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Veröffentlicht am 31.10.2021

Langsam lesen und genießen!

Phon
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Nadja und Lew sind die letzten verbleibenden Bewohner eines abgelegenen westrussischen Dorfes, dessen Einwohnerzahl seit über einem Jahrzehnt offiziell 0 beträgt. Die Beiden leben überwiegend autark, nur ...

Nadja und Lew sind die letzten verbleibenden Bewohner eines abgelegenen westrussischen Dorfes, dessen Einwohnerzahl seit über einem Jahrzehnt offiziell 0 beträgt. Die Beiden leben überwiegend autark, nur selten kommt noch ihr Sohn mit einigen Lebensmitteln vorbei. Nadja kümmert sich um Haus und Hof, füttert die Tiere und umsorgt ihren viel älteren Ehemann, der einst ihr Dozent war. Auf der anderen Seite des Dorfes, fast schon mitten im Wald gelegen, stehen die Ruinen ihres früheren gemeinsamen Traumes. Ein zoologisches Forschungslabor, das Stadtkindern die örtliche Fauna erlebbar machen sollte, jedoch aufgrund einer Tragödie vor langer Zeit schließen musste. Nun lauscht Nadja Nacht für Nacht in den Wald, wartet auf das Rattern eines fernen Zuges, welcher hin und wieder vorbeirauscht. Dem geheimnisvollen Lokführer gilt Nadjas Sehnsucht, verbindet doch beide irgendwie eine Form der Verbundenheit, die ihrer beiden Einsamkeiten umfasst - er im hellerleuchtetem Zug, sie im dunklen Wald.
Noch dazu treten neuerdings seltsame Geräusche am Himmel auf - ein Mysterium, das sich jeder Erklärung entzieht. Wie trompetende Wolken ziehen die Geräusche über den Himmel, scharren und knirschen, als ob Gott Möbel verrücke. Ein bedrohlicher Missklang, der sich wie ein Schatten über das Leben der beiden einsamen Dörfler legt, und zudem auch längst verdrängte Erlebnisse wieder zu Tage bringt.

"Phon" ist das Hintergrundrauschen des Lebens, anhand dessen Marente de Moor von einer tragischen, gut verschwiegenen Vergangenheit erzählt. Nadja, die eine tiefe Liebe zum Land mit der nationalen Personifikation Mütterchen Russland verbindet, lebt entfremdet von ihrem Mann in Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Der Westen gilt hier immer noch als fremdes Feindbild, doch mit der Forschungsstation werden nach und nach auch Europäer angezogen, die von Nadja "Europastandardschicki" genannt werden. Das Buch erzählt rückwärtsgewandt von einem Unfall, welcher Nadjas Leben einst aus den wohlgelenkten Bahnen schob, vermischt clever die Gegenwart mit der Vergangenheit und spinnt ein interessantes Gedankenkonstrukt, das dem Buch eine angenehm-leichte Spannung verleiht.

Marente de Moor erzählt in wunderschöner, langsamer Sprache von einem idealistischen Paar in der Wildnis Russlands, den Widrigkeiten eines einsamen Lebens in Abgeschiedenheit, dem folkloristischen Glaubensschatz und der Schönheit der russischen Natur. Und sie schreibt vom Vergänglichen, der Hoffnung und den Anstrengungen des Verzeihens. Atmosphärisch aus dem Niederländischen übersetzt von Bettina Bach ist "Phon" kein Buch zum schnellen Lesen, wohl aber zum Genießen der sehr zartgesponnenen Sprache.

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Veröffentlicht am 17.10.2021

Ein Wohlfühlbuch

Die Mitternachtsbibliothek
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Als Nora beschließt ihr Leben zu beenden, landet sie nicht im Jenseits, sondern in der Mitternachtsbibliothek - ein Schwellenort zwischen Leben und Tod, an dem die Zeiger der Uhr immer auf 00:00 stehen. ...

Als Nora beschließt ihr Leben zu beenden, landet sie nicht im Jenseits, sondern in der Mitternachtsbibliothek - ein Schwellenort zwischen Leben und Tod, an dem die Zeiger der Uhr immer auf 00:00 stehen. In hohen Regalen türmen sich unendlich viele Bücher, deren Inhalt sich um ziemlich genau ein einziges Thema dreht: das Leben Noras in zahlreichen Variationen. Jedes Leben, das sie hätte führen können, ist hier zu finden und in greifbarer Nähe - sowohl die vorstellbaren, als auch die eher unwahrscheinlicheren Lebensläufe Noras. Denn jede noch so kleine Entscheidung im Leben birgt sowohl das Wunder als auch die Gefahr in sich, ein Leben in eine komplett andere Richtung zu lenken, vom Pfad abzukommen und neue, nie zuvor erdenkliche Wege aufzuzeigen.
An die Hand genommen wird Nora an diesem besonderen Ort von ihrer ehemaligen Schulbibliothekarin, denn hier kann sie selbst aus all diesen verschiedensten Lebensentwürfen einige auswählen und selbst ausprobieren, um vielleicht den Weg zu finden, mit dem sie dem Glück und der Zufriedenheit näher kommt als in ihrem Ausgangsleben. Dazu liest sie die Bücher nicht, sondern wird komplett in sie hineingesogen, nimmt den Platz einer anderen Version ihrer Selbst ein und versucht sich in diesem ihr teils fremden, teils bekannten Leben zurechtzufinden. Und hier zeigt uns das Buch, wie nah Traum und Albtraum beieinander liegen können, dass doch nicht alles im Leben so bedeutend ist wie wir denken und dass das Glück auch in den kleinen Dingen zu finden ist - die man aber auch erstmal erkennen muss!

