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Veröffentlicht am 17.11.2021

Junge Frau als Opfer von Terror-Paranoia

In Flammen
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Ein provokanter Facebook-Post, mit dem die junge Textilverkäuferin Jivan eigentlich nur Likes und Aufmerksamkeit erzielen wollte, wird für die junge Frau in einem indischen Slum zu Verhängnis: Polizisten ...

Ein provokanter Facebook-Post, mit dem die junge Textilverkäuferin Jivan eigentlich nur Likes und Aufmerksamkeit erzielen wollte, wird für die junge Frau in einem indischen Slum zu Verhängnis: Polizisten stürmen mitten in der Nacht die Behausung der Eltern, nehmen Jivan fest, die mit schweren Vorwürfen konfrontiert wird: Sie soll Terroristen, die einen Anschlag auf einen Zug verübten, überhaupt erst denWeg durch die verwinkelten Straßen des Slums gezeigt haben und so bei der Tat geholfen haben, über Facebook soll sie mit einem Terroranwerber in Kontakt getreten sein.

Mit "In Flammen" schildert Megha Majumdar eine Art indischer Version der "verlorenen Ehre der Katharina Blum", in unserer Zeit und den aktuellen Terrorgefahren. Ihre Protagonistin ist eine chancenlose junge Frau, die in das Mühlwerk eines unbarmherzigen Justizsystems, politischer Ambitionen und Hetze in den Medien gerät. Eine faire Chance im Kampf um ihre Freiheit und ihr Leben wird sie nie haben.

Als Sündenbock passt Jivan in das Schema: Sie ist Muslima, eine energische junge Frau, die von einer besseren Zukunft geträumt hat. Plötzlich aber ist sie zum Objekt in einer Justiz- und Ermittlungsmaschine geworden. Der schwerkranke Vater ist ans Haus gefesselt, die Mutter versucht, der Tochter beizustehen mit ihren Besuchen im Gefängnis. Doch für Menschen, die in bitterer Armut leben, scheiden Bestechungsgschenke aus, um Jivan hinter Gittern das Leben zu erleichtern.

Für die Öffentlichkeit hat der Terror mit Jivan einen Namen und ein Gesicht bekommen. Es wird munter vorverurteilt, in den Medien und in den sozialen Netzwerken. Doch Jivan gibt nicht auf, will ihre eigene Version der Dinge schildern und schafft es tatsächlich, dass ein Journalist sie als angeblicher Verwandter im Gefängnis besuchen kann. Die Geschichte, die er schreibt, entspricht allerdings so gar nicht dem, was sie berichtet, wird in der Gerichtsverhandlung sogar gegen sie verwendet.

Der Widerstand gegen die Vertreibung der Familie aus ihrer ländlichen Heimatregion etwa, bei dem auch Dung-"Bomben" flogen, wird als Beweis für die angebliche frühe Gewaltbereitschaft Jivans herangezogen. Vergeblich hofft sie auf Leumundszeugen, etwa einer befreundeten Hirja, der Jivan Englischunterricht gab. Ihr ehemaliger Sportlehrer, der als Zeuge geladen wird, will seinen Aufstieg in einer Nationalistenpartei nicht gefährden, indem er für Jivan aussagt und auch der Hirja sind ihre Schauspielambitionen und plötzlich realisierbarer Filmruhm wichtiger als die alte Freundschaft.

Jivan, aus deren naiv-hoffnungsvoller Sicht Teile des Romans geschildert werden, ist kämpferisch und entschlossen, hat den Rückhalt ihrer Familie - doch in einem System, in dem sie schon immer auf der Verliererseite stand, hat sie keine Chance. Dass es kein Happy End geben kann, wird beim Lesen schnell klar. Das Indien Majumdars und Jivans hat nichts gemein mit Bollywood-Romanzen.

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Veröffentlicht am 27.10.2021

Komplizuierte Familienbande

Die Enkelin
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Familie kann man sich nicht aussuchen. Und dennoch heißt es: Blut ist dicker als Wasser. In Bernhard Schlinks ruhig und eindringlich erzählten Roman geht es um Familienbande und Verbindungen vor dem Hintergrund ...

