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Veröffentlicht am 21.11.2021

Vielversprechender Auftakt

Crossroads
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"Crossroads" beginnt im Dezember des Jahres 1971 im suburbanen Chicago. Der Einfluss des Vietnamkrieges treibt große Teile der amerikanischen Jugend in die Drogensucht, lässt aber auch eine enorme Anzahl ...

"Crossroads" beginnt im Dezember des Jahres 1971 im suburbanen Chicago. Der Einfluss des Vietnamkrieges treibt große Teile der amerikanischen Jugend in die Drogensucht, lässt aber auch eine enorme Anzahl in der Religion Zuflucht finden. Franzen siedelt sein neuestes Werk im Umfeld der First Reformed Church an und führt uns durch die Augen einer vielköpfigen Pfarrersfamilie blickend, mitten hinein in eine protestantische Jugendgruppe mit dem Namen "Crossroads".

Familienvater Russ ist Pastor sowie Gründer jener Jugendgruppe, einige seiner Kinder aktive Mitglieder - Spannungen innerhalb der Familie sind also unumgänglich. Doch auch Modernisierungsgedanken der jungen amerikanischen Gesellschaft wirken ins Gemeindeleben hinein und schlagen zunehmend Wellen im Kirchenkreis.

Franzen lässt seine Figuren allesamt auf dem schmalen Grat zwischen theologischen Lehren und gesellschaftlichem Abbild der Zeit hin- und herwandeln, durchzieht seinen Trilogieauftakt mit gesellschaftlichen Themenkomplexen, die das Buch krass gut aufpeppen - ein bisschen Sex, Love & Rock'n'Roll in Kirchenkreisen quasi.
Erzählt wird aus der Perspektive einer (fast) ganzen Familie; Eltern und Kinder kommen immer abwechselnd zur Sprache, werden auf mehr als 800 Seiten wirklich tiefgründig und realistisch ausgearbeitet - wenngleich nicht immer unbedingt sympathisch. Jedes Mitglied dieser komplett dysfunktionalen und immer stärker auseinanderbrechenden Familie durchlebt im Roman seine Identitätskrise, alle Mitglieder kämpfen zuweilen mit der Loslösung vom Glauben und dem Festhalten an dem, was Glaube zu geben vermag. Jugendliches Ausprobieren und das Ausreizen der gesetzten Normen - Franzen lockert das eingefangene Zeitgefühl geschickt mit hier einer Fehde, da einer Krise auf, gibt einen interessanten Einblick in die Kirchenarbeit mit Jugendlichen, führt aber am Rande auch Themen wie die Misere der Kriegslotterie auf und zeigt die Sorgen und Nöte der amerikanischen Jugend zu einer unsteten Zeit. Ein ungeheuerlich breiter Themenkomplex wird also abgedeckt, und während jedes Familienmitglied sein eigenes Dilemma durchlebt und mit moralischen Idealen inmitten sündhafter Lebensstile kämpft, werden die Lebensentwürfe des Einen durch die des Anderen durchkreuzt.
 
Ich glaube, ein 800-Seiten starkes Buch kann nie durchgehend gleich stark fesseln; unterhalten hat es mich jedoch durch und durch positiv. Aber obgleich des sehr gut ausgearbeiteten und in sich wunderbar stimmigen Plots lief die Story für meinen Geschmack doch ein Mü zu ereignislos daher.

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Veröffentlicht am 15.09.2021

Hat mich berührt

Reise durch ein fremdes Land
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Wenige Tage vor Weihnachten begibt sich Tom auf eine Autofahrt durch ein vom Wintereinbruch geplagtes Land, um seinen kranken Sohn Luke zum Fest nach Hause zu holen. Zutiefst verschneite Straßen erschweren ...

Wenige Tage vor Weihnachten begibt sich Tom auf eine Autofahrt durch ein vom Wintereinbruch geplagtes Land, um seinen kranken Sohn Luke zum Fest nach Hause zu holen. Zutiefst verschneite Straßen erschweren ihm die Reise, doch auch die Geister seiner Vergangenheit sind nur allzu präsent. Beruflich als Fotograf tätig, betrachtet Tom die vergangenen Jahre wie durch die Linse seiner Kamera, reflektiert während der Fahrt wie in Schnappschüssen sein Leben. Und in der Stille seiner Gedanken nähert er sich zusehends dem Punkt, an dem sein Leben aus den Fugen geraten ist und seine Familie nachhaltig ins Schlingern kam.