Bei mir hat sich rasend schnell ein angenehm leichter Lesefluss eingestellt. Das Buch besticht zwar nicht gerade aus allzu viel charakterlich-ausgefeilter Tiefe, aber es ist Lebensbejahend und ich bin einige wirklich schöne Lesestunden darin versunken.
Eine altbekannte Idee ist hier wirklich schön umgesetz worden - denn schließlich haben wir uns doch alle schon mal gefragt, wie unser Leben heute aussehen würde, wenn wir uns an einem gewissen Punkt in der Vergangenheit für einen anderen Weg entschieden hätten. Klare Leseempfehlung von mir für eine seichte Geschichte über das Leben, ein perfekter Wohlfühlroman für den Herbst, in toller Übersetzung von Sabine Hübner.

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Veröffentlicht am 23.09.2021

Lieblingsbuch

Ein wenig Leben
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Was hat Hanya Yanagihara hier bitte für ein unsagbar krasses Werk geschrieben? Es ist für mich kaum zu fassen, dass eine fiktive Geschichte mich dermaßen durchschütteln konnte. Zwischendurch kam mir die ...

Was hat Hanya Yanagihara hier bitte für ein unsagbar krasses Werk geschrieben? Es ist für mich kaum zu fassen, dass eine fiktive Geschichte mich dermaßen durchschütteln konnte. Zwischendurch kam mir die emotionale Wucht des Buches zwar immer mal wieder entgegengeschlagen (hier und da war die Sicht auch mal getrübt durch das ein oder andere Tränchen), doch hätte ich NIE gedacht, dass mich dieses Buch am Ende so zerstört zurücklässt; das Ende hat mich quasi aus dem Sofa katapultiert. Da saß ich also, das Buch ausgelesen, und habe geheult wie ein Schlosshund.

Was kann man hier aber zur Handlung sagen, ohne zu spoilern? Wenig wohl. Wir begleiten die Freundschaft vierer Männer vom College bis ins hohe Alter und lernen dabei Stück für Stück die Vergangenheit vom eigentlichen Protagonisten Jude kennen. Ein zutiefst gebrochener Mann, dem das Leben zuwider spielt. Nach jedem Höhenflug kommt ein erneuter Fall, nach jedem Glücksschlag die Katastrophe. Jedem Schmerz folgt ein noch größerer Schmerz, und immer wenn man denkt es kann nicht noch schlimmer werden, wird es tatsächlich schlimmer. Durch die annähernd 1000 Seiten gelingt der Autorin ein unglaublich detailliertes Charakterportrait eines Menschen, der sich nicht von allerhand traumatischen Erfahrungen aus der Vergangenheit lösen kann, und der seine Existenz nur damit gerechtfertigt sieht, um von anderen gehasst zu werden - "Manchmal bin ich glücklich, und muss mir in Erinnerung rufen, dass ich es nicht sein sollte." (S. 480). Uff.

Doch wie viel Leid kann ein einzelner Mensch ertragen - und wie viel Elend kann man seiner Leserschaft zumuten? Aus psychischer Sicht ist das Buch krass harte Kost, neben vielen positiven Wendungen überwiegen immer wieder die Schlechten. Zwischendurch musste ich ab und zu Abstand vom Buch aufbauen, etwas seichteres Lesen, aber recht zügig habe ich dennoch wieder zu diesem Buch hier gegriffen. Es hat mich halt doch über einige Wochen komplett eingenommen.

Jude führt ein von Resignation geprägtes Leben in vollkommener Verzweiflung und geht einem wahnsinnig ans Herz. Seine Geschichte dringt vorn bis hinten unter die Haut, ist wirklich großartig geschrieben und wird mir sicherlich für immer im Gedächtnis bleiben. Bin ganz hin und weg, ganz große Liebe für das Buch. Unbedingt lesen, wenn noch nicht getan.

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Veröffentlicht am 21.09.2021

Surreal- halluzinierend - fantastisch

Weiße Nacht
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"Weiße Nacht" beginnt mit dem letzten Tag Ayamis im einzigen Akustiktheater Seouls, bevor das Theater aufgrund mangelndem Interesse seitens der Öffentlichkeit geschlossen wird. Komplett perspektivlos zieht ...