Familie kann man sich nicht aussuchen. Und dennoch heißt es: Blut ist dicker als Wasser. In Bernhard Schlinks ruhig und eindringlich erzählten Roman geht es um Familienbande und Verbindungen vor dem Hintergrund deutscher Teilung und Zeitgeschichte, um Loyalitäten und Liebe.

Aus Liebe zu Kaspar, dem Studenten aus dem Westen, hat Birgit einst die DDR verlassen, auf abenteuerlichem Weg. Die Ost-West-Romanze endete glücklich und auch wieder nicht. Denn Kaspar, der für Birgit sein Studium aufgab und Buchhändler wurde und die Studentin aus der DDR heirateten zwar, liebten einander, doch für Birgit reichte das wohl nicht aus. Immer wieder bricht sie aus dem Alltag aus - ein anderes Studium, eine neue Ausbildung, eine zweite, eine Auszeit im Ashram. Sie kommt immer wieder zurück, aber sie trinkt viel, zu viel. Als Kaspar sie, beide sind mittlerweile in ihren 70-ern, eines Tages tot in der Badewanne findet, kommt zur Trauer die unbeantwortete Frage: War es ein Unfall oder ein Suizid?

Als sich dann auch noch ein Verleger bei ihm meldet, erfährt er ganz Neues über seine Frau: Gedichte habe sie geschrieben, an einem Romanmanuskript gearbeitet, der Verleger würde die Arbeiten gerne veröffentlichen, lobt das besondere Talent Birgits. Für Kaspar, den Mann mit der Liebe zu Büchern, muss es sein, als ob er seine Frau noch einmal verliert: Birgit hat mit einem Fremden über ihre Arbeit an einem Buch gesprochen, aber nicht mit ihm. Auf der Suche nach Antworten durchsucht Kaspar, der Birgits Privatsphäre immer gewahrt hat, ihr Arbeitszimmer und stößt in der Tat auf ein Manuskript, dass ihm ein Geheimnis entschlüsselt, dass Birgit nie geteilt hat.

Um in Birgits Interesse zu handeln und den Abschluss zu finden, den sie nicht geschafft hat, folgt Kaspar ihren Spuren vor der Flucht, findet die Freundin aus Jugendtagen, die Birgit zur Seite gestanden hatte, als diese noch vor der Flucht von einem anderen Mann schwanger war. Kaspar ist sicher, Birgit hätte ihre Tochte gesucht und auf eine Annäherung und Aussöhnung gehofft. Seine Suche führt den Mann, der Gedichte liebt, ausgerechnet in ein Siedlungsdorf von Rechtsextremisten und in die Familie der 14-jährigen Enkelin Birgits.

Zwischen dem Mädchen und dem alten Mann ist fast von Anfang an eine Verbindung da, auch wenn die völkischen Parolen ihn schockieren. Kann er einen Weg finden, dem Mädchen einen Zugang zu einem anderen Denken zu zeigen, ohne dass die Verbindung sofort wieder abbricht? Kaspar entwickelt einen Plan, der das junge Mädchen zumindest zweitweise dem Einfluss ihrer Familie und Gemeinschaft entzieht.

Haben junge Menschen, die in eine extremistische Gemeinschaft hineingeboren wurden und von frühester Kindheit an von deren Werten beeinflusst wurden, überhaupt eine Chance, ein eigenständiges Wertesystem zu entwickeln, oder wird das als Loyalitätsbruch gegenüber der Familie empfunden? Das ist eine der Fragen, die Schlink in diesem Roman umtreiben. Wie schon beim "Vorleser" geht es auch hier um Entscheidungen des Einzelnen und Verantwortung, um Werte, die je nach Perspektive ganz unterschiedlich beurteilt werden. Ein nachdenklich stimmendes und stimmiges Buch.

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Veröffentlicht am 08.10.2021

Ein Dorf leistet Widerstand

Wie schön wir waren
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Das fiktive Dorf Kosawa liegt irgendwo in Afrika. Normalerweise würde ich "africa is not a country!" protestieren, wenn wieder einmal ein ganzer Kontinent mit mehr als 50 Staaten und einer Milliarde Menschen ...