Tom kämpf sich durch die Kälte und Einsamkeit, die ihn im Schneechaos umgibt, sich aber auch in ihm selbst verbirgt. Auf der langen Fahrt kehren peu a peu schmerzhafte Erinnerungen an seinen ältesten Sohn Daniel zurück, nie verwundene Schuldgefühle brechen über den dreifachen Vater herein. Er blättert sich durch das Album seiner Vergangenheit, gewährt dem Leser Bild für Bild einen zutiefst menschlichen Einblick in seine Seele und zurückliegende Ereignisse, mit denen er bisher keinen Frieden schließen konnte.

Ich muss sagen, in der der ersten Hälfte fand ich's recht schwach, aber dann hat es wirklich an Fahrt aufgenommen, bis am Ende alles implodiert. Erinnerung und Gegenwart werden miteinander verwoben und wirken wie ein Fiebertraum, in dem sich ein Vater auf der Suche nach Erlösung und Selbstvergebung scheinbar komplett hingibt. Eine Geschichte der Trauer, zum Teil am Rande der menschlichen Verzweiflung - Tom zeigt uns einen von der Öffentlichkeit gut verwahrten Einblick in das Innere seiner Kamera, durchbricht langsam die dichte Eisschicht seiner Vergangenheit. Kein wohliges Buch, aber definitiv ein passendes für dunkle Herbstabende - Toms Einblick in seine Seele hat mich berührt.

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Veröffentlicht am 27.08.2021

Porträt einer Stadt

Träume und Kulissen
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Es ist Sommer 1936, die Welt ist im Umbruch, ein Krieg bahnt sich an. Doch hiervon merkt man in Split, einer beschaulichen Hafenstadt an der jugoslawischen (heute kroatischen) Adriaküste zu Beginn noch ...

Es ist Sommer 1936, die Welt ist im Umbruch, ein Krieg bahnt sich an. Doch hiervon merkt man in Split, einer beschaulichen Hafenstadt an der jugoslawischen (heute kroatischen) Adriaküste zu Beginn noch recht wenig. Der Roman beginnt mit dem Fund einer Leiche, doch die Ermittlungen ziehen sich hin. Denn Splits Hafen scheint Drehkreuz der Welt zu sein. Hier wird zwar nicht das Weltgeschehen verhandelt, aber Politik wird in Anbetracht der Zeit immer präsenter - und somit verdunkelt sich auch hier zusehends der Himmel. So machen Schleuser mit geflüchteten Kommunisten und Juden aus Deutschland ihre Geschäfte, Mussolinis Anhänger mischen sich unter die Einwohner und selbst ein deutsches Filmteam auf der Suche nach schönen Kulissen wird mit wachsamen Blicken beobachtet. Und dann ist da noch die Geheimpolizei - von wer weiß wo überall. Im Mordfall heißt es also: abwarten mit mediterraner Gelassenheit, und zwar bis jemand einen Fehler macht.

Split liegt in einem Land mit turbulenter Vergangenheit und ungewisser Zukunft, und ist doch gleichzeitig allerschönste Kulisse im Roman. Die Stadt am Meer fungiert als Schmelztiegel der Kulturen, in ihren Einwohnern und Gästen spiegeln sich die grundverschiedensten politischen Ansichten wieder, die miteinander immer wieder kleinere und größere Reibereien austragen. Wer einen spannenden Krimi sucht, ist hier falsch - der Mord steht nicht im Fokus, sondern rahmt die Handlung nur ein. Wohl eher geht es um die Darstellung der Stadt, ihrer Kultur, ihren Bewohnern und Gästen zur Zeit einer turbulenten gesellschaftlichen sowie politischen Umwälzung. Menschen aller Herren Länder, ihre Träume und ihre Organisation - wenn nicht gar das Leben selbst - steht im Vordergrund jener instabilen Zeit voller Sehnsucht. Und so ist es nicht verwunderlich, dass der Roman atmosphärisch dicht ausgearbeitet ist, das mediterrane Leben in schönster Form und Sprache beschreibt und die Geschmäcker und Gerüche des Landes sich durch die Seiten ziehen.

Doch aufgrund der vielen Personen (und den vielfältigen politischen An- und Absichten) war der außergewöhnlich vielschichtige Roman nicht immer ganz einfach zu lesen. Gegen Ende war ich zugegeben auch etwas froh, dass sich das Buch allmählich seinem Schluss neigt. Ein Personenverzeichnis wäre hier vielleicht eine gute Idee. Nichtsdestotrotz, ein guter Roman, dem aber irgendwie ein bisschen Power fehlt.

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Veröffentlicht am 23.07.2021

Erwachsenwerden in Neapel

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
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Giovanna lebt mit ihren Eltern in Vomero, einem wohlhabenden und gepflegten Stadtteil von Neapel. Hier oben, auf dem gleichnamigen Hügel mit Ausblick auf die tiefergelegene Stadt und das Meer, verläuft ...