"Weiße Nacht" beginnt mit dem letzten Tag Ayamis im einzigen Akustiktheater Seouls, bevor das Theater aufgrund mangelndem Interesse seitens der Öffentlichkeit geschlossen wird. Komplett perspektivlos zieht sie die darauf folgende Nacht mit dem Theaterdirektor durch die kochend heißen Gassen Seouls, durch eine bizarre Welt, deren Grenzen von Realität und Fiktion verschwimmen.

Was für eine Stimmung hier herrscht! Der Roman liest sich wie ein surrealer Traum, ist diffus, magisch, halluzinierend, wunderlich. Oder wie es Ayami formuliert: "Es ist, als sei man in einem Traum. [...] Wohin gehen wir?" (S.65). Tatsächlich weiß man nicht, wohin es geht, man kann sich ausschließlich von den Protagonisten und deren Gedanken durch diesen beinahe luftleeren Raum mitziehen lassen - eine gewisse Richtung lässt sich kaum erahnen.
Begebt euch mit den Protagonisten auf Streifzüge durch eine vollkommen schwarze und verlassene Stadt, in der Dinge nur schemenhaft erkennbar sind, flimmernde Träume und Visionen aufleuchten, wo Zeit und Realität verschmelzen, Doppelgänger auftreten und man nie weiß, wer wirklich wer ist. Lasst eure Gedanken zerfließen, lasst euch auf das Spiel mit den Darstellern ein, gebt euch dem Sog hin. Die Sprache ist hochwertig, aber zugänglich - doch das Verstehen ist fordernd. Bestimmte Phrasen und Wörter werden kontinuierlich wiederholt, stellen aber immer wieder neue Sinnzusammenhänge her. Die Handlung, in kleinen Happen serviert, dehnt sich aus und zieht sich pulsartig wieder zusammen. Die Handlungsfetzen scheinen Symbiosen zu bilden, und trennen sich kurz darauf doch wieder, schweifen ab - alles ist in Bewegung und steckt zugleich irgendwie fest. Ich weiß nicht, wie man dem Buch gerecht werden könnte, ich weiß nicht, wie ich das Buch sonst beschreiben könnte. Es war ein total außergewöhnliches Lesevergnügen, ein abstraktes Kunstwerk in Buchform, ein verrücktes Buch - lasst euch darauf ein. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 29.08.2021

Grandios!

Der perfekte Kreis
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Die Männer Redbone und Calvert teilen sich ein außergewöhnliches Hobby. Jedes Jahr durchstreifen sie Englands Landschaft, lassen mal hier, mal dort ein Kunstwerk zurück, das verwirrt, verblüfft, betört. ...

Die Männer Redbone und Calvert teilen sich ein außergewöhnliches Hobby. Jedes Jahr durchstreifen sie Englands Landschaft, lassen mal hier, mal dort ein Kunstwerk zurück, das verwirrt, verblüfft, betört. Spezialisiert haben die Freunde sich auf eine Kunstform, die wohl kaum jemals so wunderbar und erkenntnissreich in einem Roman abgehandelt worden ist, wie in Myers neuem Werk.
Denn Redbone und Calvert sind die nächtlich-heimlichen Schöpfer von Kornkreisen, die mit Bestaunen aufgefasst werden und die Fantasie unzähliger Menschen anregen. Regelrechte Kornkreisjäger, die New Age-Bewegung, Wissenschaftler und allerlei sonstige Gruppierungen spekulieren über eine extraterrestriale oder gar göttliche Schöpfung. Und treiben die beiden Männer zu menschlichen Höchstleistungen an, ebnen ihnen den Weg zum perfekten Kreis. Und so läuft der Roman auf das Opus Magnum der Beiden zu: immer größer, immer skurriler sollen die Kreise werden. Bis zur Vollkommenheit reichen.

Myers hat eine wunderschöne Art, das Alltägliche wiederzugeben und kann selbst einen banalen Kornkreis oder den englischen Landregen auf meisterhafte Weise beschreiben. Jedes Kapitel ist einem eigenen Kornkreis gewidmet und endet mit einer jeweiligen Besprechung desselbigen in der Presse. Durchsetzt wird der künstlerische Akt der Männer durch philosophische Gespräche, die auch mal ein bisschen ins absurde abdriften. Beide Protagonisten sind irgendwie schräg, aber total sympathisch und erinnern mich ein wenig an die beiden Landstreicher in Becketts 'Warten auf Godot'. Das Buch war für mich rundum ein fast schon spektakuläres Leseerlebnis, das auf einer eigentlich trivialen Grundidee aufbaut. Doch hier geht es nicht nur um das Stiften von Verwirrung oder um Mythenbildung, sondern ebenso um die Zelebrierung des menschlichen Schöpfungsaktes, dem Entstehen von etwas Kurzweiligen, um Ästhetik. Grandios, verrückt, Leseempfehlung von mir!

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