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Veröffentlicht am 22.12.2021

Trubel und Aufregung, ein paar Turbulenzen und ganz viel warmes Weihnachtsgefühl

Familie Flickenteppich 4. Wir freuen uns auf Weihnachten
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Aufregung bei Emma und ihrer Flickenteppich-Familie aus der Nummer 11. Weihnachten steht vor der Tür. Das erste Weihnachten im neuen Haus, an dem Papa und Selda ein Paar sind. Oma und Opa, Mama, Jeff und ...

Aufregung bei Emma und ihrer Flickenteppich-Familie aus der Nummer 11. Weihnachten steht vor der Tür. Das erste Weihnachten im neuen Haus, an dem Papa und Selda ein Paar sind. Oma und Opa, Mama, Jeff und Aylins Großmutter haben zum Fest ihren Besuch angekündigt. Außerdem steht die Geburt von Stellas Baby kurz bevor. Und dann muss sich die Hausgemeinschaft noch um Oma Becker kümmern, die nach einer schweren Grippeerkrankung noch ziemlich schwach ist und immer tüdeliger wird. Natürlich gehören zu einem richtigen Weihnachten auch die passenden Geschenke und Schnee. Ob die Kinder beim Schnee mit einem geheimnisvollen Zauber etwas nachhelfen können?

Stefanie Taschinski schreibt im Präsens in Ich-Form aus Emmas Sicht direkt, ehrlich, klar und gut verständlich. Diese Erzählweise wirkt authentisch und lebendig. Beim Lesen hatten wir fast das Gefühl, Emma sitzt mit uns im Zimmer und erzählt nur für uns persönlich ihre Geschichte. Anne Kathrin Behl hat zur Geschichte passende Illustrationen gezeichnet. Ihre Figuren sehen charakteristisch und irgendwie drollig aus, sind sehr aussagekräftig. Beim Betrachten der Bilder wird sofort klar, wie sich die dargestellten Personen gerade fühlen. Die Schrift ist gut lesbar, da der Zeilenabstand etwas weiter ist. Zum Selberlesen eignet sich das Buch für Kinder ab acht Jahren, zum Vorlesen auch schon für jüngere Kinder ab sechs.

Die Flickenteppichs sind für uns schon wie alte, vertraute Bekannte. Was für eine Vielfalt an Charakteren! Da ist zunächst Emma, die sehr sozial, selbstständig und ehrlich ist. Sie weiß genau, was richtig und falsch ist, hat ein großes Herz, steckt voller Gefühle, lässt sich schnell begeistern, packt Sachen an. Manchmal passieren aber auch ihr Fehler. Mit ihrer Freundin und nun Fast-Schwester Aylin hat sie das große Los gezogen. Die beiden verstehen sich blind und sind immer füreinander da. Emmas Bruder Ben geht nun in eine neue Schule und muss sich da erst noch zurechtzufinden. Er möchte unbedingt bei seinen neuen Klassenkameraden beliebt sein und vergisst dabei manchmal, was eigentlich zählt. Neben Emmas und Aylins Familie gibt es noch Oma Becker, die sich in diesem Band zum Sorgenkind entwickelt, ist sie doch recht schwach und vergesslich. „Erbsenzählerin“ Frau Neumann bleibt ihrer bestimmten, strengen Art treu, beweist aber einmal mehr, dass sie im tiefsten Inneren ein sehr herzlicher Mensch ist, dem wichtig ist, dass es allen gut geht. Es macht immer wieder großen Spaß, die Entwicklungen in dieser außergewöhnlichen Hausgemeinschaft mit dem besonderen Zusammenhalt zu verfolgen. So sollte „Familie“ sein, auch wenn hier nicht alle verwandt sind.

„Wir freuen uns auf Weihnachten“ ist trotz aller Aufregung und Turbulenzen eine besinnliches Buch mit viel Weihnachtsgefühl. Die Flickenteppichs feiern ein manchmal unkonventionelles, mitunter chaotisches Fest voller ungeplanter Überraschungen, zeigen aber, worauf es wirklich ankommt: Zusammensein, rücksichtsvoll an andere zu denken und anderen eine Freude zu machen. Emma und Aylin demonstrieren auf ihre Art, was Toleranz heißt und erklären dabei völlig selbstverständlich auf ihre Art auch andere Familienmodelle jenseits des klassischen Vater-Mutter-Kind-Modells. Emma und vor allem Ben geraten diesmal in einen Gewissenskonflikt, tun das Falsche, lernen aber aus ihren Fehlern, beweisen Größe und entschuldigen sich, obwohl es ihnen nicht leichtfällt. Sie werden mit Problemen konfrontiert, die manche Leserinnen und Leser garantiert auch schon erlebt haben. Das macht sie zu prima Identifikationsfiguren.
Auch der neueste Band der Fleckenteppichs steht den anderen in nichts nach, vermittelt wieder das einzigartige „Flickenteppich-Gefühl“: Zusammenhalt, Freundschaft, Wärme und den Alltag als Abenteuer. Von dieser Familie können wir einfach nicht genug bekommen.