Das fiktive Dorf Kosawa liegt irgendwo in Afrika. Normalerweise würde ich "africa is not a country!" protestieren, wenn wieder einmal ein ganzer Kontinent mit mehr als 50 Staaten und einer Milliarde Menschen verallgemeinert wird. Aber das ist in Imbolo Mbues Roman "Wie schön wir waren" ja gar nicht der Fall. Zum einen, weil die in Kamerun geborene und in den USA lebende Autorin sicherlich genug eigene Erfahrungen mit diesem Blick auf Afrika hat und nicht vorhat, ihn zu spiegeln. Zum anderen, weil Kosawa in so vielen Ländern liegen könnte, für die reiche Öl- und andere Rohstoffvorkommen Reichtum und Fluch zugleich sind - Nigeria oder Südsudan, Kongo oder Niger und auch in der Heimatregion Mbues wurde Öl gefunden.

Die Entdeckung und Förderung von Öl durch einen ebenfalls fiktiven amerikanischen Konzern verändert das Leben in Kosawa. Zwar setzen die Bewohner ihren traditionellen Lebensstil fort, geprägt durch die Jagd, Ahnenkult, Landwirtschaft. Doch dann werden die Menschen krank und sterben, im Fluss sterben die Fische, Öl tropft auch leckenden Pipleines auf Felder, auf denen Mais und andere Lebensmittel angebaut werden. Vergeblich beschweren sich die Menschen von Kosawa bei ihrem Oberhaupt, der selbst von der Ölförderung profitiert, da seine Söhne dort gutbezahlte Arbeit bekommen haben. Bis eine Gruppe von Männern, angeführt ausgerechnet vom Dorfidioten, beim Besuch dreier Vertreter der Ölfirma zur Tat schreiten Doch die Entführung der Männer hat schreckliche Folgen.

Die Handlung beginnt in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, liegt also nur etwas über eine Generation zurück. Und dennoch wirken die Menschen von Kosawa wie aus einer viel länger zurückliegenden Zeit, mit ihrem Nabelknäuel, mit dem Glauben an den Großen Geist und ihren Sitten. Der rasante Wandel auf dem Kontinent hat mittlerweile auch solche Dörfer verändert, das macht auch der weitere Verlauf des Buches deutlich. Mit vielen Details und bildreichen Beschreibungen gibt es trotzdem einen faszinierenden Einblick in die alte Gesellschaft und Lebensweise, die mittlerweile auch in entlegenen Dörfern schon stark gewichen ist.

Vor allem das Mädchen, später die erwachsene Frau Thula steht im Mittelpunkt der Handlung, die aus veschiedenen Pespektiven geschildert wird. Ihr Vater ist aufgebrochen, um in der Provinzhauptstadt das Problem der Ölverschmutzung anzusprechen und nie zurückgekehrt. Ihr Onkel, der zu den Männern gehört, die die Entführung de Ölfirmenmitarbeiter initiieren, wird hingerichtet. Seine Bücher inspirieren das schweigsame Mädchen, das Bildung regelrecht hungert und die Chance bekommt, in Amerika zu studieren.

Auch von New York aus hält Thula den Kontakt zu den "Kindern", wie sie in dem Buch bezeichnet werden, aufrecht - diejenigen, die im gleichen Jahr wie sie geboren sind, gemeinsam aufgewachsen, die schon als Kinder den Tod von Mitschülern und Geschwistern verkraften mussten und sich geschworen haben, für ihr Dorf und gegen den Ölkonzern zu kämpfen. Thula lernt in den USA über Protestbewegungen und Widerstand, teilt ihre Erkenntnisse in langen Briefen mit ihren Freunden. Einige der jungen Leute werden ungeduldig, greifen zur Gewalt. Über der Frage, mit welchen Gruppen gekämpft wird zerfällt die Gruppe der Altersgenossen. Auch Thula will nach ihrer Rückkehr in die Heimat nur gewaltlosen Widerstand.