Giovanna lebt mit ihren Eltern in Vomero, einem wohlhabenden und gepflegten Stadtteil von Neapel. Hier oben, auf dem gleichnamigen Hügel mit Ausblick auf die tiefergelegene Stadt und das Meer, verläuft ihre Kindheit in geregelten Bahnen. Dies ändert sich schlagartig, als sie ihren Vater eines Tages hinterrücks reden hört, sie würde seiner Schwester Vittoria immer ähnlicher sehen. Ausgerechnet jener Tante, die ihren Eltern als Personifikation körperlicher und sittlicher Hässlichkeit gilt.
Somit fühlt sich die Dreizehnjährige erstmals darin bestrebt, sich auf Spurensuche in das tiefergelegene Neapel zu begeben - denn hier soll sie leben, in dieser gegensätzlichen und rauen Gegend. Und dann zieht es sie immer wieder hin zu ihrer Tante und in deren Umfeld, und Giovanna öffnet sich nach und nach eine Welt, die sie zugleich fasziniert und abschreckt.

Mit ihrem Grenzübertritt in den unbekannten, fremden Teil Neapels sowie diesen fremden Teil ihrer eigenen Familie, lernt Giovanna das wahre, unperfekte Leben der Erwachsenen kennen, indem sie immer öfter die Bequemlichkeiten des Lügens erkennt und mit jeder Begegnung selbst ein Stück erwachsener wird. Ständig schwankt sie hin und her, weiß nicht, wo sie eigentlich hingehört und wo sie wirklich hingehören will, leidet unter dem Familienkonflikt und dem Erwachsenwerden. Und dann macht sie im Verlauf des Buches eine richtig tolle Charakterentwicklung durch. Ferrante zeichnet unheimlich spannende Charaktere, alle mit Ecken und Kanten, und schafft somit ein vielschichtiges Melodram voller Antihelden. Ein toller Roman über eine zerbrochene Familie, ein verwundetes Körperbild, Freundschaft, Betrug und Loyalität. Das Ende war mir aber leider zu derb.

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Veröffentlicht am 18.06.2021

Starke Charakterkonstellation

Von hier bis zum Anfang
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Die dreizehnjährige Duchess lebt mit ihrem kleinen Bruder Robin in einer überschaubaren Kleinstadt an der Küste Kaliforniens. Ihre Mutter Star ist depressiv und schwer Suchtkrank, hat den Tod mit Fahrerflucht ...

Die dreizehnjährige Duchess lebt mit ihrem kleinen Bruder Robin in einer überschaubaren Kleinstadt an der Küste Kaliforniens. Ihre Mutter Star ist depressiv und schwer Suchtkrank, hat den Tod mit Fahrerflucht ihrer Schwester vor über 30 Jahren nie überwinden können. Kaum noch wahrnehmbar als Erziehungsperson für die beiden Kinder, muss die kleine Duchess die Rolle der Erwachsenen in der Familie übernehmen und kümmert sich hingebungsvoll um Bruder und Mutter. Als der angebliche Mörder aus dem Gefängnis entlassen wird und in die Stadt zurückkehrt, wird die Familie um Duchess erneut von einem schrecklichen Unheil erschüttert. Währenddessen kämpf der Kleinstadtsheriff Walk mit den Geistern seiner Vergangenheit und versucht, die Unschuld des Mörders, der zugleich sein bester Freund aus Kindheitstagen ist, zu beweisen.

Whitaker hat ein starkes Buch über Trauma, Wut und Rache, Schmerz und Ohnmacht geschrieben. Das Buch rollt eine Geschichte um vergangene Zeiten auf, die sich bis in die Zukunft der jungen Duchess und ihres Bruders ziehen, wodurch die Story schon stark in Richtung Krimi tendiert. Protagonistin Duchess bezeichnet sich selbst als Outlaw, eine Gesetzlose, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie ist klug für ihr junges Alter und beschützt ihre Familie, doch sie begeht zuweilen einige schwerwiegende Fehler, welche die Handlung zwischendurch in eine andere Richtung lenken und somit die Geschichte voranpreschen. Ein starker Charakter, unter dessen Oberfläche ein verletzliches Kind steckt, das selten, aber ab und zu durchscheint. Das Buch wird mit seiner Ähnlichkeit zu Delia Owens 'Gesang der Flusskrebse' beworben. Thematisch durchaus vergleichbar; in beiden Romanen kämpfen sich starke Mädchen, auf sich allein gestellt durchs Leben, unterlegt von einer seichten Krimihandlung, gepaart mit einer Familiengeschichte. Aus meiner Sicht ist dieser Roman athmosphärisch zwar nicht ganz so stark wie der von Owens und er hatte zwischendurch einige Längen - ich bin mir aber sicher, der Roman hier wird trotzdem ein Bestseller.

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