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Veröffentlicht am 14.12.2021

Tierisch turbulentes Freundschaftsabenteuer mit hochherrschaftlichem Schauplatz und wunderbaren Figuren

Elli Rotfell 1. Die abenteuerliche Rettung von Schloss Drachenmut
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Elli Rotfell lebt im Schlosspark von Schloss Drachenmut. Sie ist nicht wie andere Eichhörnchen. Statt Vorräte zu sammeln, ihren traditionellen Aufgaben nachzukommen und beim Kobelbau zu helfen, übt sie ...

Elli Rotfell lebt im Schlosspark von Schloss Drachenmut. Sie ist nicht wie andere Eichhörnchen. Statt Vorräte zu sammeln, ihren traditionellen Aufgaben nachzukommen und beim Kobelbau zu helfen, übt sie lieber mit ihrer Schleuder zu schießen. Gerne würde sie einmal mehr von der Welt sehen als immer nur nur ihre direkte Umgebung. Nach einem Streit mit ihrem Opa Eckbert verlässt sie wutentbrannt das Revier und trifft auf den Waschbären Wolle Waschington. Eigentlich sollten Eichhörnchen Waschbären nicht trauen, aber die beiden Tiere verstehen sich dennoch ziemlich gut und werden sogar Freunde. Als sie erfahren, dass ihr Zuhause, der Schlosspark von Schloss Drachenmut und das Schloss verkauft und zum Golfhotel umgestaltet werden soll, beschließen sie, das unter allen Umständen zu verhindern und ihre Heimat zu retten. Doch alleine wird das nicht klappen. Die beiden brauchen dringend Unterstützung. Ob sie die unter den anderen Bewohnern des Parks finden?

Autorin Anne Ameling schreibt kindgemäß, abwechslungsreich, sehr humorvoll und gut verständlich.
Eva Czerwenka hat zur Geschichte hübsche, lebendige, bunte Bilder gezeichnet. Dabei bleibt der Rahmen der einzelnen Doppelseiten oben links und unten rechts stets gleich (oben eine Baumkrone mit Eichhörnchenschwanz und unten ein Waschbärenschwanz und Müll im Wasser). Er wird aber oft durch neue Illustrationen, hauptsächlich solchen von Tieren, ergänzt. Die Bilder der Figuren sind besonders ausdrucksstark und charakteristisch, sie machen einfach Spaß.
Auf dem Vorsatzpapier findet sich eine Karte von Schloß Drachenmut. Mit Hilfe der Karte lässt es sich sehr gut nachvollziehen, wie der Schauplatz aussieht und wo sich die Ereignisse gerade abspielen.
Die Textmenge pro Seite ist recht übersichtlich, Schrift und Zeilenabstand sind lesefreundlich und etwas größer als normal. Das Buch ist zum Vorlesen für Kinder ab sechs Jahren geeignet, für Selberleserinnen und -leser ab acht.

Elli Rotfell ist kein Eichhörnchen wie aus dem Bilderbuch, sie begnügt sich nicht mit Bravsein, ist aufmüpfig, quirlig und temperamentvoll. Elli möchte mehr von der Welt sehen als das begrenzte Revier der Eichhörnchen. Dass sie in ihrer Familie aneckt, scheint da vorprogrammiert zu sein. Auch Waschbär Wolle Waschington hat Probleme mit seiner Familie. Waschbären sind normalerweise doch recht bodenständig, Walle trägt seinen Kopf aber „in den Wolken“, möchte Erfinder werden, träumt vom Fliegen und davon einen funktionierenden Roboter zu entwickeln. Aus verschiedenen Gründen hat Walle „Ärger“ mit verschiedenen Tieren, ein Running Gag, der uns beim Lesen immer wieder sehr amüsiert hat. Elli und Wolle sind nur zwei der originellen Charaktere, da gibt es zum Beispiel noch einen überforderten Schlosshund, den Chaos-Kaninchenclub, einen kriminellen Raben, eine biestige Sperberin und viele weitere mehr. Eine wirklich gelungene, unterhaltsame Figurenauswahl!