In ihrem Buch untersucht Mbue, wie manche Menschen um jeden Preis weiterkämpfen, andere resignieren oder ihre Familie in den Vordergrund rücken. Sie wirft die Frage auf, ob ein gerechter Kampf auch jedes Mittel rechtfertigt. Und sie zeigt die Machtlosigkeit von Menschen, die in einer von Korruption und Machtgier geprägten Gesellschaft ohne verlässliche Gesetze, Umweltauflagen und transparente Regeln Willkür ausgesetzt sind. "Ich habe keine Antworten - ich ziehe es vor, Fragen zu stellen", wurde sie in einem Bericht der "New York Times" über ihr Buch zitiert.

Genau das ist - neben dem Einblick in über Generationen hinweg gepflegte Traditionen - das große Plus dieses Buches. Es wäre sehr leicht, plakativ über den bösen Ölkonzern und die guten Dorfbewohner zu schreiben. Doch auch die, die unter dem Öl leiden, handeln grausam und ungerecht, und selbst bei der Ölfirma gibt es Menschen, die Einsicht zeigen, selbst wenn sie die Verhältnisse nicht ändern (können). Die Kritik an Despotismus und big men - für den ebenfalls fiktiven Herrscher fallen von Mobutu bis zu Idi Amin etliche Parallelen auf - und die Enttäuschung auch über das demokratische Rechtswesen, bei dem die Einwohner von Kosawa mit einer Klage scheitern, macht "Wie schön wir waren" komplexer und vielschichtiger.

Kosawa mag Fiktion sein. In vielen afrikanischen Ländern - und nicht nur dort - sind ähnliche Probleme und Themen bis heute aktuell. Klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Ahnen, Wassergötter und prekäres Diplomatenleben

Mai bedeutet Wasser
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Familiendynamik. jugendliche Rebellion, Missbrauchsgefahr und Eltern-Kind-Konflikte, aber auch Mythen und Erzählungen im Rahmen einer afrikanischen Familiengeschichte - all das kommt in "Mai bedeutet ...

Familiendynamik. jugendliche Rebellion, Missbrauchsgefahr und Eltern-Kind-Konflikte, aber auch Mythen und Erzählungen im Rahmen einer afrikanischen Familiengeschichte - all das kommt in "Mai bedeutet Wasser" zusammen. Die schwedische Autorin Kayo Mpoyi wurde im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo geboren und wuchs in einer Diplomatenfamilie in Tansania auf, ehe sie mit ihrer Familie im Alter von zehn Jahren nach Schweden zog. Herkunft und Kindheit in Ostafrika hat sie auch mit der Ich-Erzählerin Adi gemeinsam, kein Wunder also, dass sie das Buch ihrem sechsjährigen Ich widmete.

Das Leben Adis im Diplomatenviertel hat allerdings nicht den Glamour, den man im allgemeinen damit verbindet. Zum einen ist ihr Vater wohl eher keiner der Top-Beamten der Botschaft, zum anderen wirkt sich die politisch instabile Lage in der Heimat auch auf die diplomatische Community aus - das Gehalt bleibt mal wochenlang, mal mehrere Monate aus, die botschaftseigenen Häuser kommen allmählich herunter, Geld für die Instandhaltung hat es schon länger nicht mehr gegeben. Adis Familie gehört so eher zum diplomatischen Prekariat.

Liegt es an dieser mangelnden Stabilität, liegt es an eigenen Kindheitserfahrungen? Adis Vater führt ein strenges Regiment, ist sehr religiös, verlangt vor allem von seinen Töchtern Unterordnung und anständiges Betragen. Vor allem Dina, Adis ältere Schwester, bekommt das häufig zu spüren. Ihre Tanzbegeisterung ist dem Vater höchst unlieb, vor allem, da Dina sich für Lingala begeistert. Dazu müsste man vielleicht wissen, dass Lingala-Lieder einerseits ziemlich anzüglich sein können und die Bewegungen durchaus als getanzter Sex zu beschreiben sind.

Doch auch Adi muss in der Schule auf harte Weise lernen, wie sehr ein Mädchen von der Gemeinschaft ausgestoßen wird, falls es als "gefallene Frau" gesehen wird. Sie ahnt, dass einige ihrer Erlebnisse und Erfahrungen sie zur Ausgestoßenen machen können.

