag
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REZENSION - „Große Lügner sind auch große Zauberer.“ Diesen Satz Adolf Hitlers hat Autor Malte Herwig (48) seiner im März im Penguin Verlag erschienenen Biografie „Der große Kalanag“ vorangestellt. Auch ...

REZENSION - „Große Lügner sind auch große Zauberer.“ Diesen Satz Adolf Hitlers hat Autor Malte Herwig (48) seiner im März im Penguin Verlag erschienenen Biografie „Der große Kalanag“ vorangestellt. Auch mit dem Untertitel „Wie Hitlers Zauberer die Vergangenheit verschwinden ließ und die Welt eroberte“ weist deutlich auf Ähnlichkeiten zwischen dem politischen „Verführer“ und dem später ebenfalls weltberühmten „Verzauberer“ der Deutschen hin, wenn auch auf ganz unterschiedlicher Ebene. Herwig beschreibt in kleinsten Details das unstete Privatleben und den schillernden Werdegang jenes Helmut Schreiber (1903-1963), der nach zweifelhafter Karriere als Filmproduzent und Amateur-Zauberer unter den Nazis erst in der Bundesrepublik als Berufsmagier zum „größten Magier der Welt“ wurde.
„Helmut Schreiber war ein Meister der Täuschung, auf der Bühne und im wahren Leben“, schreibt Herwig im Nachwort und schildert anhand unzähliger Quellen, wie es Schreiber gelang, seine Nazi-Vergangenheit zu verschleiern. Verleugnen konnte er sie nie, da seine Nähe zu den Größen des Regimes bis hinauf zur Spitze vielfach dokumentiert war. Dieses Quellenmaterial – die Nachweise füllen allein 50 von 480 Seiten – wertete Herwig für sein Buch weidlich aus. Doch genau dies ist eine Schwäche der Biografie über einen Mann, für den sich heute kaum jemand interessiert. Diese Ausführlichkeit langweilt irgendwann. Man möchte dem Autor zurufen „Wir haben verstanden“ und blättert weiter. Herwig kratzt am längst verblassten Ruhm eines Zauberers mit „brauner Weste“, für die sich gleich nach dem Krieg die Öffentlichkeit aus bekannten Gründen nicht interessiert hat und nach der heute, zwei Generationen später, schon gar niemand mehr fragt. Von Kalanag blieb allenfalls sein Nachruhm bei wenigen älteren Leser, die den großen Magier noch selbst erlebt haben oder bei solchen, die der Welt der Magie verbunden sind.
Malte Herwig versucht, den Zauberer Helmut Schreiber politisch in die Nazi-Ecke zu stellen und spricht von dessen „politischer Biografie“. Doch an anderer Stelle widerlegt er genau diese These selbst: „Schreiber war kein Ideologe, kein überzeugte Fanatiker – aber er war ehrgeizig.“ Helmut Schreiber hatte sich schon als 16-Jähriger mit Leib und Seele der Zauberei verschrieben. „Er war eine unglaublich willensstarke Persönlichkeit,“ wird im Buch zitiert. Und: „Wen er gebraucht hat, den hat er gut behandelt. Mit Leuten, auf die er nicht angewiesen war, konnte er elend sein.“ Schreiber war kein politisch denkender Mann, sondern ein skrupelloser Ehrgeizling und Opportunist, der es verstand, die Gegebenheiten und Möglichkeiten seiner Zeit zum persönlichen Vorteil zu nutzen. „[Schreiber] fühlte sich wie ein Alleinherrscher, seit der Magische Zirkel 1936 nach dem Führerprinzip gleichgeschaltet und er als Präsident eingesetzt worden war.“ Regierungen waren für Schreiber beliebig austauschbar. „Schreibers nahezu lückenlose Dokumentation seiner Vorstellungen zeigt auch, wie mühelos der Zauberer aus Deutschland über die Umbrüche der politischen Systeme von 1918 über 1933 und 1945 hinweg schwebte.“
Schreiber scheint sich seiner Nazi-Vergangenheit nicht geschämt zu haben. Er hat sie kurzerhand verdrängt. Sie war für ihn bedeutungslos, eine Episode seines Lebens. Dies zeigt sich wieder nach dem Krieg, als er, während die US-Besatzer noch Material über ihn sammeln, in den britischen Sektor nach Hamburg wechselt in der Annahme, dort schneller an eine Auftrittsgenehmigung zu kommen. Er wollte nur wieder zaubern, egal unter welcher Regierung.
Trotz wissenschaftlicher Akribie gleitet Herwig stellenweise ins Romanhafte: „Die junge Frau …. war pünktlich und gepflegt gekleidet. Sie trug ein hochgeschlossenes Kleid und die braunen Locken zusammengebunden.“ In anderen Passagen lässt der Autor Vermutungen zu, wo ihm Fakten fehlen – wie bei der Frage, warum Ida Ehre den Zauberer 1947 nicht in ihren Hamburger Kammerspielen auftreten lässt. So gibt es manche Möglichkeit zur Kritik. Doch letztlich ist „Der große Kalanag“ die interessante Charakterstudie eines skrupellosen, ehrgeizigen, machtbesessenen Mannes, der es in jeder Situation versteht, seine Mitmenschen mit seiner „freundlich-unschuldigen Art“ zu manipulieren und zu verführen. Hier drängt sich dann wieder der Vergleich mit dem Nazi-Regime auf: „Dem Reiz einer gelungenen Illusion konnte sich niemand entziehen – denn die Menschen wollten getäuscht werden.“