Was die kleinen Parkbewohner alles auf die Beine stellen, um das Schloss zu retten, ist ganz großes Kino. Sehr spannend die Frage, ob sie letztendlich mit ihren Anstrengungen erfolgreich sein werden.
Nebenher werden allerlei Vorurteile überwunden und es erweist sich als überaus sinnvoll, sich auf bestimmte andere einzulassen, auch wenn man vorher davor gewarnt wurde. Denn oft sind viele Tiere und Leute doch ganz anders, als man glaubt. Und daher ist auch eine Freundschaft zwischen einem Eichhörnchen und einem Waschbären sehr gut möglich. Noch mehr: sie schafft so manches, an das man zuvor niemals geglaubt hätte.
Wie die persönlichen Eigenarten der Tiere von der Autorin dargestellt und aufgegriffen werden, ist immer wieder herrlich komisch und sorgt für gute Laune.
Ein wunderbares, phantasievolles, turbulentes Freundschaftsabenteuer mit drolligen Figuren, das großen Spaß macht. Von uns aus könnten Elli und Wolle sehr gerne in Serie gehen.

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Veröffentlicht am 11.12.2021

Atemberaubend fesselndes Katz und Maus-Spiel frei nach Agatha Christie

Das Chalet
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Die Entwickler der erfolgreichen Social-Media-App Snoop verbringen gemeinsam eine Auszeit in einem Luxus-Chalet in den französischen Alpen. Doch bald schon wird klar, dass es bei dem Treffen nicht nur ...

Die Entwickler der erfolgreichen Social-Media-App Snoop verbringen gemeinsam eine Auszeit in einem Luxus-Chalet in den französischen Alpen. Doch bald schon wird klar, dass es bei dem Treffen nicht nur um Entspannung und Erholung geht. Es liegt ein Übernahmeangebot für das Unternehmen vor, das besprochen werden muss. Doch bevor es zur Diskussion des Angebots kommt, geschieht eine Katastrophe. Es hört nicht auf zu schneien, im Schneesturm geht ein wichtiges Teammitglied verloren. Als das Chalet durch eine Lawine von der Außenwelt abgeschnitten wird, wird eine weitere Person ermordet. Und das soll nicht der letzte Tote sein. Ein Killer versteckt sich unter den Bewohnern des Chalets. Niemand kann sich sicher fühlen ….

Autorin Ruth Ware formuliert gut verständlich, flüssig und klar. Abwechselnd wird das Geschehen in der ersten Person Präsens aus der Sicht von Liz, einer ehemaligen Mitarbeiterin von Snoop und Erin, die im Chalet als Servicekraft arbeitet, geschildert. Die Leser erhalten zwei Versionen der Geschichte, zwei verschiedene Blickwinkel auf die Entwicklungen. Die Kapitel sind recht kurz gehalten, die Spannung wird durch den häufigen Perspektivwechsel stets aufrechterhalten.

Die Erzählerinnen Liz und Erin stehen zwangsläufig im Mittelpunkt des Romans. Liz ist ehemalige Mitarbeiterin des Unternehmens, die nun über 2% der Firmenanteile verfügt, Erin ist im Chalet angestellt. „Mauerblümchen“ Liz steckt mittendrin im Geschehen, ist in die geschäftlichen Angelegenheiten von Snoop involviert, weiß um die Animositäten innerhalb der Chefetage und wie die Mitarbeiter zueinander stehen. Dennoch steht sie auch außen vor, hält sich für unzulänglich, ist wenig selbstbewusst und hat das Gefühl, den ehemaligen Kollegen nicht das Wasser reichen zu können.
Erin bekommt als „Mädchen für alles“ im Chalet vieles mit, hat einen Blick von außen auf die Strukturen und Beziehungen in der Firma. Sie selbst scheint ebenfalls Geheimnisse zu haben und in der Vergangenheit Schlimmes erlebt zu haben. Sowohl Liz als auch Erin haben offensichtlich etwas zu verbergen. Beim Lesen zweifelte ich da häufig, ob ich ihnen und ihrer Sicht wirklich trauen kann. Auch die anderen Figuren sind mit Vorsicht zu genießen. Das Bild, das sie nach außen abgeben wollen, scheint nicht „echt“. Die Mitarbeiter demonstrieren Geschlossenheit, doch es herrscht längst nicht die Harmonie, die nach außen propagiert wird. Sympathisch waren mir die Beschäftigten von Snoop alle nicht, wirken sie doch mitunter recht abgehoben und elitär.