"Mai bedeutet Wasser" zeigt uns das Leben und die Konflikte in Adis Familie aus der Perspektive eines sechs- bis zehnjährigen Mädchens, zwischen der Eifersucht auf die kleine, immer kranke Schwester Mai und dem Wunsch, von den Großen, sprich Dina und ihren Altersgenossen akzeptiert zu werden. Mit der Ankunft der ätesten, bisher in Zaire lebenden Geschwister, die Adi kaum konnte, kommt eine ganz neue Dynamik in die Familie - die älteste Schwester, die sich nichts gefallen lässt, der ältere Bruder, dessen Konflikte die kleine Adi noch nicht verstehen kann und die schließlich angesichts auseinanderklaffenden Wertvorstellungen aus der Familie fliehen.

Das Zerbrechen der Familie geht einher mit dem Auseinanderbrechen der politischen Stabilität, wobei die Entwicklung in der Heimat nur angedeutet bleibt. Oder ist alles letztlich die Konsequenz eines Fluchs der Urgroßmutter, der eine glückliche Zukunft der Nachkommen unmöglich macht? Die Rolle der Ahnen und die Verbindung zu ihnen, der Glauben an Wassergöttinnen und Geister, der neben evangelikal geprägtem Christentum besteht, die ethnisch-sozialen Spaltungen, die es auch in Tansania gibt - all das wird aus dem Blick des aufgeweckten, fragenden Mädchen erzählt.

Es ist nur konsequent, dass die großen politischen Veränderungen irgendwo am Rand verlaufen, während der Fokus auf der viel kleineren und engeren Welt Adis liegt, die sich bemüht, die Puzzleteile des Ungesagten in ihrer Familie zusammensetzen und in Gesprächen mit Gott - für sie ein Junge mit Brille und Aktentasche - um Klarblick und Verstehen ringt. Dabei kommt beim Blick auf die Vergangenheit der Familie immer auch das koloniale Erbe und die Besonderheiten des Kongo zur Sprache.So erhalten die Leser einen Blick in den Mikrokosmos von Adis Leben in Tansania, aber auch dem Bezug zu Zaire und den Traditionen zwischen Zentral- und Ostafrika.

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Veröffentlicht am 23.09.2021

Starke Frauen und ihr Kampf

Der Schattenkönig
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Bei militärischen Konflikten aus den 1930-er und 40-er Jahren denken die meisten von uns vermutlich als erstes an den Zweiten Weltkrieg. Nicht so Maaza Mengiste, die Autorin des historischen Romans "Der ...

Bei militärischen Konflikten aus den 1930-er und 40-er Jahren denken die meisten von uns vermutlich als erstes an den Zweiten Weltkrieg. Nicht so Maaza Mengiste, die Autorin des historischen Romans "Der Schattenkönig". Kein Wunder - die Invasion von Truppen aus dem faschistischen Italien in Äthiopien, dem einzigen nicht von Kolonialismus betroffenen Landes in Afrika, stellte eine Zäsur in dem Land am Horn von Afrika dar.

Mengiste war noch ein Kind im Vorschulalter, als ihre Familie aus Äthiopien floh vor dem damaligen Regime, heute lebt sie in New York. Beim Lesen des Romans, an dem Mengiste zehn Jahre lang arbeitete, wird klar, dass die Geschichte ihres Heimatlandes sie auch im Exil beschäftigte. Doch "der Schattenkönig" ist mehr als ein Roman über einen Krieg, denn vor allem verdeutlicht er Sozialstrukturen und Genderrollen, eine Welt, in der Männer Herrscher sind und starke Frauen sich eine Nische erkämpfen müssen, wenn sie sich nicht mit der zugeschriebenen Rolle begnügen wollen.

Die beiden Protagonistinnen Aster und Hirut verkörpern das auf unterschiedliche Weise. Denn in der Feudalgesellschaft des alten Äthiopien steht Aster zur Aristokratie, hat Bildung genossen, ist stolz auf ihren sozialen Status. Doch die Geburt in eine sozial hoch stehende Familie hat sie nicht davor bewahrt, schon als junges Mädchen standesgemäß verheiratet zu werden, ihre Ehe begann mit einer Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht. Doch Aster ist nicht mehr das verängstigte Mädchen von damals.

Das Dienstmädchen Hirut wiederum, früh verwaist, ist in die Armut hineingeboren, konnte nicht zur Schule gehen und wird von Aster wie eine Leibeigene behandelt. Dennoch zeigt Hirut Selbstbewusstsein, wenn sie immer wieder die Herausgabe des alten Gewehr fordert, dass das einzige Erbe ist, das sie von ihrem Vater hat, und das Asters Mann ihr weggenommen hat, um die äthiopischen Truppen zu bewaffnen.

Während der Kaiser Haile Selassie angesichts militärischer Erfolge der Italiener ins Exil geht, wird der Krieg für Aster zu einem Akt der Selbstbefreiung und der Selbstermächtigung. Denn Aster zieht Männerkleidung an und beginnt, Frauen für den Kampf zu rekrutieren - gegen den Widerstand der Männer. Auch Hirut will unter Beweis stellen, dass sie den Männern an Mut und Kampfgeist nicht nachsteht. Ironischerweise ist auch der wichtigste Spion der Äthiopier eine Frau. Doch es ist ausgerechnet Hirut, die den Mut der nach der Flucht Haile Selassies verzagten Äthiopier wieder anzufachen, indem sie einen einfachen Bauern überzeugt, angesichts seiner überraschenden Ähnlichkeit mit dem Kaiser den "Schattenkönig" zu mimen.

Als Gegenspieler der kämpfenden Äthiopier zeichnet Mengiste einen italienischen Offizier, der mit dem Beinamen "Schlächter von Bengasi" nach Äthiopien kommt und auch dort durch Gräueltaten und Kriegsverbrechen berüchtigt word. Verständnisvoll zeigt er sich nur im Umgang mit dem Offizier, der als Fotograf den Krieg dokumentieren soll. Seine Fotos sind für den Offizier Kriegstrophäen, die er mit den Statuen der alten Römer vergleicht.

Die Kriegsschilderungen sind nichts für zarte Gemüter. Als Aster und Hirut nach einem riskanten Einsatz in Gefangenschaft geraten, sind sie vor allem als Frauen und nicht als Kombattantinnen Misshandlungen ausgeliefert. Zugleich muss sich der Fotograf mit der Erkenntnis auseinandersetzen, dass seine Eltern, die nie über Religion oder Herkunft gesprochen haben, Juden sind - ein Umstand, der selbst im fernen Afrika seine Existenz bedroht. Der Übergang von Tätern und Opfern ist mitunter fließend.

Faschismus, Sexismus, Feudalismus - Mengiste vereint in ihrem Buch den großen historischen Wurf mit berührenden Geschichten über einfache Menschem und ihren Schicksalen. Es sind vor allem die Frauenfiguren, die ihr Buch nachhaltig prägen, aber auch die Bauern, die von ihren Feldern in den Krieg ziehen müssen. Eingebettet ist die während der italienischen Invasion spielende Kernhandlung in eine Rahmenhandlung während der "roten Revolution" in Äthiopien, in der die alt gewordene Hirut noch einmal die Begegnung mit einem einstigen Gegner hinter sich bringen muss, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen.

Auch wenn "der Schattenkönig" für die meisten Leser viel Unbekanntes beinhalten mag, lohnt sich die Annäherung an ein schwieriges Thema. Denn Mengiste beeindruckt mit diesem Buch, das Fragen aufwirft nach denjenigen, die keinen Platz in den Geschichtsbüchern finden und die doch zu den Gestaltern des eigenen Schicksals werden wollen. Sie habe die Leerstellen des offiziellen Narrativs füllen wollen, sagte sie, als ich kürzlich Gelegenheit hatte, mit ihr über das Buch zu sprechen. Denn die Geschichten über den Krieg, den sie etwa aus den Erzählungen der Frauen ihrer Familie kannte, hatten in den offiziellen Darstellungen bisher keinen Platz. Mit ihrem Buch, das sich zu Recht auf der Shortlist des Booker-Preises befand, will sie das ändern.

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