Wie bei Agatha Christies „Und dann gab es keines mehr“ sind alle Beteiligten von der Außenwelt abgeschnitten. Nicht eine Insel, sondern ein Chalet im Schnee stellt den Schauplatz dar, aber das Szenario ist ganz ähnlich. Es gibt kein Entkommen, niemand kann sich sicher fühlen, jeder könnte der Feind sein. Autorin Ruth Ware beschwört in ihrem neuesten Werk eine Atmosphäre zum Schaudern herauf. Nach und nach wird das Rätsel um den Mörder gelöst und das so packend und fesselnd, dass man sich der Handlung einfach nicht entziehen kann. Was für ein Setting, was für ein spannender Showdown! Nicht nur die Protagonisten frieren, garantiert wird es bei all der Anspannung auch der Leserschaft eiskalt über den Rücken laufen. Hier werden Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern. Für mich ist „Das Chalet“ ein sehr stimmig konstruierter, packender, gut durchdachter Krimi mit Atmosphäre, ein Krimi, wie er sein muss. Ich bin sicher, auch Agatha Christie hätte an diesem Roman ihre Freude gehabt .


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Veröffentlicht am 29.11.2021

Abgründige, beklemmende Weihnachtszeit - absolut fesselnd

SCHWEIG!
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Einen Tag vor Weihnachten besucht Esther ihre jüngere Schwester Sue, die nach ihrer Scheidung allein in einem abgelegenem Haus im Wald lebt. Die Schwestern haben gravierende Probleme im Umgang miteinander, ...

Einen Tag vor Weihnachten besucht Esther ihre jüngere Schwester Sue, die nach ihrer Scheidung allein in einem abgelegenem Haus im Wald lebt. Die Schwestern haben gravierende Probleme im Umgang miteinander, ihr Verhältnis ist von Konflikten geprägt. Zuviel ist in der Vergangenheit passiert, das die Beziehung der beiden stark belastet. Während der Begegnung der Frauen kommen schreckliche Geheimnisse ans Licht und die Situation droht immer mehr zu eskalieren….

Autorin Judith Merchant schreibt angenehm flüssig und mühelos verständlich aus verschiedenen Perspektiven. Im Wechsel schildern Esther und Sue in der ersten Person ihre Sicht der aktuellen Geschehnisse, sie erinnern sich aber auch an zentrale Momente aus der Vergangenheit. Einige Kapitel lassen Esthers Mann Martin zu Wort kommen, allerdings wird hier nicht in der ersten, sondern in der dritten Person erzählt. Auch die Abschnitte um „das Mädchen“ sind in der dritten Person formuliert. Durch die kurzen Kapitel und den häufigen Perspektivwechsel liest sich die Geschichte sehr abwechslungsreich und interessant.
Sehr wirkungsvoll das schlichte Cover mit den überwiegend schwarz-weißen Bäumen, lediglich ein Baum ist rot, was an Blut und Gefahr erinnert und sehr gut zur bedrohlichen Atmosphäre des Buchs passt.

Die Beziehung der Schwestern ist wohl das, was gemeinhin als toxisch bezeichnet wird, alles andere als gesund. Im Laufe der Geschichte kommen immer mehr erschreckende Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht. Anfangs macht es den Eindruck, als sei nur Sue sehr labil und habe immense psychische Probleme, während Esther gefestigt, ausgeglichen und rational wirkt. Doch hier ist nichts, wie es scheint und ich wusste beim Lesen gar nicht mehr, wem ich trauen kann und wer von beiden Schwestern noch unberechenbarer, gefährlicher und wahnsinniger ist. Alle Charaktere haben Leichen im Keller, niemand ist sympathisch. Hier leidet man als Leser nicht mit den Figuren mit, sondern erliegt dem Sog der Geschichte.

„Schweig“ führt die Leserschaft in tiefste menschliche, seelische Abgründe. Die Entwicklungen lassen einen oft schaudern. Was kommt da noch alles ans Tageslicht? Wie endet dieses überaus konfliktgeladene, hochexplosive Treffen? Judith Merchant setzt immer wieder „noch einen drauf“, überrascht mit erstaunlichen Wendungen, schockiert mit jedem weiteren Satz mehr. Die Geschichte ist ausnahmslos fesselnd, die Spannung steigert sich bis zum Finale, das mit einem besonderen Knall aufwartet. Auch wenn „Schweig“ kein klassischer Psychothriller ist, eher eine Mischung aus Familiendrama und Psychogramm, geht es kaum packender. Der Handlung um die kranke, beklemmenden Schwesternbeziehung konnte ich mich nicht entziehen. Ich möchte definitiv noch mehr von dieser Autorin lesen.

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Veröffentlicht am 29.11.2021

Ein typischer „Bronsky“: Tieftraurig, schräg-komisch, berührend - einfach grandios

Barbara stirbt nicht
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„Seine nächste Idee war, Karin anzurufen und zu fragen, wie man Kaffee kocht. Als Frau musste sie so was wissen.“

Walter Schmidt ist es gewohnt, dass seine Frau Barbara immer da ist und alle Aufgaben ...

„Seine nächste Idee war, Karin anzurufen und zu fragen, wie man Kaffee kocht. Als Frau musste sie so was wissen.“

Walter Schmidt ist es gewohnt, dass seine Frau Barbara immer da ist und alle Aufgaben im Haushalt erledigt. Doch eines Tages fühlt sich Barbara so müde, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Wohl oder übel muss Walter nun selbst ran: Kaffee kochen, Frühstück machen, einkaufen…Da es Barbara auch in den nächsten Tagen nicht besser geht, ändert sich Walters Leben von Grund auf. Jeden Tag warten neue Herausforderungen auf ihn, gleichzeitig setzt er sich zwangsläufig mit seinem Leben und der Beziehung mit Barbara auseinander.

Alina Bronsky schildert die Geschichte aus Walters Sicht als auktoriale Erzählerin in der dritten Person. Sie schreibt direkt und klar, in einfachen Sätzen, teils in Umgangssprache. Die Autorin „spricht“ Walters Sprache, formuliert so, wie sich Walter ausdrücken würde, genau so, wie er denkt. Das macht die Geschichte für mich sehr authentisch.

Walter Schmidt, meist im Buch nur bezeichnenderweise Herr Schmidt genannt, ist alles andere als angenehm. Er selbst ist wie Barbara „Zugezogener“ mit osteuropäischen Wurzeln, lehnt aber alles nicht-deutsche erst einmal ab. Er denkt oft rassistisch, frauenfeindlich, stockkonservativ, zeigt sich als ein absoluter Ignorant. Ein Unsympath, der mir im Laufe des Buchs aber dennoch immer sympathischer wurde. Walter kann nicht aus seiner Haut, ist unglaublich unbeholfen und überspielt das mit Selbstbewusstsein, Sturheit und Strenge. Aber die Situation zwingt ihn, sich anzupassen, sich weiter zu entwickeln, Dinge zu tun, die er eigentlich nicht tun will, wie Kochen. Er wertet seine Frau Barbara permanent ab, kritisiert sie als „unscheinbar“ und nicht „robust“, doch es wird immer klarer, wie sehr er sie wirklich braucht und schätzt. Das erstaunt ihn selbst: „Barbara war perfekt, dachte er überrascht.“
Barbara, die wenig aktiv ins aktuelle Geschehen eingreift, ist eine warmherzige, geduldige, mitfühlende, sensible und tolerante Figur. Eine Sympathieträgerin, die im Leben viel geleistet hat und bei anderen sehr beliebt ist.
Das Verhältnis von Barbara und Walter wird klar und nachvollziehbar dargestellt. Wie die „alltägliche Zweck-Beziehung“ der beiden wirklich aussieht, überrascht Walter selbst am allermeisten. Die Autorin hat sich sehr gründlich mit ihren Charakteren auseinandergesetzt und eine interessante, intensive und eindrucksvolle Figurenkonstellation konstruiert.

„Barbara stirbt nicht“ ist ein außergewöhnliches Buch, das nahegeht und zum Nachdenken zwingt. Eine Geschichte, die deprimiert, aber auch gleichzeitig zum Lachen bringt, ist es doch urkomisch und schräg, wie Walter beispielsweise versucht, Kaffee zu kochen. Angesichts Walters Lebensuntüchtigkeit kann man als Leser nur fassungslos staunen und sich fragen, ob man lachen oder weinen soll. Alina Bronsky hat eine tragische Familiengeschichte verfasst und gleichzeitig eine besondere, bodenständige, fast „derbe“, aber tiefgründige Liebesgeschichte. Dass sich während Barbaras Krankheit etwas in Walter bewegt, dass er erkennt, was wirklich wichtig ist, wie er auf seine ganz eigene, unbeholfene Art versucht, Barbara glücklich zu machen, ist rührend. Und je mehr Walter betont, dass Barbara nicht stirbt, sondern gesund wird, desto deutlicher wird, dass er sich etwas vormacht. Manchmal weiß man eben leider erst, was man hat, wenn es zu spät ist. Ein absolut lesenswerter Roman mit unbequemer, streitbarer, herausfordernder Hauptfigur, der mich stark beeindruckt hat. Ein Roman, der Verständnis auch für solche Menschen aufbaut, die nicht den moralischen Ansprüchen der Mehrheit genügen. Vielleicht ist gerade aber das in unserer Gesellschaft besonders wichtig?

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